Straßenkinder in Metropolen
Trialog zum Thema Straßenkinder in Hamburg
von Detlev Brockes
Die rund 20köPfige Gruppe, die sich in den Räumen der Hamburger Bahnhofsmission versammelt hat, ist startbereit. Der Rundgang, der gleich beginnt, wird über hartes Pflaster führen. Da ist der offene Drogenhandel an der Rückseite des Hauptbahnhofs. Da ist der U-Bahn-Tunnel, der auf Dauer zugesperrt wurde, damit sich dort keine Junkies und Obdachlosen mehr aufhalten. Und da ist die klassische Musik in den unterirdischen Passagen, die ebenfalls den Zweck verfolgt, für eine saubere Atmosphäre zu sorgen - nur sanfter als ein Gitter oder eine Mauer.
Die Gruppe erreicht den Platz an der St. Georgskirche, immer noch in Sichtweite des Hauptbahnhofs. Ein mächtiger Zaun umgibt den Kirchhof, das Tor wird nachts verschlossen, damit die Kinder aus den umliegenden Häusern einen Spielplatz haben, der frei ist von Heroinspritzen und Drogenverstecken.
Der Rundgang führt vorbei an Drogen, Prostitution, Einsamkeit, Ausgrenzung, gerade auch von jungen Menschen. Aber auch vorbei an zahlreichen Institutionen, die ebenfalls in der Gegend um den Hauptbahnhof angesiedelt sind und Unterstützung bieten: die städtische Anlaufstelle KIDS für Jugendliche aus der Szene, das kirchliche Café Sperrgebiet für junge Prostituierte oder die Übernachtungsstätte Haus Jona.
Die Gruppe, die sich Anfang September im Stadtteil St. Georg umsah, war international besetzt - mit deutschen, nicaraguanischen und russischen Fachleuten aus der Sozialarbeit. Erstmals hatte das Diakonische Werk Hamburg zum Trialog geladen, einem zweiwöchigen Treffen zwischen Süd, Ost und West. Das Thema: Kinder und Jugendliche, die auf der Straße leben. Die Überschrift in Anlehnung an die Brot für die Welt-Kampagne: "Kinder haben Rechte".
Bilaterale Kontakte nach St. Petersburg und - über Brot für die Welt - nach Managua unterhält die Hamburger Diakonie schon lange. Das interkulturelle Dreiertreffen jedoch war neu. "Ein voller Erfolg", urteilt Edeltraud Engel, die im Diakonischen Werk die Abteilung Ökumenische Diakonie leitet: "Alle Beteiligten haben gesehen: wir können voneinander lernen." Natürlich sei der materielle Rahmen der Arbeit in Hamburg, Nicaragua und St. Petersburg völlig unterschiedlich; dennoch sei es gelungen, einander zuzuhören und eigene Konzepte in Frage zu stellen.
In den Trialog flossen die Erfahrungen aus einem Projekt in Managua, einem in St. Petersburg und mehreren aus Hamburg ein. Die nicaraguanische Delegation kam von "Instituto de Promoción Humana/Institut zur Förderung der Menschlichkeit" in Managua. INPRHU, eine Nichtregierungsorganisation, ist in mehreren Orten tätig; die Arbeit mit Straßenkindern in der Hauptstadt begann 1990. Das Team in Managua umfaßt rund 20 Mitglieder - vom Streetworker bis zur Lehrerin. Das Angebot: Im INPRHU-Haus sollen Kinder, die auf der Straße Drogen, Ausbeutung und sexuelle Gewalt durchlebt haben, wieder Fuß fassen; sie können dort essen und spielen, bekommen Unterricht, malen, basteln und tanzen.
In einem angeschlossenen Friseurgeschäft sammeln die ehemaligen Straßenkinder berufliche Erfahrungen. Das Haus ist eine Anlaufstelle für zehnjährige Jungen, die Klebstoff schnüffeln, oder für 14jährige Mädchen, die gerade die zweite Abtreibung hinter sich haben. Bei der Integration der Kinder und Jugendlichen werden die Familien, wo immer möglich, einbezogen.
Außerdem bildet INPRHU Straßensozialarbeiter aus, unterhält eine Schule in einem Armenviertel, setzt sich in Publikationen für Kinderrechte ein und betreibt Lobbyarbeit bei Regierung und Behörden. Die Organisation bekommt derzeit rund 130.000 Mark im Jahr von Brot für die Welt.
Die russischen Trialog-Gäste kamen vom Projekt "Ostrov" (Insel) in St. Petersburg. Es ist auf der Vasiljevskij-Insel angesiedelt, einem jener Stadtbezirke, in denen die soziale Lage am schlechtesten ist. Die "Ostrov"-Räume suchen Kinder und Jugendliche auf, die im wahrsten Sinne auf der Straße leben: in Bahnhöfen, Kellern oder unter Kanalbrücken, außerdem Kinder, die zwar noch einen Platz bei ihren Eltern haben, dort aber unter Armut und Gewalt leiden. Die Besucher sind zwischen 6 und 16 Jahren alt, am stärksten sind die Elf- bis Dreizehnjährigen vertreten. Pro Tag suchen mehr als 20 Kinder die Einrichtung auf, mehrere Hundert sind es pro Jahr.
Sie finden auf der "Insel" nicht nur "erste Hilfe" für den Alltag - Kleidung, Waschmöglichkeiten, medizinische Versorgung -, sondern auch Zuwendung durch Gespräche, Beratung, eine geschützte Atmosphäre. "Ostrov" arbeitet niedrigschwellig: Die Kinder werden nicht ausgefragt, die Hilfe ist nicht an Bedingungen geknüpft, das dreiköpfige Team sichert Vertraulichkeit zu. 40 Prozent der Besucher sind kaum oder gar nicht zur Schule gegangen, 90 Prozent haben Gewalt erfahren (bis hin zur Vergewaltigung durch die eigenen Angehörigen), und fast alle haben chronische Krankheiten."Ostrov" wird finanziell unterstützt vom Diakonischen Werk Hamburg und von der Kindernothilfe Duisburg.
Eines der Hamburger Projekte, die sich am Trialog beteiligten, war "Di Mi Do", ein Frühstückstreff für Kinder und Jugendliche am Hauptbahnhof; Träger ist die Bahnhofsmission. Das offene Treffen findet jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag statt (deshalb der Name "Di Mi Do"), jeweils von 11 bis 13 Uhr. Die Jugendlichen bereiten Frühstück zu, sie können erzählen und bekommen Tips und Informationen; Mitarbeiter/innen der Bahnhofsmission begleiten die Treffen.
"Di Mi Do" richtet sich an junge Menschen aus der Drogen- und Obdachlosen-Szene am Hauptbahnhof. Der Anteil der Jüngeren dort, so die Beobachtung der Bahnhofsmission, hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Die Frühstücksrunde ist klein: Im Schnitt kommen vier Jugendliche, Jungen ebenso wie Mädchen, im Alter bis zu 19 Jahren. Empfohlen wird "Di Mi Do" fast ausschließlich von Mund zu Mund; daß die Besucher keine Verpflichtungen eingehen müssen, erleichtert Neuen die Teilnahme. "Wir können die Kinder und Jugendlichen beim Ausstieg aus der Hauptbahnhofsszene unterstützen", sagt der Leiter der Bahnhofsmission, Ulrich Hermannes.
Herzstück des Trialogs war nun ein zweitägiger Workshop, bei dem es um "soziale Netze" ging. Dahinter stand das Bemühen, über soziale und kulturelle Unterschiede hinweg verbindende Themen und Kategorien zu finden. "Natürlich sind die Bedingungen für Kinder auf der Straße in Managua oder St. Petersburg und Hamburg jeweils andere", sagt der Psychologe und Sonderpädagoge Thomas Möbius, einer der Referenten beim Workshop. "Aber wenn es um Hilfsmöglichkeiten geht, sehe ich eine Gemeinsamkeit: und zwar die Ressource "Kontakt", aus der die Kinder schöpfen Menschen und Institutionen, denen sie vertrauen." Wenn ein solches Netz von Kontakten vorhanden sei, so Möbius, wirke es stabilisierend.
Über das Institut für soziale Praxis am "Rauhen Haus" in Hamburg ist der Sozialwissenschaftler derzeit an einem bundesdeutschen Pilotprojekt beteiligt. Ziel: Kinder und Jugendliche beim Aufbau ihres sozialen Netzes zu unterstützen - anstatt sie von einer Jugendhilfemaßnahme in die nächste weiterzureichen. Ein Modell, das übertragbar ist? Durchaus, meint Möbius: "Dieser Ansatz ist nicht auf westliche Industrieländer beschränkt." Er sei in den Niederlanden entwickelt worden, in Rußland und Rumänien werde er bereits angewandt.
Neben dem Workshop standen für die Trialog-Gruppe mehrere Projektbesuche auf dem Programm - von der Jugendsozialarbeit einer evangelischen Gemeinde bis zur städtischen Jugendwohnung für minderjährige Flüchtlinge. Und bei einem Fest in der Rathauspassage (selbst ein Beschäftigungsprojekt der Hamburger Diakonie) vergnügte sich die Gruppe ganz international mit Kinderspielen; getreu dem Wort von Erich Kästner: "Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch."
Daß es Veranstaltungen wie den Trialog noch viel zu selten gebe, betont Michael Frein von der Grundsatzabteilung der AG KED, der beim Trialog über Armut und Globalisierung sprach. Er bezeichnete das Treffen als "Mosaikstein" für eine "Globalisierung von unten", die sich - im Gegensatz zur Globalisierung nach neoliberalem Verständnis - an sozialer Gerechtigkeit orientiere. Frein lobte die Kommunikation der Beteiligten. "Sonst gibt es üblicherweise ein Gefälle: Die einen haben die Probleme, die anderen haben das Geld." Im Trialog jedoch arbeite man "gemeinsam an der Überwindung von Problemen, die alle im gleichen Maße angehen".
Detlev Brockes
Eine Dokumentation zum Trialog "Kinder haben Rechte" ist erhältlich beim Diakonischen Werk Hamburg, Königstraße 54, 22767 Hamburg, Fax: 040-306 20-340
aus: der überblick 04/1999, Seite 126