Die Feindschaft nie überwunden
Wie wichtig Trauma-Bearbeitung und Konfliktnachsorge noch lange nach einem Bürgerkrieg sind, zeigt das Beispiel der Initiative SINANI ("Wir für alle") in Südafrika. Die Gruppe, die unter anderem von "Brot für die Welt" unterstützt wird, wirkt in der Provinz KwaZulu-Natal der Gewalt entgegen.
von Bernd Ludermann
Der Bürgerkrieg in Südafrika ist seit fast zehn Jahren vorbei. Doch der Alltag ist längst nicht friedlich. Besonders in KwaZulu-Natal bestehen die politischen Fronten fort, berichtet Zandile Nhlengetwa, die Leiterin von SINANI: In vielen Siedlungen leben Anhänger des African National Congress (ANC), der größten Partei Südafrikas, und Gefolgsleute der Inkatha Freedom Party (IFP), die vorwiegend unter der Volksgruppe der Zulu Anhänger findet, räumlich getrennt. Beide Parteien hatten sich bis zu den ersten freien Wahlen 1994 blutige Kämpfe geliefert, wobei Vertreter des Apartheid-Regimes die IFP unterstützten.
Das Erbe dieses Bürgerkriegs ist bis heute kriminelle und alltägliche Gewalt. Noch immer, sagt Nhlengetwa, tragen bei Umbumbulu an der Südküste KwaZulu-Natals verfeindete Klane Fehden aus. Noch immer bekämpfen sich Verbände von Großtaxi-Fahrern, die um lukrative Routen konkurrieren. Noch immer bekriegen sich Jugendbanden aus verschiedenen Vierteln. Im Vorfeld der für April geplanten Parlamentswahlen in Südafrika könnte es auch erneut zu politischen Kämpfen kommen, fürchtet sie. Tatsächlich wurden jüngst, Ende Januar, in KwaZulu-Natal Wahlkampf-Veranstaltungen gewaltsam gestört, und über ein Dutzend Menschen starben bei Massakern, von denen nicht klar ist, ob sie politisch motiviert sind.
In KwaZulu-Natal hat der politische Kampf stärker als im Rest Südafrikas die Familien zerrissen; der Gegensatz zwischen Alt und Jung in der sehr patriarchalischen Zulu-Gesellschaft wurde zur politischen Front, erklärt Nhlengetwa. Ihr Vater zum Beispiel arbeitete für die weiße Verwaltung, während ihr Bruder im Untergrund für den ANC tätig war. "Wenn mein Vater Gelegenheit dazu gehabt hätte, hätte er meinen Bruder verraten", sagt Nhlengetwa.
SINANI wurde 1994 von Psychologinnen, Medizinern und Sozialarbeitern gegründet mit dem Ziel, Menschen aller Seiten, Opfern wie Tätern, bei der Bewältigung ihrer schrecklichen Erfahrungen zu helfen. "Keine Person ist an sich gewalttätig", erklärt Nhlengweta, die ständig mit Menschen zu tun hat, die Gewalt begangen haben. "Man muss jeden respektieren und als menschliches Wesen behandeln. Dann kann man die Kultur der Gewalt durch eine Kultur des Sprechens ersetzen."
Der Ansatz ist aus einem Forschungsprojekt mit früheren Kämpfern des ANC (comrades) entstanden, erzählt Nhlengetwa, die von Anfang an dabei war. Die comrades beurteilten zunächst die Forschungsgruppe danach, wer ein Maschinengewehr bedienen konnte, und hatten kein Interesse an psychologischen Gesprächen; sie wollten eine Arbeitsstelle. Da sie außer Kämpfen nichts gelernt hatten, verschaffte SINANI fünfzig von ihnen Plätze in einem Berufsbildungszentrum. Doch die comrades behielten ihre militärischen Sitten bei und hörten zum Beispiel nicht auf die Ausbilder, sondern auf ihren Kommandanten. "Die sind verrückt", hieß es aus dem Zentrum, und SINANI musste eingreifen.
Daraufhin holte die Organisation zum ersten Mal je 15 führende comrades sowie Kämpfer der Gegenseite, der IFP, zu einem Workshop zusammen. Daran erinnert sich Nhlengetwa noch genau: "Wir mussten einen ganzen Tag verhandeln, bis sie zustimmten, die Waffen bis zum Ende des Workshops einzuschließen. Aus Angst voreinander schliefen sie dann nicht, sondern saßen die ganze Nacht um ein Lagerfeuer." Und da entdeckten sie, dass sie während der Kämpfe ähnliche Erfahrungen gemacht hatten - sie fanden Gemeinsamkeiten. Schließlich sprachen die jungen Leute über Schuld, über die Taten, die ihnen nachts den Schlaf raubten. "Das hatte eine therapeutische Wirkung", sagt Nhlengetwa.
Und es führte zu einer Tragödie: Je einer vom ANC und von der IFP, die beide als Kriegsfürsten verschrien waren, beschlossen, gemeinsam für Frieden zu sorgen. Sie trafen sich mit je zwei Anhängern in einem Schnellrestaurant. Dort wurden sie gesehen, für Verräter gehalten, und noch im Restaurant wurden alle sechs aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen.
Für die Arbeit mit mehreren Parteien hat sich SINANI strenge Regeln gegeben: "Wir behandeln alle Seiten sorgfältig gleich. Zum Beispiel bringen wir genau die gleichen Kekse als Geschenk mit wie zur Gegenseite", erklärt Nhlengetwa. Von den Mitarbeitenden darf niemand politisch tätig sein. "Und wir achten darauf, dass wir alles offen tun. Wenn wir junge Leute zu einem Workshop einladen, informieren wir immer die Führung beider Seiten." Das ist oft leichter gesagt als getan, denn viele Hierarchien sind informell; es kann ein halbes Jahr dauern, herauszufinden, wer an einem Ort tatsächlich das Kommando hat. "Für die Organisationen, die uns finanziell unterstützen, sieht das dann so aus, als ob wir untätig wären", sagt Nhlengetwa.
Was bringt Traumatisierte und frühere Kämpfer dazu, Hilfe von SINANI anzunehmen? Entscheidend ist, dass sie respektiert werden. Die Workshops schaffen einen geschützten Raum: Alles, was gesagt wird, wird streng vertraulich behandelt, nur Sach- und Verständnisfragen sind erlaubt - keine Fragen, die die Sicht des Erzählenden in Zweifel ziehen. Am Anfang erzählen alle in der großen Gruppe, was sie möchten. Später konzentrieren sie sich unter professioneller Anleitung in zufällig zusammengesetzten Untergruppen auf das wichtigste Erlebnis, das ihr Leben belastet. Da hat Nhlengetwa auch alte Kämpfer oder Kriminelle zusammenbrechen sehen. "Auch wenn Du zahlreiche Morde begangen hast - einer verfolgt Dich, mit einem wirst Du nicht fertig", sagt sie.
Das kann für die Mitarbeitenden von SINANI sehr belastend sein. Schockierend war zum Beispiel eine Kleingruppe, in der ein Mörder dem Sohn seines Opfers begegnete. Als der Täter erzählte, was er getan hatte, stellte ein anderer junger Mann sehr genaue Fragen nach dem Hergang und sagte dann plötzlich: "So ist mein Vater umgebracht worden." Er hatte auf der Toilette auf dem Hof gesessen und die Täter ins Haus gehen sehen. Der Anleiter schritt ein, trennte die Gruppe und brachte Täter und Opfer später noch einmal zusammen. Was sie sich zu sagen hatten, hat Nhlengetwa nicht erfahren.
Seit 2001 arbeitet SINANI auch mit Kriegsfürsten aus dem Gebiet bei Umbumbulu. Frauen- und Jugendgruppen aus der Region hatten klargemacht, dass die Feindschaft der Klane die normale Entwicklungsarbeit behindert. Deshalb wandte SINANI sich direkt an traditionelle Häuptlinge (Chiefs). Zum ersten Treffen kamen nur zwei mit ihren Kriegsfürsten aus Angst, sie würden verhaftet, erzählt Nhlengetwa. Diese Kriegsfürsten - sie bezeichnen sich selbst als Kommandeure einer traditionellen Armee - erklärten hinterher, ihre Chiefs hätten ihnen immer nur befohlen zu töten, niemals habe man ihnen Fragen gestellt. Persönliche Achtung hat auch hier das Eis gebrochen. Jetzt, sagt Nhlengetwa, trifft SINANI sich alle zwei Wochen mit neun Chiefs aus Umbumbulu und ihren "Kommandeuren".
Nhlengetwa weiß, dass manche Bewohner die Chiefs und deren Kriegsfürsten wegen ihrer Taten vor Gericht sehen wollen und sie nur aus Angst nicht anzeigen. Doch sie ist überzeugt, dass man ohne die Chiefs die Kämpfe nicht unter Kontrolle bekommt. Obwohl die traditionellen Machtstrukturen sehr patriarchalisch sind - nur ältere Männer haben dort etwas zu sagen -, möchte Nhlengetwa, dass sie in Umbumbulu gestärkt werden.
Sie lobt die Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika, betont aber, dass sie auf die Basis der Gesellschaft kaum einwirken konnte. Versöhnung habe nur an der Oberfläche stattgefunden. Das will SINANI mit einem Ansatz ändern, der westlich-individuelle Psychologie mit stärker kollektiv ausgerichteten, in der örtlichen Kultur verwurzelten Wegen zu seelischer Heilung verbindet. Neben den Workshops werden psycho-soziale Beratung von Einzelnen und Familien sowie die Betreuung von Gemeinden oder Kinder- und Jugendgruppen angeboten. Manchmal nutzt SINANI auch traditionelle und christliche Zeremonien. Die südafrikanische Gesellschaft, sagt Nhlengetwa, muss sich diesen schwierigen Prozessen stellen, um zum Frieden zu finden.
aus: der überblick 01/2004, Seite 151
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".