In der Exilgemeinde der Kubaner in den USA erheben sich nach vierzig Jahren Kriegsrhetorik nun auch pragmatische Stimmen
Miami im Süden der USA ist die zweitgrößte kubanische Stadt der Welt. Dort haben sich Generationen von Kubanern angesiedelt, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen aus Fidel Castros Reich geflohen sind. Unter ihnen geben rückwärts gewandte Exilführer immer noch den Ton an und üben großen Einfluss auf die Außenpolitik der USA aus. Doch ihre kompromisslose Linie ist mittlerweile auch unter Exil-Kubanern umstritten.
von Alfred Herzka
Der immense Friedhof Woodlawn Park Cemetery hat trotz der prominenten Toten aus Kuba seinen englischen Namen behalten. Doch die Gegend vor dem Haupteingang hat sich in den letzten 40 Jahren völlig verändert und heißt nun Little Havana. Der Name des Friedhofs stammt aus der Epoche der angelsächsischen Vorherrschaft und täuscht darüber hinweg, dass Miami heute die zweitgrößte kubanische Stadt der Welt ist. Fast zwei Drittel der über 1,5 Millionen Kubaner, die seit der Machtübernahme von Fidel Castro als Flüchtlinge in die USA geströmt sind, leben heute in Miami.
Sie dominieren je länger desto mehr die Stadt. Immer mehr Kandidaten und Sieger bei Bürgermeisterwahlen sind Kubaner, über 20.000 Firmen sind kubanisch, in den Chefetagen der wichtigsten Banken sitzen Kubaner, über ein Dutzend Fernseh- und Radiosender sind kubanisch; der Lebensstil, der Alltag, die Feste und die Sprache in Miami sind kubanisch. »Wie könnten die Amerikaner für Kuba eine Gefahr sein; wir haben sie sogar hier in Miami vertrieben«, soll der verstorbene Exil-Führer Jorge Màs Canosa auf geschlossenen Veranstaltungen aufgetrumpft haben.
Trotz spektakulärer Erfolgszahlen kommt aber in Little Havana keine Siegesstimmung auf: Für die meisten exiliados ist sowohl Amerika als auch Miami lediglich eine Zwischenstation. »Vor 1959 dachten wir in Havana nie, dass die USA besser seien; ganz im Gegenteil, wir waren überzeugt, dass Kuba besser sei. Heute habe ich den USA zwar sehr viel zu verdanken, jedoch fühle ich mich auch nach mehr als 40 Jahren aus einem einfachen Grund nicht wohl hier: Ich würde lieber in Kuba leben«, schildert Luis Botifoll, der Präsident einer kubanischen Großbank in den USA, das Lebensgefühl der ersten Generation im Exil.
Der Neujahrs-Trinkspruch »Nächstes Jahr in Havana!« ist Wunschtraum und politisches Programm zugleich. Die erste Exilgeneration lebt in ihrem Cuba de Ayer, Kuba von gestern. Dieser imaginäre Garten Eden sowie der Traum von der Wiederkehr nach Castros Sturz sind sinnstiftend: Sie helfen über die Tristesse des »US-Way of Life« und den rauen Alltag in Miami hinweg.
Die einstige 8th Street Southwest der angelsächsischen Stadtgründer heißt nun Calle Ocho (Straße Nummer acht); sie bildet das Zentrum von Little Havana und des exilkubanischen Universums. Allerorts wird das verlorene Paradies in Erinnerung gerufen, das vor Fidel Castros Machtergreifung in Kuba geblüht haben soll. »Schauen Sie sich die Vergangenheit an; Sie finden bei uns die berühmtesten Aufnahmen von Cuba de Ayer«, wirbt der Inhaber einer Fotogalerie. Vor dem Kaufhaus mit Reliquien steht die Heilige Barbara aus Gips am Straßenrand und scheint die Ohren zu spitzen. In den Lautsprechern hinter den offenen Türen des Café Nostalgia ertönen Boleros aus alten Zeiten. Der lange verstorbene Superstar Beny Moré singt das legendäre Lied »Hoy como ayer«, Heute wie gestern, das dem Club im selben Gebäude den Namen gegeben hat.
Die etwa zehn Kilometer lange Straße Calle Ocho ist die zentrale Bühne der kubanischen Exilgemeinde in Miami. Die Amtseinsetzung des konservativen Republikaners Georg W. Bush junior als US-Präsident hat alte Hoffnungen aus der militant-antikommunistischen Reagan-Ära geweckt. »La lucha, der Kampf geht weiter! Wir werden nach Havana zurückkehren«, skandieren bejahrte Exilkubaner in der Calle Ocho immer wieder.
Der Name Havana wirkt in Miami genauso elektrisierend wie der Name Miami in Havana. Projektionen und Emotionen an beiden Orten trüben das Wahrnehmungsvermögen. Einerseits kennen die meisten exiliados die Verhältnisse in Kuba schlecht, andererseits ist das US-Bild der meisten Inselbewohner entweder nur Schwarz oder nur Rosarot gefärbt.
Der Massenexodus aus Kuba nach 1959 hat zwei völlig neue Städte entstehen lassen. Die eine ist das real existierende Miami, das von den meisten Exilkubanern nur als Provisorium oder Wartesaal akzeptiert wird. Die andere Stadt ist Havana, die als Traum und Mythos in immer größere Entfernung entrückt ist. Dadurch wird Miami zugleich zur Stadt der Zukunft und der Vergangenheit: Ihre kubanische Bevölkerungsmehrheit richtet sich vorübergehend ein und wartet wie gebannt auf den Tag, an dem sie definitiv in ihre Heimat zurückkehren kann.
Wie Havana ist auch Miami ein Mythos, der kubanische Tüchtigkeit und Intelligenz verherrlicht. Kaum ein exiliado unterlässt es, seinem Besucher alle Attraktionen Miamis stolz zu zeigen. Die Besichtigung der Wolkenkratzer und der Einkaufszentren endet in der Regel mit der leidenschaftlichen Erklärung: »All das hier haben wir Kubaner erarbeitet, und Havana könnte heute genauso weit sein.«
Diese Erfolgsgeschichte findet viele Bewunderer, aber auch eine Menge Kritiker. Neben Anglo-Amerikanern mit ihrem Hang zum Ethnozentrismus zweifeln sogar viele Hispanics an der Unbescholtenheit so mancher Wirtschaftsbosse und an der Sauberkeit gewisser Geschäftspraktiken in Little Havana. Dem 1997 verstorbenen, selbsternannten Exil-Führer Màs Canosa wurde nicht nur Steuerbetrug nachgesagt. Auch seine oft kolportierte Darstellung, wonach er dank seiner Cleverness im Telefonkabelgeschäft vom Tellerwäscher zum Multimillionär aufgestiegen sei, stößt vielerorts auf Skepsis. Häufig wird von schmutzigem Geld aus kolumbianischen Kokaingeschäften gemunkelt, das zum richtigen Zeitpunkt in Miami gewaschen wurde und einen Boom ausgelöst habe. Überdies wollen die Klagen über die kubanische Mafia nicht verstummen, die alle lukrativen Aufträge in Miami und Umgebung kontrolliere.
Zu den unbewiesenen und kaum nachzuweisenden Behauptungen kommen subjektive Empfindungen hinzu, die sogar unter Lateinamerikanern in Miami größtenteils ablehnend sind. »Ehrlich gesagt, ich meide sie«, beschreibt ein peruanischer Taxifahrer sein Verhältnis zu den Exilkubanern. »Ich verstehe sie nicht; sie kämpfen für die Blockade gegen ihre Heimat und lassen ihre eigene Landsleute hungern«, begründet der Mann aus Lima seine Abneigung.
»Die Kubaner hier sind selbstgerecht und fanatisch«, beschwert sich eine nicaraguanische Kellnerin am Strand von Miami. »Sie behandeln alle anderen Latinos als hergelaufene Habenichtse und halten sich selbst für die einzige Gruppe, die aus ehrbaren politischen Gründen in den USA ist.« Die junge Frau stimmt in ein Lamento ein, das in der zentralamerikanischen Exilgemeinde ständig zu hören ist.
Nur wenige Exilkubaner sind bereit, ihre Erfolgsgeschichte in größere Zusammenhänge einzuordnen. Als Gegengewicht zur sowjetischen Unterstützung für Castros Kuba entwarf die US-Regierung Anfang der sechziger Jahre für »ihre« Kubaner ein spezielles Hilfsprogramm. Im Unterschied zu den »illegalen« Immigranten aus Lateinamerika wurden Kubaner als politische Flüchtlinge aufgenommen. Sie erhielten in den USA als Freiheitskämpfer oder Opfer der stalinistischen Diktatur Castros neben allen möglichen Vergünstigungen auch sehr viel Geld: Die Direkthilfe aus Washington an die kubanische Exilgemeinde betrug zwischen 1962 und 1976 rund 2,1 Milliarden US-Dollar. In derselben Zeitspanne hat die vom US-Präsidenten J. F. Kennedy gegründete »Allianz für den Fortschritt«, ein großes Entwicklungshilfeprogramm, in ganz Lateinamerika weniger Geld investiert.
Einer der wichtigsten Arbeitgeber in Little Havana war in den sechziger Jahren der US-Geheimdienst CIA (Central Intelligence Agency). Seine Planungs- und Kontrollzentrale befand sich an der Universität von Miami. Von dort aus leiteten etwa 350 geheime Abteilungsleiter die Konspiration gegen Castros Kuba. Jedem waren zwischen vier und zehn Hauptagenten unterstellt, die ihrerseits zwischen zehn und dreißig reguläre Agenten beschäftigten. Exilkubaner bildeten auf allen Stufen der Hierarchie die große Mehrheit. Insgesamt arbeiteten zwischen 12.000 und 120.000 reguläre Agenten, die vermutlich weitere Kontaktpersonen hatten, auf getarnten Booten, die nach CIA-Schätzungen »die drittgrößte Flotte in der westlichen Hemisphäre« bildete. Ferner unterhielt die CIA in Miami eine eigene Fluggesellschaft, ein eigenes Reisebüro, Hunderte von Immobilien und zahlreiche Boot- und Waffengeschäfte.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Miami sowohl die Stadt von morgen als auch die Stadt von gestern. Wie in Havana wird auch in Little Havana suggeriert, dass die Zeit stillstehe. »In Ehren für die Märtyrer der Brigade vom 17. April 1961«, ist auf einer Marmorplatte in der Calle Ocho zu lesen. Das Denkmal, das immer mit frischen Blumen geschmückt ist, verleiht der gesichtslosen Durchfahrtsstraße eine pathetische Note. Eine ewige Flamme und ein furchtloser Soldat aus Bronze sollen die Erinnerung an die 114 gefallenen Mitglieder der Invasionsbrigade lebendig halten, die in der Schweinebucht von Castros Truppen vernichtend geschlagen wurden.
Doch in der Nähe des Mahnmals schießen immer mehr Imbissbuden aus dem Boden. Die Banalität des Konsumalltags vermischt sich mit Brutalität: Das einst sauber-kleinbürgerliche Little Havana ist in den Teufelskreis von Drogen und Gewalt geraten. Nach den reichen Kubanern ziehen nun auch deren mittelständische Landsleute aus dem gefährlich gewordenen Viertel weg und werden von mittellosen Neuankömmlingen aus Zentralamerika abgelöst.
Beinahe alle älteren kubanischen Exilführer haben am Invasionsversuch in der Schweinebucht teilgenommen. Nach dem Fiasko schloss sich ein Teil der enttäuschten Veteranen illegalen paramilitärischen Gruppen an, ein anderer Teil fand bei der CIA Arbeit. Die Methoden des Befreiungskampfes blieben lange »karibisch«; zu ihnen gehörten Terrorakte in Kuba, Attentatsversuche gegen Castro, Propagandaschlachten in Hetzsendern und Bombenanschläge auf »Verräter« in Miami.
Bis heute ungeklärt sind die Verbindungen von etwa 20 kubanischen Exil-Gruppen zu den Schlüsselfiguren der Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy, der seit seiner zögernden Haltung bei der Schweinebucht-Invasion in »Little Havana« besonders verhasst war. Das 1976 verübte Attentat auf ein kubanisches Passagierflugzeug über Barbados, bei dem 73 Menschen starben, konnte hingegen nahezu restlos geklärt werden: Die Täter kamen aus dem Umkreis der ehemaligen Interventionsbrigade.
Anfang der achtziger Jahre begannen einige der einflussreichsten Geschäftsleute der kubanischen Exilgemeinde, ihre Aktionen gegen Castro zu »amerikanisieren« und auf Anraten der Regierung Reagan eine Kuba-Lobby in Washington zu bilden. Die 1981 gegründete Cuban American National Foundation (CANF) avancierte auf Anhieb zu einer der mächtigsten politischen Aktionsgruppen in den USA. Die Stiftung gehört unter der Bezeichnung Fundación zu den Schimpfwörtern in Havana und symbolisiert die geballte Macht der Exilanten.
US-amerikanische Präsidentschaftskandidaten wie Präsidenten geben sich seit 1981 die größte Mühe, mit der CANF auf gutem Fuß zu stehen. Präsident Reagan entschied sich sogar gegen die Einwände seines Außenministers George P. Shultz für ein wichtiges CANF-Projekt: Radio Marti strahlt auf Wunsch der Stiftung seit 1985 mit Steuergeldern finanzierte Propaganda im Kurz- und Mittelwellenbereich nach Kuba aus. Der Kongress in Washington verzichtet in der Regel auf Debatten, die zu Konflikten mit der CANF führen könnten. Demokraten und Republikaner sind gleichermaßen um das Wohlwollen der Fundación bemüht, da ihre etwa 50.000 Mitglieder enorm einflussreich und finanzstark sind. Mehr als hundert Direktoren der CANF sollen pro Kopf 10.000 Dollar als Jahresbeitrag zahlen.
Màs Canosa, der 1939 geborene Sohn eines Tierarztes der kubanischen Armee und Multimillionär, übenahm nach internen Kämpfen Mitte der achtziger Jahre die Leitung der CANF. Er wurde von zurückgetretenen Mitgründern mit dem Diktator in Havana verglichen und als genauso paternalistisch und autoritär kritisiert. Bis zu seinem Tod im Jahre 1997 träumte Màs Canosa von dem großen Tag nach Castros Vertreibung, an dem er als Sieger und dessen Nachfolger in Havana einziehen würde.
Das Establishment der kubanischen Exilgemeinde trifft sich seit Jahrzehnten im Restaurant Versailles in der Calle Ocho. Gegenüber der Spiegelwand mit Königskrone hängt eine Aufnahme aus vorrevolutionärer Zeit, die Havana und die Küstenstraße Malecon mit glänzenden Limousinen zeigt. Nachmittags gehört das Speiselokal aristokratischen Großmüttern, die abends von lauten Männern abgelöst werden.
Auf mehreren Tischen liegen kostenlose Presseerzeugnisse aus. »Wegen versöhnlicher Haltung gegenüber der castristischen Tyrannei: Kardinal von Havana verursacht Skandal«, verkündet die »Neue Heimat« auf der Frontseite. Auf der nächsten Seite wird der neue US-Präsident aufgefordert, die Kuba-Politik zu ändern: »Die US-Navy sollte nicht die kubanischen Bootsflüchtlinge verhaften, sondern die Küsten von Kuba blockieren, um Castro ein für allemal zu strangulieren.« Drei andere Gratispublikationen geben der »Neuen Heimat« Schützenhilfe gegen die »Verräter«, die das US-Embargo als kontraproduktiv ablehnen und einen Dialog mit Castro befürworten.
Zu den wichtigsten Waffen der Wortführer der moralischen Mehrheit im Exil gehören Mittelwellensender, die auch in Kuba empfangen werden können. Radio Voz, der Sender der Parteigänger von Màs-Canosa, Radio La Cubanisima, Radio Progreso, Radio Fe und noch ein halbes Dutzend andere Rundfunkstationen mit Kampfauftrag versuchen sich gegenseitig mit ihrer martialischen Rhetorik zu übertrumpfen.
»Radio Mambi der Große« trägt den Namen des kubanischen Bauernsoldaten im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien. Der Chef dieser Rundfunkstation, Armando Perez Roura, ist Mitglied aller bedeutenden Kampforganisationen der Exilkubaner. Jeden Morgen um 6 Uhr erscheinen zwei aufgeregte Nachrichtensprecher im Studio. Sie geben über drei Stunden mit hysterischer Stimme und von aufwühlender Musik begleitet die neuesten Schandtaten des Tyrannen in Havana bekannt. »Wir müssen keine diplomatischen Rücksichten nehmen wie unsere Kollegen beim Radio Marti, die der US-Regierung unterstellt sind«, erläutert ein freundlicher Mambi-Sendeleiter die redaktionellen Richtlinien.
Zu den Kampfmitteln der unversöhnlichen Exilkubaner gehören neben langen Zeitungs- und Radiokommentaren auch explosive Kurzformeln. »Soy amigo de FIDEL CASTRO«, »Ich bin mit Fidel Castro befreundet«, stand auf den Streifen, die Unbekannte Anfang der neunziger Jahre überall in Little Havana auf die Verkaufsautomaten der Tageszeitung Miami Herald geklebt hatten. Die nüchterne Kuba-Berichterstattung im liberalen Blatt war der CANF immer schon ein Dorn im Auge gewesen. Nachdem die Zeitung 1991 die weitere Verschärfung des US-Embargos gegen Kuba kritisiert und über eine Strafuntersuchung wegen Weißwaschung von Drogengeldern in der Bank eines führenden CANF-Mitglieds berichtet hatte, begann die Offensive der Leute um Màs Canosa. Die kostspielige Hetzkampagne stand unter dem Motto »Ich glaube dem Herald nicht« und war mit der Forderung verbunden, missliebige Redakteure zu entlassen. Die Affäre erregte in den USA großes Aufsehen. Die Menschenrechtsorganisation Americas Watch konstatierte in ihrem Jahresbericht 1992, dass die militanten Führer der CANF und des Exils die Meinungs- und Pressefreiheit in Miami durch die »Schaffung von einem repressiven Klima« beeinträchtigten.
Zwar dominieren immer noch finanzkräftige Scharfmacher die Medien in Little Havana. Die Exilgemeinde bildet jedoch keine monolithische Einheit mehr: Die über 125.000 sogenannten Mariel-Flüchtlinge, die Fidel Castro 1980 ziehen ließ, und die etwa 70.000 Balseros (Floß-Flüchtlinge) in den neunziger Jahren haben die soziale Zusammensetzung und die politischen Ambitionen der Exilgemeinde verändert. Seit 1960 ist zudem eine zweite Generation von US-Kubanern herangewachsen, die entscheidend zur Veränderung der politischen Kultur in Little Havana beiträgt. Bomben gegen »Vaterlandsverräter« und »eingeschleuste Kommunisten« gehören der Vergangenheit an.
Die Kluft zwischen den verschiedenen Exil-Gruppen wächst. Viele Flüchtlinge der ersten Jahre sind nach mehr als 40 Jahren in den USA eher Amerikaner als Kubaner. Ein bedeutender Teil von ihnen will kubanischen Boden erst wieder betreten, wenn Fidel Castro weg ist. Die Mehrheit der Marielitos und Balseros hingegen kümmert sich weniger um Politik; sie sind vor allem aus wirtschaftlichen Gründen in den USA und wollen Kuba möglichst bald und oft besuchen.
Eine wachsende Zahl von Exil-Kubanern unterstützt ihre Familienangehörigen auf der krisenerschütterten Karibikinsel mit Geld. Die remesa genannten Überweisungen sind für einen bedeutenden Teil der kubanischen Bevölkerung unerlässliche Überlebenshilfe. Das US-Embargo und die von der CANF geforderte Verschärfung der US-Sanktionen haben in Miami an Popularität verloren. Die Kritik an den intransigenten Exilführern wächst. »Die Fundación hat sich nach dem Tode von Màs Canosa nicht verändert. Sie ist nach wie vor eine rücksichtslose Machtgruppe«, resümiert ein junger Schriftsteller aus Santiago de Cuba, der seit 1994 in Miami lebt.
Nach fast 40 Jahren Kriegsrhetorik ist in Miami mehr Pragmatismus gefragt. Zwei bedeutende Exil-Organisationen fordern zum Umdenken auf und setzen sich für Gespräche mit der Regierung in Havana ein. Beide Gruppen werden von Männern geführt, die zu den Kämpfern der ersten Stunde gehören. Alfredo Duran, Präsident von Comité Cubano Por La Democracia, nahm 1961 am gescheiterten Invasionsversuch in der Schweinebucht teil. Eloy Gutiérrez Menoyo, der Leiter der Organisation Cambio Cubano, versuchte 1965 als Guerillero in Kuba seinen einstigen Kampfgefährten Fidel Castro zu stürzen und saß als Terrorist rund 22 Jahre im Gefängnis. Heute ist Menoyo als konzilianter Exilpolitiker bekannt, der sich über Tabus hinwegsetzt. Er reist immer wieder nach Kuba und versucht Fidel Castro davon zu überzeugen, dass die Legalisierung von demokratischen Oppositionsparteien unausweichlich sei.
Der Name Menoyo löst bei radikalen Castro-Gegnern in Miami nervöse Zuckungen aus. Sie, die Falken, sind vom Aussterben bedroht; die unversöhnlichen Alten werden von pragmatischeren Jungen herausgefordert, die sich selbstironisch Yucas – Young Urban Cuban-Americans – nennen. »Viele von uns Yucas rebellierten zuerst gegen die Kuba-Besessenheit der Eltern, und erst danach haben wir uns der Karibikinsel zugewandt«, erklärt Ricardo, der vor 28 Jahren in Miami geborene Sohn eines Chirurgen aus Havana. »Nach vielen Reisen in Lateinamerika und Europa wurde mir allmählich klar, dass Kuba der Bezugspunkt meiner Identitätssuche und Selbstverwirklichung ist«, sagt Ricardo in kubanisch gefärbtem Spanisch.
Glückliche Zufälle haben ihm geholfen, den Teufelskreis von Wut und Nostalgie zu durchbrechen und eine neue Perspektive zu finden. Ricardo verbringt seine Freizeit damit, aus Kuba herausgeschmuggelte Manuskripte regimekritischer Autoren zu redigieren und als Untergrund-Publikation regelmäßig zu drucken. »Wir im Exil können bei der Entstehung einer Zivilgesellschaft in Kuba Geburtshilfe leisten und dazu beitragen, dass die Menschen dort ihren eigenen Weg finden«, sagt Ricardo mit leuchtenden Augen. Doch als Rückeroberer sieht er sich nicht. »Nach Castros Ende werde ich wahrscheinlich oft nach Kuba reisen. Aber leben werde ich weiterhin in den USA – so wie etwa drei Viertel der Exilkubaner.«
Eine kürzlich erschienene Anthologie mit dem englischen Titel Moon over Miami bringt wichtige Trends zum Ausdruck, die Ricardo zu bestätigen scheinen. Das Buch vereinigt exilkubanische und lateinamerikanische Autoren, die in den USA geboren und unter 40 Jahre alt sind. Die meisten von ihnen sprechen zwar gut Spanisch, jedoch denken, schreiben und lesen sie auf Englisch. »Sogar hier in Little Havana ist Spanisch für unsere Söhne und Enkelkinder nur noch die zweite Sprache – auch wenn sie von den Eltern zu Hause nichts anders hören«, räumt der prominente exilkubanische Verleger Juan Manuel Salvat ein.
Die Buchmesse im letzten Dezember mit dem programmatischen Titel Miami Book Fair International gab Anlass zu Hoffnung. Kunstschaffende aus Nord- und Südamerika dachten über Gegenwart und Zukunft der Region nach. Eine neue Generation von kubanischen Künstlern, deren geistige Heimat sich im Niemandsland zwischen Havana und Miami befindet, meldete sich zu Wort.
»Die Pro- und Anti-Castro-Hysterie – die gefährliche Krankheit Castritis – richtet auf beiden Seiten der Straße von Florida unermesslichen Schaden an«, warnte auf einem Flugblatt der junge kubanische Maler Rafael Lopez Ramos die Betrachter seiner surrealistischen Bilder. Lopez arbeitet zwar hauptsächlich in Kanada, will aber Kuba keineswegs den Rücken kehren. Zahlreiche andere Künstler, die auf Kuba ausharren und im Ausland publizieren, brechen die Fronten auf. Dadurch entstehen kulturelle Freiräume, die weiter wachsen. Die Selbstbelagerung in Havana und Miami wird immer schwieriger.
aus: der überblick 02/2001, Seite 47
AUTOR(EN):
Alfred Herzka:
Alfred Herzka berichtet seit 1988 aus Lateinamerika unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und weitere Medien in Deutschland sowie Österreich. Er ist Historiker und hat in Zürich, Wien und Havana studiert.