Abschied von den alten Kameraden
Einige der erfolgreichen Revolutionäre der letzten Jahrzehnte haben es schwer. Sie blicken meist auf einen Scherbenhaufen aus Willkürherrschaft und Wirtschaftsmisere zurück. Die Nachdenklicheren unter ihnen sprechen heute von verlorenen Jahren und machen sich an die mühselige (Wieder-)Aufbauarbeit, andere haben sich mit der gleichen Skrupellosigkeit aufs Geldscheffeln verlegt.
Renate Wilke-Launer
Man sei im Nachhinein doch ganz froh, dass die eigenen Vorstellungen sich nicht durchgesetzt hätten, war in den letzten Wochen im Hinblick auf die bewegten 68er Jahre gelegentlich zu hören. Wer so entspannt auf sich und seinen Platz in der Gesellschaft zurückblicken kann, hat Glück gehabt: In einem reichen und demokratischen Land ist es nicht besonders schwer, vom militanten Systemgegner zum loyalen Bürger zu werden. Von einer sicheren Position aus kann man sich gleichzeitig augenzwinkernd von den damaligen Irrtümern distanzieren und stolz auf die Veränderungen in der Gesellschaft verweisen.
Da haben es einige der erfolgreichen Revolutionäre der letzten Jahrzehnte schwerer. Sie blicken meist auf einen Scherbenhaufen aus Willkürherrschaft und Wirtschaftsmisere zurück. Die Nachdenklicheren unter ihnen sprechen heute von verlorenen Jahren und machen sich an die mühselige (Wieder-)Aufbauarbeit, andere haben sich mit der gleichen Skrupellosigkeit aufs Geldscheffeln verlegt. Die Bürger dieser Länder sehen ihre Hoffnungen enttäuscht, am Ende sind sie ärmer als zuvor und meist im reichen Norden ob all der Experimente noch höher verschuldet.
Nur wenige Revolutionäre stellen sich ihrer Verantwortung. Dazu gehört der Schriftsteller Sergio Ramírez, der sechs Jahre Vizepräsident Nicaraguas und später vier Jahre Fraktionsvorsitzender der FSLN im Parlament von Managua war. In seinem Buch "Adiós Muchachos!"* blickt er auf die sandinistische Herrschaft zurück. Er tut es kritisch, auch selbstkritisch, manchmal polemisch, aber ohne den Eifer des Konvertiten, der nun alles falsch findet, was er früher einmal befürwortet hat. Er habe sich bemüht, "zu einem gelassenen Urteil über die Beteiligten zu kommen", schreibt er im Vorwort.
Dass die Auseinandersetzungen um den Kurs der Partei mit viel Schärfe geführt und sein Ausstieg 1994 als Verrat betrachtet wurde, blitzt aber an mehreren Stellen des Buches auf, etwa wenn er schreibt, dass er und seine Familie vom verbleibenden Machtapparat wie Todfeinde behandelt wurden und seine Tochter María vom Radiosender Daniel Ortegas ohne Unterlass mit Dreck beworfen wurde.
Was eine Revolution an positiver Energie auslöst und was sie den Beteiligten abverlangt, erlebt Ramírez hautnah. Maria verlässt die Deutsche Schule in Managua, um in einem Armenviertel eine Abendschule aufzubauen - gegen den Willen ihrer Mutter, die nicht versteht, dass man auf eine zweisprachige Ausbildung verzichtet, um der Revolution zu dienen. Der Vater ist immer wieder in Versuchung, den Sohn zurückzuholen, der als Soldat gegen die Contra-Rebellen kämpft, er tut es nicht, obwohl andere Regierungsmitglieder ihre Söhne gar nicht erst in den Krieg ziehen ließen.
Auch im Ausland stießen die Sandinisten auf ungewöhnlich viel Sympathie und Unterstützung. Großzügig zeigten sich vor allem Mexiko und Kuba. Der mexikanische Präsident López Portillo reiste 1982 mit seinem ganzen Kabinett nach Managua und antwortete auf die Frage eines Ministers, welche Behandlung Nicaragua zugestanden werden solle: "Die eines mexikanischen Bundesstaates". Die Sandinisten waren dadurch eher geschmeichelt als beleidigt. Und Fidel Castro, selbst vom Ostblock alimentiert, ging sogar an seine strategischen Ölreserven, um den nicaraguanischen Genossen aus der Patsche zu helfen.
Die Unterstützung des Auslands - am Ende überlebenswichtig - wurde gerne angenommen, freundschaftliche Warnungen aber ebenso gern überhört. Olof Palme schrieb nach einem Besuch 1983 "Passt auf, ihr seid dabei, euch vom Volk zu entfernen. "Und Bruno Kreisky sagte Ramírez im gleichen Jahr: "So lange ihr eure moralischen Prinzipien einhaltet, könnt ihr sicher sein, dass ich auf eurer Seite bin."
Sogar die Ratschläge "aus dem Mundes des Orakels" Fidel Castro, doch einen anderen Sozialismus anzustreben als den Kubas, wurden nicht befolgt. "Viele wollten das kubanische Modell in allem übernehmen, selbst noch in den banalsten Dingen. Es handelte sich um blindes Vertrauen." Personen, die in Regierung, Armee, den Sicherheitskräften oder der Partei Verantwortung trugen, liebten es, "in den Konferenzen mit einem kubanischen Berater an der Seite aufzutauchen, die es für alles Mögliche gab. Sogar der kubanische Akzent, die kubanische Redeweise wurde übernommen, als ginge es darum, eine neue Sprache zu lernen."
Warum brachte die Revolution weder die ersehnte Gerechtigkeit für die Unterdrückten noch Entwicklung? Warum wurden die Sandinisten 1990 - zu ihrer großen Überraschung übrigens - einfach abgewählt? Ramírez macht dafür ihre Selbstgerechtigkeit, ihre autoritären Strukturen und ihre ideologische Treue zu ziemlich wirklichkeitsfremden Konzepten verantwortlich. "Man siegt nicht mit der Waffe in der Hand, um die Macht nur für kurze Zeit zu erringen, wenn es darum geht, die Geschichte hinweg zu fegen", so die Grundhaltung.
Unter dem "Syndrom der sofortigen Veränderung" wurde "der Arbeitstag auf dem Lande um die Hälfte gekürzt und der Mindestlohn verdoppelt ... wir erhöhten die Renten, eröffneten Hunderte von Kindergärten ... die Alphabetisierungskampagne wurde in Angriff genommen, und gleich am ersten Tag setzte die Agrarreform ein." Doch statt Besitztitel für die Campesinos gab es "staatliche Produktionseinheiten". Man wollte so verhindern, dass sich eine neue Klasse ländlichen Kleinbürgertums entwickelt.
"Dies war ein Fehler, der Blut kosten sollte, denn indem die Revolution so das Heiligste ihrer Versprechen brach, schuf sie die erste ihrer großen Enttäuschungen ... Als wir, um der Contra die Basis zu entziehen, das Verfahren änderten und beschlossen, den Campesinos Landtitel zu gewähren, war die Maßnahme auch nicht ausreichend, denn einmal mehr überwogen die ideologischen Vorstellungen, und die Titel durften nicht vererbt noch verkauft werden."
Auch die nicaraguanische Revolution scheiterte daran, dass sie den Bauern mit aller Gewalt etwas überstülpen wollte: "Die Botschaft der Revolution, die mit ungenügender Überzeugungskraft, unter Drohungen oder in allzu bombastischen Reden vorgetragen wurde, verkündete Versprechungen, Maßregeln politischen Verhaltens und Organisationsformen, die mit dem Alltag der Campesinos nichts zu tun hatten; sie wollten eine Verbesserung ihres Lebens: Land, Schulen, Hospitäler und gute Preise für ihre Ernten, akzeptierten jedoch nicht die Zerstörung ihrer Gewohnheiten, ihrer Lebensweise und ihrer Überzeugungen."
Ähnlich nutzte man auch die "rächende Macht der Enteignung". In dem Maße, wie der öffentliche Sektor wüchse, wüchsen auch die Gewinne, die in Wohnungen, Schulen und Gesundheitszentren verwandelt werden konnten, so die reichlich naiven Überlegungen. Als dann der Krieg mit den Contras so eskalierte, dass er die Hälfte des Staatshaushaltes auffraß, wurde einfach Geld gedruckt. Am Ende des Jahrzehnts hatte Nicaragua die höchste Inflationsrate der Welt.
Hat also der Krieg die Wirtschaft ruiniert und die Sandinisten am Ende die Macht gekostet, wie vielfach angenommen? Ramírez meint, dass es auch ohne den Krieg zum wirtschaftlichen Kollaps gekommen wäre, es sei denn, "es hätte eine friedliche Entwicklung zu einer wirklich gemischten Wirtschaft gegeben, was seinerseits eine größere politische Öffnung erfordert hätte."
Zu einer solchen Öffnung aber war die Partei mit ihren leninistischen Organisationsstrukturen nicht bereit: Wer gemäßigt argumentierte, wer Schritt für Schritt handeln wollte, machte sich verdächtig. Warnungen wurden in den Wind geschlagen, etwa die der Tochter Violeta Chamorros, ihre Mutter, die direkt nach der Revolution Mitglied der Regierungsjunta war, nicht bloß als Dekorationsfigur zu betrachten. Niemand konnte sich damals vorstellen, dass Frau Chamorro die Sandinisten später in freien Wahlen besiegen würde.
Am Ende hat die FSLN vihre Wahlniederlage akzeptiert, nicht aber den Machtverlust. Mit der anschließenden ersten und zweiten Piñata, der Aneignung on Staatsbesitz in der Übergangszeit und der nachfolgenden Übertragung eines Viertels der privatisierten Staatsbetriebe an Sandinisten hat sie am Ende auch den moralischen Kredit verspielt, der sie einst stark gemacht hatte. Heute sind die Sandinisten in einem unappetitlichen Zweckbündnis mit dem gegenwärtigen Staatspräsidenten Alemán verbunden, das ihnen bestimmte Pfründe sichert und unliebsame Mitbewerber ausgrenzt.
Einiges von dem, was Sergio Ramírez über Aufstieg und Fall der Sandinisten geschrieben hat, trifft auch auf andere Befreiungsbewegungen der letzten Jahrzehnte zu: die ernsthafte Begeisterung der ersten Jahre, die Opferbereitschaft der Mitglieder und die Unterstützung, die sie in der Bevölkerung finden und die ihr am Ende zum Sieg verhelfen. Doch offenbar erzeugt die Überzeugung, für eine gute und gerechte Sache zu kämpfen, eine Haltung, die mit Demokratiebewusstsein und Rechenschaftslegung nicht allzu viel im Sinn hat. "Befreiung ohne Demokratie" hat Professor John Saul, langjähriger Beobachter des Südlichen Afrika, diesen Zustand genannt. Möglicherweise sind militärisch geführte Befreiungskämpfe kein guter Nährboden für eine demokratische Kultur (vgl. den Essay von Jenny Cargill, "der überblick" 1/93). Inzwischen lassen sich für diese These in Namibia (siehe Seite 81) viele Belege finden, und auch in Südafrika haben Regierung und Opposition Mühe, zu einem konstruktiven Miteinander zu finden.
Ehemalige Guerillakämpfer neigen dazu, die Einheit von Volk und Regierung immer schon als gegeben vorauszusetzen. Eritrea ist dafür ein weiteres Beispiel (siehe Seite 76). Wer abweichende Vorstellungen und Kritik als Illoyalität oder gar Verrat deutet, isoliert sich selbst und schadet am Ende dem öffentlichen Wohl. Ein in den USA lebender Eritreer, Professor Tekie Fessehatzion, hält der aus der EPLF hervorgegangenen Regierung vor, dass an Kontrolle, Sicherheit und Anweisungen gewöhnte Kämpfer im zivilen Administrationsalltag autoritäre Entscheidungen treffen. Regierungs- und Verwaltungspersonal müsse nach anderen Kriterien ausgesucht werden und handeln als dem der Verdienste um die Befreiung des Landes. Die Regierung habe kein Monopol für gute Ideen, man brauche vielmehr die besten professionellen Kräfte und ein offenes Klima.
Mit der Machtübernahme, das zeigt diese überfällige Diskussion, ist erst der erste Schritt gemacht. Der zweite ist möglicherweise noch schwieriger.
*Sergio Ramírez: Adiós Muchachos. Eine Erinnerung an die Sandinistische Revolution. Peter Hammer Verlag. Wuppertal 2001.