RENATE WILKE-LAUNER
Eingangs des 21. Jahrhunderts sind die Menschenrechte in der Defensive wie schon lange nicht mehr. "Wir können keine Kompromisse über unsere hart erkämpften Menschenrechte zulassen", warnte Sergio Viera de Mello, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, als er am 17. März die Jahrestagung der Human Rights Commission der Vereinten Nationen, der UN-Menschenrechtskommission, eröffnete. "Eine steigende Zahl von Staaten nimmt stillschweigend oder ausdrücklich an, dass Sicherheit und eine strenge Respektierung der bürgerlichen und politischen Freiheiten sich gegenseitig ausschließen."
Schlimmer noch: Auch in eigentlich gefestigten Rechtsstaaten wird nun vorsichtig darüber diskutiert, ob im Kampf gegen den Terrorismus nicht "ein bisschen Folter" erlaubt sein müsse. Was amerikanische Journalisten über die Behandlung von Gefangenen herausgefunden haben, die man Al Qaida zurechnet, ist höchst beunruhigend. Staaten müssen ihre Bürgerinnen und Bürger schützen, und das ist in diesen Tagen keine leichte Aufgabe. Aber auch im Namen von Prävention kann es keine Legitimation für Folter geben.
Manche Diktatoren spielen "Sicherheit" und "Stabilität" offen gegen die elementaren Menschenrechte aus. Sie verweigern zwar grundlegende bürgerliche und politische Rechte, nehmen aber für sich in Anspruch, die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte zu garantieren. Beide Gruppen von Rechten sind jeweils in Menschenrechtspakten niedergelegt worden. Der Streit um den Rang und das Verhältnis der beiden ist auch nach dem Zusammenbruch der meisten kommunistischen Regime noch längst nicht ausgestanden.
Davon zeugen zum Beispiel die Debatten in der UN-Menschenrechtskommission, die derzeit zum 59. Mal tagt. Zu ihren Aufgaben gehört es, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und zu benennen. Zum Vorsitzenden dieses Gremiums ist in diesem Jahr Libyen gewählt worden, ein Land, das sich selbst unter Hinweis auf "Sicherheit" und "Stabilität" eine gute Menschenrechtsbilanz bescheinigt. Tatsächlich ist sie seit 30 Jahren miserabel, wie der Blick in die Jahresberichte von Amnesty International zeigt. Zudem hat sich das Land - gestützt auf seinen Ölreichtum und das Sendungsbewusstsein seines Diktators - in die Angelegenheiten anderer Länder eingemischt und ist dabei auch vor Terroranschlägen nicht zurückgeschreckt. Den Instrumenten des Menschenrechtsschutzes, unter anderem Besuchen unabhängiger Untersuchungskommissionen, hat es sich bisher beharrlich verweigert.
Wie es in Genf zu dieser Wahl kommen konnte? Die Menschenrechtskommission (MRK) hat 53 Mitglieder, sie werden vom Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) jeweils für drei Jahre gewählt. Damit sind nicht alle Staaten vertreten, nach dem bei den Vereinten Nationen üblichen Proporz aber alle Staatengruppen. Das klingt gut, hat aber zur Folge, dass Länder mit am Tisch sitzen, welche die Menschenrechte missachten. Auch der Vorsitz rotiert zwischen den einzelnen Weltregionen. Dieses Jahr war Afrika dran, und das hat Libyen nominiert.
Mit dieser Entscheidung - man kann auch sagen, mit dieser Provokation - verstärkt sich eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahren schon angebahnt hat. Staaten, die die Menschenrechte nicht achten, nehmen am Tisch der Menschenrechtskommission Platz und verhalten sich keineswegs still, um nicht unangenehm aufzufallen. Vielmehr sind sie jüngst immer häufiger dazu übergegangen, sich gegenseitig vor kritischen Fragen oder Anklagen zu schützen. Die Volksrepublik China zum Beispiel hat es auf diese Weise erreicht, dass über die Menschenrechtssituation in ihrem Land gar nicht erst beraten wurde. Derartige Geschäfte auf Gegenseitigkeit beschädigen nicht nur die Glaubwürdigkeit der Kommission, sondern auch die der UN. Von den unveräußerlichen Grundrechten, die immer noch vielen Menschen verweigert werden, ganz zu schweigen.
Nachdem klar war, dass Libyen den Vorsitz übernehmen würde, verlangten die USA statt der bisher üblichen Wahl per Akklamation eine Abstimmung, eine Verfahrensänderung, die eingedenk mancher Provokationen der USA im Umgang mit den Vereinten Nationen wiederum die Gemüter erhitzte. So spiegelt das Ergebnis - 33 Ja-Stimmen, 3 Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen - wohl die gegenwärtige schlechte Gesprächslage unter den Nationen dieser Erde. Dass die Länder der Europäischen Union, darunter Deutschland, sich enthalten haben, begründen sie damit, das Arbeitsklima nicht weiter belasten zu wollen. Das ist - realpolitisch - ein ehrenwertes Anliegen, für die Menschenrechte aber ist eine Enthaltung kein gutes Signal.
Human Rights Watch und Amnesty International (AI) weisen einen klugen Weg aus dem Dilemma zwischen Repräsentativität und Glaubwürdigkeit. Sie haben Kriterien aufgestellt, nach denen die Mitglieder ausgewählt werden sollen. Sie sollen, unter anderem, den wesentlichen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte beigetreten sein und regelmäßig Bericht erstatten sowie UN-Berichterstatter ins Land lassen. Es sei schließlich ein Privileg, Mitglied der Menschenrechtskommission zu sein, so AI. In diesen so leicht zum Zynismus verführenden Zeiten erinnert diese Aussage an den feierlichen Ernst, mit dem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte einst formuliert und verabschiedet wurde.
Es bleibt die Frage, warum Afrika ausgerechnet Libyen benannt hat. Vordergründig ist das schnell erklärt, ist doch die Entscheidung auf der Gründungsversammlung der Afrikanischen Union (AU) im südafrikanischen Durban gefallen. Und die erfolgte - um ein bisschen zu untertreiben - mit tatkräftiger Unterstützung Libyens. Weil der südafrikanische Präsident Mbeki die großartigen Pläne des unberechenbaren Gaddhafi fast alle abgeschmettert hat, so heißt es aus Südafrika, musste diesem etwas angeboten werden, damit er sein Gesicht wahren konnte. Und das war eben der Vorsitz der Menschenrechtskommission.
Nun sind Kompensationsgeschäfte in der Politik allgemein üblich. Aber zu Lasten der Menschenrechte? Welches Signal wollte Afrika damit senden? Und was dürfen wir nach diesem Eröffnungszug noch erwarten? Anfang März beklagte die südafrikanische Außenministerin Dlamini-Zuma, dass afrikanische Staaten von der UN-Menschenrechtskommission bewusst an den Pranger gestellt würden. Soll das heißen, dass in Zukunft nicht nur die Plätze in der MRK nach einem Regionalproporz vergeben werden, sondern auch die Ur
teile dieser Logik folgen sollen? Dlamini-Zuma bestätigte zugleich, dass ihr Land als eines von 14 afrikanischen Mitgliedern in der Menschenrechtskommission bei der letzten Tagung einen Vorstoß der Europäischen Union zur Verurteilung Simbabwes vereitelt habe.
Im Streit um den Umgang mit Robert Mugabes Simbabwe sah es eine Zeit lang so aus, als würde sich die Beurteilung danach richten, welcher Hautfarbe man ist - eine höchst gefährliche Entwicklung. Doch seit das gerade demokratisch erneuerte Kenia aus dieser Front ausgeschert ist und auch Botswana eine andere Haltung signalisiert hat, zeichnet sich ab, dass die Verteidigung Simbabwes hauptsächlich von Regierungen ausgeht, die ihren Ursprung in bewaffneten Befreiungsbewegungen haben. Sie beklagen mit Recht, dass Länder wie Großbritannien und die USA, die heute Simbabwe vehement kritisieren und Sanktionen verhängen, lange Jahre die weißen Minderheitsregierungen im südlichen Afrika unterstützt haben, wenn nicht mit Worten, so doch mit Taten. Aber kann das ein Grund sein, die desaströsen Verhältnisse in Simbabwe und seinen Präsidenten, der das Land zügig in den Ruin treibt, immer wieder in Schutz zu nehmen?
Nigeria und Südafrika, beide Mitglied der Commonwealth-Troika zum Umgang mit Simbabwe, haben nun vorgeschlagen, die Sanktionen gegen das Land aufzuheben. Den Dritten im Bunde, Australiens Premier John Howard, haben sie nicht einmal konsultiert. Die Lage habe sich in vielerlei Hinsicht verbessert. Offenbar wissen die beiden Herren etwas über Simbabwe, was der Rest der Welt nicht weiß. Schon ein flüchtiger Blick in die simbabwische Presse zeigt, dass davon nicht die Rede sein kann. Der Oppositionsführer steht wegen Hochverrats vor Gericht, Richter werden verhaftet, Versammlungen aufgelöst, Oppositionelle terrorisiert, Lebensmittel mancherorts nur gegen ZANU-Parteiausweis vergeben. Die Not ist so groß, dass es, um nur ein Beispiel zu nennen, Simbabwer gibt, die sich gern von der südafrikanischen Grenzpolizei aufgreifen lassen, weil sie in deren Gewahrsam vor der Abschiebung wenigstens eine ordentliche Mahlzeit bekommen.
Wer den Begründungen für die südafrikanische Politik der "stillen Diplomatie" zuhört, fühlt sich an die großen Redeschlachten über Sanktionen gegen den Apartheidstaat erinnert. Nur dass das, was heute aus dem Mund der ehemaligen Befreiungsbewegung kommt, fast wortgleich mit dem ist, was einst die Freunde der weißen Südafrikaner gegen Sanktionen vorbrachten.
Südafrika zahlt für seine Simbabwepolitik einen hohen Preis: was die Glaubwürdigkeit seiner führenden Repräsentanten angeht, was das Vertrauen eines Teils seiner Bürger in die eigene Zukunft betrifft, in Hinblick auf dringend benötigte Investitionen aus dem Ausland und schließlich auch für die Bemühungen des Präsidenten um eine "Neue Partnerschaft mit Afrika" (NEPAD). Die NEPAD-Ankündigung, sich in Afrika gegenseitig kritisch über die Schulter zu schauen, der so genannte peer review mechanism, hatte große Hoffnungen geweckt, ist aber schon jetzt, kurz vor dem eigentlichen Beginn, beschädigt.
Wenn diese Politik weder von den rhetorisch gern bemühten Menschenrechten bestimmt wird noch von nüchterner Kalkulation der Interessen des Landes, was liegt ihr dann zugrunde? Das fragen sich - verzweifelt - auch viele Simbabwer: "Fast jeder Simbabwer, mit dem ich gesprochen habe - fast alle waren früher gegen Apartheid und für den ANC - sprach in einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Ärger, Frustration und Desillusionierung über Südafrikas offensichtliches Desinteresse an ihrer Not und unserer Versäumnis, gegen die Erosion grundlegender Menschenrechte Stellung zu beziehen." So hat der anglikanische Geistliche Michael Lapsley, einst Opfer eines Bombenanschlags des Apartheidregimes, die Gefühle in Simbabwe beschrieben. Doch Thabo Mbeki hat in seiner Rede zur Parlamentseröffnung in Kapstadt nur zwei Zeilen für Simbabwe übrig gehabt, sich dafür aber ausführlich mit dem Irak beschäftigt. Für die Menschenrechte der Simbabwer werden in Genf bei der Menschenrechtskommission die Amerikaner streiten. Sie werden es schwer haben. Aus vielerlei Gründen.
Renate Wilke Launer ist Chrefredakteurin des "überblick".
aus "der überblick Nr. 1/2003 Seite 4