Der Übergang zur Demokratie hat in Nigeria erbitterte Kämpfe um die politische Vorherrschaft zur Folge, weil sich das Machtgefüge zwischen den Ethnien verschoben hat. Als Reaktion auf ihren drohenden Machtverlust haben die Eliten der Hausa und Fulani im Norden des Landes zu einem riskanten Mittel gegriffen: der religiösen Mobilisierung der Bevölkerung. Mit Hilfe der Scharia wollen sie den christlichen Süden erpressen, den Norden weiter zu subventionieren. Aber nun liebäugeln auch Igbo-Politiker im Süden mit größerer Autonomie ihrer Herrschaftsgebiete auf christlicher Basis. Und wenn der religiöse Eifer einmal geweckt ist, kann er sich eines Tages gegen die eigene korrupte Oberschicht wenden.
Mit dem Übergang zur Demokratie, Anfang 1999, eskalierten im Norden Nigerias die religiösen Konflikte. Einer der Gründe dürfte sein, dass nach dem Rückzug der Militärs offener um die Macht gestritten wird. Politiker, die Rückhalt bei der Bevölkerung suchen, um wiedergewählt zu werden, verschaffen sich Popularität, indem sie als Vertreter ihrer Ethnie auftreten. Selbst die gewählten Gouverneure, die an der Spitze der 36 Bundesstaaten stehen, erklären offen, dass sie sich allein den Interessen ihrer Volksgruppe verpflichtet fühlen. Im Südosten unter den Igbo beispielsweise ist Gouverneur Kalu zu einer Art Volksheld aufgestiegen: "Ich gehöre zu einer Generation von Igbos, die bereit ist alles zu tun, um die Interessen der Igbos zu verteidigen - zu jeder Zeit, an jedem Ort."
Dass so erbittert um Einfluss gerungen wird, hängt damit zusammen, dass sich das Machtgefüge zwischen den drei großen ethnischen Blöcken gründlich verschoben hat. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 hatten Politiker der Volksgruppen Hausa und Fulani, die aus dem islamisch dominierten Norden stammen und, seit die Fulani im 19. Jahrhundert die Hausa unterworfen haben, allmählich miteinander verschmelzen, den Staatsapparat kontrolliert. Sie waren durch freie Wahlen an die Macht gekommen, klammerten sich dann aber an ihre Posten, indem sie folgende Wahlen fälschten und sich zunehmend auf die Armee stützten.
Nach insgesamt 29 Jahren Militärdiktatur war das Land heruntergewirtschaftet und die Armee völlig diskreditiert. Um zu verhindern, dass die Yoruba, Igbo und andere benachteiligte Völker sich abspalten, verständigten sich die Generäle und die Elite der Hausa-Fulani schließlich darauf, demokratische Wahlen zuzulassen. Mit dem neuen Präsidenten, Olesegun Obasanjo, wurde 1999 zum ersten Mal ein Christ aus dem Süden an die Spitze der Regierung gewählt. Für die Bevölkerung Nordnigerias war er freilich ein akzeptabler Kandidat, weil er im Gegensatz zu anderen Politikern nie die eigene Ethnie begünstigt hatte.
Während seiner bisherigen Amtszeit hat sich Obasanjo in der Tat bemüht, einen Ausgleich zwischen den 400 verschiedenen ethnischen Gruppen herbeizuführen. Aber gerade weil er darauf bedacht ist, zwischen konkurrierenden Ansprüchen zu vermitteln, musste er den Einfluss der Hausa und Fulani, die stets privilegierten Zugang zu öffentlichen Ämtern besaßen, zurückdrängen. Gleich bei seinem Amtsantritt entließ er 150 Generäle und Obristen, sodass sich seither die Politiker aus dem Norden im Konfliktfall nicht länger auf die Armee stützen können. Ohne den Schutz der Armee müssen sie sogar befürchten, dass ihr Einfluss auf die Regierung noch weiter schwinden wird. Als Reaktion auf den drohenden Machtverfall griffen sie jedoch zu einem riskanten Mittel: der religiösen Mobilisierung der Bevölkerung.
Deshalb fasste die Elite der Hausa-Fulani auch den Entschluss, in den nördlichen Bundesstaaten das islamische Recht einzuführen. Sie ließ sich dabei von verschiedenen Motiven leiten: Die Forderung nach der Scharia, die alle rechtgläubigen Muslime eint, dient sicher dazu, Widersprüche im eigenen Lager zu überdecken - etwa Konflikte zwischen rivalisierenden Bruderschaften, zwischen Yoruba- und Hausa-Muslimen, zwischen Sunniten und der militanten schiitischen Minderheit. Die religiöse Kampagne eignet sich außerdem dazu, eigene Machtansprüche abzusichern. Die Vorherrschaft der Hausa und Fulani ist nämlich auch in einigen Regionen Nordnigerias bedroht. Im sogenannten Middle Belt leben Hunderte von kleinen Ethnien, die sich schon in vorkolonialer Zeit den Herrschafts- und Tributansprüchen der Emire aus dem Norden widersetzt hatten. Durch die forcierte Islamisierung werden diese überwiegend christlichen Minderheiten nun unter Druck gesetzt, sich der herrschenden Mehrheit anzupassen, also zu konvertieren und damit ins Lager der Hausa-Fulani überzutreten. Die Religion dient damit wieder - wie schon im 19. Jahrhundert, als der Fulani-Führer Usman dan Fodio seinen Dschihad ausrief - als ein Mittel, die eigene Vorherrschaft auf fremde Ethnien auszuweiten.
Die Attraktivität der Scharia liegt aber auch darin, dass sie sich benutzen lässt, um auf den christlichen Präsidenten und andere Politiker des Südens Druck auszuüben. Als ein Mittel der Erpressung funktioniert sie freilich nur, weil sich in Großstädten des Nordens wie Kano und Kaduna Millionen von Migranten aus dem Igbo- und Yorubaland angesiedelt haben. Sie geraten in die Rolle von Geiseln, die jederzeit zum Opfer religiöser Gewalt werden können. Schon seit Beginn der 1980er Jahre kam es immer wieder zu Überfällen auf ethnische und religiöse Minderheiten, vor allem auf Igbo-Händler und -Geschäftsleute. Seit dem Übergang zur Demokratie ist es für die christlichen Minoritäten noch riskanter geworden, in der Fremde zu leben, denn die frisch gewählten Gouverneure haben in fast allen islamisch dominierten Regionen des Nordens die Scharia eingeführt.
Natürlich behaupten die verantwortlichen Politiker, nur den Geboten ihres Glaubens zu folgen; doch von der Verpflichtung, öffentliche Amputationen, Kreuzigungen und andere Körperstrafen einzuführen, war während des Wahlkampfs nicht die Rede. Deshalb ist allen Beteiligten klar, dass sich die religiöse Mobilmachung gegen die neue Regierung richtet. Durch die Drohung, die religiösen Konflikte eskalieren zu lassen, können die Hausa- und Fulani-Führer ihre Gegner zwingen, bei der Verteilung von Ämtern und staatlichem Geld Kompromisse einzugehen. Es ist eines der letzten Druckmittel, das ihnen geblieben ist. Nach allen Erfahrungen, die Nigerias Politiker seit Beginn der Unabhängigkeit sammeln konnten, haben sie wenig Grund, auf die schützende Wirkung demokratischer Institutionen zu vertrauen. Es wäre auch fahrlässig, sich auf die persönliche Integrität des jetzigen Präsidenten zu verlassen. Wirksam geschützt sind die eigenen Interessen nur, wenn man der Gegenseite glaubhaft androhen kann, diese empfindlich zu schädigen.
Die alten Machthaber haben allen Grund, sich vom demokratischen Wechsel bedroht zu sehen. Falls ihnen der Einfluss auf die Regierung in Abuja entgleitet, geht ihnen auch die wirtschaftliche Basis ihrer Existenz verloren. Ihr privilegierter Lebensstil gründet sich fast ausschließlich auf den Ölreichtum, den sie sich, gestützt auf die Armee, jahrzehntelang hatten aneignen können. Aus der Perspektive ihrer Gegner handelte es sich dabei um offenen Raub: 95 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Verkauf von Erdöl, und die Ölquellen sprudeln im äußersten Süden der Republik. Der Norden besitzt demgegenüber keine nennenswerten Bodenschätze; eine Industrie hat sich hier nie entwickelt, und die Landwirtschaft reicht in vielen Regionen kaum noch zur Subsistenz, sodass die Oberschicht von ihren Hackbauern nicht einmal Steuern oder Tribut eintreiben kann. Selbst das staatliche Schulsystem und andere Bereiche der Infrastruktur sind in einem desaströsen Zustand, obwohl seit der Unabhängigkeit Nigerias die meisten Staatsgelder in den Norden geflossen sind.
Dass der Norden rückständiger ist als andere Landesteile, erklärt sich aus dem Versagen der islamischen Oberschicht, die sich noch weniger um die eigene Bevölkerung kümmert als ihre Rivalen im Süden. Und genau diese herrschenden Kreise, die sich, wie in vorkolonialer Zeit, vor allem aus den königlichen Familien der Fulani rekrutieren, wären, wenn es zu einer Sezession des Südens käme, vom Bankrott bedroht. Ohne die Ölmilliarden aus der Hauptstadt könnten die Gouverneure weder Lehrer noch Polizisten bezahlen; es gäbe kein Geld für die Stromversorgung oder den Straßenbau, und in den Marmorpalästen der Fulani-Aristokratie würde der Glanz verblassen.
Für Yoruba- oder Igbo-Politiker ist es jedoch wenig attraktiv, den luxuriösen Lebensstil ihrer Widersacher weiterhin zu subventionieren. Was hält sie davon ab, sich vom Norden abzuspalten? Sicher nicht, wie in früheren Zeiten, die Angst vor dem Militär. Denn seit Präsident Obasanjo den Einfluss muslimischer Offiziere zurückgedrängt hat, lassen sich die Truppen nicht mehr wie eine Kolonialarmee gegen abtrünnige Provinzen einsetzen.
Die Bevölkerung des Südens müsste auch die Scharia-Kampagne nicht fürchten. Es könnte ihr egal sein, ob sich der Norden durch religiösen Fanatismus noch weiter ins Abseits manövriert, gäbe es nicht Millionen von Igbo, Yoruba oder Edo, die sich dort angesiedelt haben. Diese Minderheiten wären, wenn die religiösen Konflikte eskalierten, die ersten Opfer. Im schlimmsten Fall müssten sie in ihre Herkunftsregion fliehen, so wie bei den Massakern von 1966, als bis zu 8000 Igbo ums Leben kamen und mehr als eine Million in den Südosten flüchtete. Seit der Vertreibung und dem Bürgerkrieg um die versuchte Sezession der Republik Biafra haben sich die Igbo erneut im Norden angesiedelt. Und da sie, ähnlich wie andere christliche Ethnien, relativ gut ausgebildet sind, sind sie hier wirtschaftlich erfolgreicher als die große Mehrheit der eingesessenen Bevölkerung. Die Vorstellung, dass sie gezwungen sein könnten, all ihren Besitz aufzugeben und in die hoffnungslos übervölkerte Igbo-Region zurückzukehren, ist für alle Igbo - auch die daheimgebliebenen - ein Albtraum. Schon jetzt sind landwirtschaftlich nutzbare Flächen in Südostnigeria so knapp, dass ganze Bauerndörfer zu Nettoimporteuren von Lebensmitteln geworden sind.
Dass die früheren Machthaber bereit sind, die Ermordung Tausender von Migranten in Kauf zu nehmen, demonstrierten sie gleich nach dem Übergang zur Demokratie. Als die Gouverneure von Zamfara und Kano State ankündigten, die orthodoxe Form der Scharia einzuführen, wusste jeder, dass es Tote geben würde. Seit Beginn der 1980er Jahre waren bei religiösen Unruhen, grob geschätzt, 20.000 bis 30.000 Menschen ums Leben gekommen, und dabei spielte das Gezerre um Scharia-Gerichte eine große Rolle. Solche Gerichte existieren nämlich seit langem, nur waren sie jahrzehntelang auf zivilrechtliche Aspekte des islamischen Rechts beschränkt. Wenn es bei Familien- oder Erbschaftsangelegenheiten zum Streit kam, konnte ein islamisches Gericht angerufen werden, vorausgesetzt, beide Konfliktparteien stimmten überein, ihren Fall nicht nach westlichem Recht entscheiden zu lassen. Trotz dieser Einschränkung, die die religiöse Gerichtsbarkeit nur als freiwillige Option zuließ, kam es auch in der Vergangenheit zu Konflikten, denn die islamischen Autoritäten nahmen sich immer wieder das Recht, auch Verfahren, in die Christen involviert waren, nach muslimischen Gesetzen zu entscheiden.
Seit zivile Gouverneure das Sagen haben, wurden die religiösen Vorschriften in 13 Bundesstaaten drastisch verschärft. Nach dem Gesetz des Bundesstaats Zamfara, der im Oktober 1999 als erster die orthodoxe Form der Scharia einführte, steht auf Hexerei nun die Todesstrafe; für Ehebruch und Sodomie (Homosexualität) ist das Steinigen vorgesehen und für Raubmord die Kreuzigung. Minder schwere Delikte sollen dagegen durch öffentliches Auspeitschen oder Abschneiden von Händen und Füßen geahndet werden.
Von solchen Änderungen des Strafrechts - wie auch von den neuen Bekleidungsvorschriften - bleiben nicht-muslimische Bürger allerdings fürs Erste ausgenommen. Unmittelbar betroffen sind sie zunächst nur von dem Alkoholverbot sowie der Segregation der Geschlechter in Schulen, Hotels oder Restaurants, in Bussen oder Taxis. Für Muslime dagegen sind keine Ausnahmen vorgesehen. Ihnen steht nicht mehr das Recht zu, selbst zu entscheiden, ob sie vor einen religiösen oder weltlichen Richter treten wollen. Nach Auskunft von Gouverneur Ahmed Sani, dem Vorreiter der Scharia-Bewegung, kann es Gläubigen nicht erlaubt werden, die Gesetze Gottes abzulehnen. Vielleicht würde mancher, der dieses Verständnis von Islam nicht teilt, es vorziehen, sich von seinen religiösen Verpflichtungen loszusagen. Doch wer vom wahren Glauben abfällt, begeht nach islamischer Orthodoxie ein todeswürdiges Verbrechen. Die Todesstrafe für den Abfall vom Glauben ließ sich allerdings - aus Rücksicht auf die politischen Realitäten Nigerias - nicht in die Scharia-Gesetzgebung von Zamfara oder anderen Bundesstaaten aufnehmen. Gouverneur Sani rief daher seine Bürger auf, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen und die Schuldigen zu exekutieren, ohne sich weiter um Nigerias säkulare Verfassung zu kümmern: "Wenn Du vom Islam zu einer anderen Religion wechselst, ist die Strafe der Tod. Wir wissen das. Und wir haben es nicht in unser Strafgesetz aufgenommen, weil das nicht der Verfassung entspricht. Es ist das Gesetz Allahs, das jetzt zur Kultur der gesamten Bevölkerung gehört. Wenn also ein Muslim seinen Glauben oder seine Religion wechselt, dann ist es die Pflicht der Gesellschaft oder Familie, diesen Teil der Justiz selbst in die Hand zu nehmen."
Durch das Gebot, Abtrünnige zu töten, konstituieren sich die Muslime als eine Zwangsgemeinschaft, die sich durch Speise- und Fastentabus, durch öffentliche Gebete und Bekleidungsvorschriften von Andersgläubigen abgrenzt. Doch es geht nicht nur um Abgrenzung. Die Scharia eignet sich auch dazu, die eigenen Machtansprüche abzustecken. Indem die Muslime in Zamfara oder Kano ihre religiösen Vorstellungen zum Gesetz erheben, präsentieren sie sich als die Herren des Landes, die den christlichen Minderheiten die Bedingungen diktieren, unter denen sie zu leben haben. Wem diese Bedingungen nicht passen, kann sich ja, wie Scharia-Anhänger versichern, in einem anderen Teil Nigerias ansiedeln.
Christen mussten immer schon am Rand der islamischen Städte leben, in sogenannten Fremdenvierteln, in denen die "Ungläubigen" weitgehend unter sich blieben. Seit der Einführung der Scharia sehen sie sich noch stärker ausgegrenzt, sodass viele ihre Geschäfte aufgeben und den Norden verlassen. Neben Flucht und Migration bietet sich ihnen aber noch eine andere Möglichkeit, ihrem marginalen, weitgehend entrechteten Status zu entgehen: Sie können konvertieren. Der staatliche Rundfunk in Kano betreibt ein spezielles Programm für Igbo, das dazu dient, ihnen den Islam näher zu bringen. Doch die meisten Zuwanderer aus dem Süden zögern, sich der Mehrheit zu assimilieren, da sie sich die Option offen halten wollen, in ihre Heimat zurückzukehren.
Anders verhält es sich mit den Minoritäten der ursprünglichen Einwohner, die vor allem auf dem Hochplateau, in den Muri-Bergen und in anderen Rückzugsgebieten siedeln. In vorkolonialer Zeit hatten sie stets versucht, sich den Fulani-Sklavenjägern und damit dem Islam zu entziehen. Unter dem Schutz der Kolonialmacht traten dann viele, die sich von ihren Feinden abgrenzen wollten, zum Christentum über. Doch mit Beginn der Unabhängigkeit wuchs der Druck, sich der muslimischen Umgebung anzupassen. Wer sich um eine Stelle im Staatsapparat bewarb oder auf Beförderung hoffte, wurde immer wieder daran erinnert, dass er dem falschen Glauben anhing. Durch die Islamisierung des öffentlichen Lebens, die nun von den Gouverneuren und den Landesparlamenten forciert wird, geraten die Minoritäten noch weiter in Bedrängnis.
Dass es den Tangale, Dadiya oder Marghi nicht gelungen ist, die Einführung der Scharia zu verhindern, hat viele in dem Glauben bestärkt, dass es aussichtslos ist, die eigene kulturelle Unabhängigkeit zu verteidigen. Besser also, sich in das Unabänderliche zu fügen und die Religion der vorherrschenden Ethnien zu übernehmen. Wer konvertiert, passt sich in der Kleidung und im äußeren Habitus der Hausa-Fulani-Kultur an, und damit wandeln sich zugleich die ethnischen Loyalitäten. Wann immer es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt, weil mehr und mehr Hausa und Fulani in die Minoritätengebiete vordringen und das knapp werdende Land für sich reklamieren, distanzieren sich die Konvertiten von der eigenen Ethnie und ergreifen die Partei ihrer Glaubensbrüder. Viele der zornigen jungen Männer, die sich im Kampf gegen Christen hervortun, sind Angehörige von ethnischen Minderheiten, die erst vor kurzem zum Islam übergetreten sind.
In einigen Regionen des Nordens sind die Christen noch in der Mehrheit, aber gerade hier kam es zu den schwersten Zusammenstößen. In der Millionenstadt Jos etwa schwelte schon seit langem ein Streit zwischen christlichen Birom, den ursprünglichen Besitzern des Landes, und zugewanderten Hausa. Es ging zunächst nur darum, welche Gruppe wichtige Posten in der Verwaltung besetzen darf. Doch dieser lokalpolitische Konflikt geriet völlig außer Kontrolle, als sich die Nachricht vom Anschlag auf das New Yorker World Trade Center verbreitete. Muslime veranstalteten eine Jubeldemonstration, plünderten bei dieser Gelegenheit die Geschäfte der Igbo und ließen Kirchen in Flammen aufgehen. Einige Tage später, als die Armee wieder alle Stadtviertel unter Kontrolle hatte, waren etwa 1000 Menschen tot.
Sehr viel mehr Opfer gab es in Kaduna, einer seit langem umkämpften Stadt, in der sich ähnlich viele Christen wie Muslime gegenüberstehen. Als der Gouverneur der Region ankündigte, ein Scharia-Gesetz durchs Parlament zu bringen, gingen Muslim- und Christen-Banden aufeinander los und wollten einander aus verschiedenen Stadtvierteln vertreiben. Seitdem haben sich die verfeindeten Gruppen so sehr voneinander separiert, dass die Stadt in zwei Hälften zerfallen ist: Südlich des Kaduna-Flusses können sich die Christen sicher fühlen, nördlich davon die Muslime.
In Jos oder Kaduna mag die christliche Bevölkerung noch stark genug sein, ihre Siedlungsgebiete notfalls mit Gewalt zu verteidigen. In den meisten anderen Städten des Nordens dagegen können die Christen nur überleben, solange sie von der muslimischen Mehrheit geduldet werden. Ihr Schicksal liegt vor allem in den Händen der lokalen Machthaber, die es in ihrer Gewalt haben, die religiösen Spannungen abzubauen oder zu verschärfen. Sollten sie den Eindruck haben, dass die Obasanjo-Regierung massiv gegen ihre Interessen verstößt, müssten sie nur beginnen, die neuen Gesetze strikt anzuwenden. Bislang nämlich hielten sich die Verantwortlichen auffällig zurück. Zwei Jahre nach Einführung Scharia war unter den 60 bis 70 Millionen Muslimen nur einem einzigen Dieb die Hand amputiert worden. Doch das kann sich von einem auf den anderen Tag ändern.
Als ein Mittel, die Politiker im Süden zu erpressen, dient auch die stumme Drohung, all die Ausnahmeregelungen, die man den Christen und Animisten zugesteht, außer Kraft zu setzen. Zur Zeit spricht kein Muslim offen darüber, dass es der klassischen Form des Islam widerspricht, ausgerechnet die Ungläubigen von den grausamsten Strafen auszunehmen. Den vielen Pilgern, die Saudi Arabien besucht haben, ist natürlich bekannt, dass Diebe oder Ehebrecher dort hart bestraft werden - ob es sich um Rechtgläubige handelt oder nicht. Wenn sich dennoch alle religiösen und weltlichen Würdenträger in Nordnigeria zurückhalten und nicht die Anwendung der Scharia auf alle Staatsbürger verlangen, wissen sie, mit welchen Konsequenzen zu rechnen wäre: Das öffentliche Auspeitschen oder Steinigen von Christen würde wohl, ähnlich wie im Sudan, zum offenen Bürgerkrieg führen.
Solange die Militärs herrschten, konnte kein Bundesstaat es wagen, die Scharia einzuführen. An der Spitze des Regimes standen zwar 15 Jahre lang islamische Generäle, sie mussten aber Rücksicht nehmen auf den Obersten Militärrat, in dem fast ebenso viele Christen wie Muslime vertreten waren. Der religiöse Kompromiss, den die Generäle unter sich aushandelten, ließ sich in allen Teilen des Landes durchsetzen, weil die Gouverneure in Kano, Zamfara oder Kaduna der Zentralregierung gegenüber weisungsgebunden waren.
Heute dagegen räumt die föderale Verfassung den 36 Staaten weitgehende Autonomie ein, und die Gouverneure kämpfen energisch darum, diese Freiheit der Regionen zu verteidigen, wenn nicht zu erweitern. Um sich vom Präsidenten unabhängig zu machen, berufen sie sich auf den Willen ihrer Bevölkerung, das heißt der muslimischen Mehrheit, bei der die Scharia in der Tat enorm populär ist. Die neue islamische Gesetzgebung gibt den Landespolitikern zudem die Möglichkeit, in Konkurrenz zur Bundesregierung ihren eigenen Gewaltapparat aufzubauen. Gouverneur Sani beispielsweise stützt sich, um seine Vorstellungen von Recht und Ordnung durchzusetzen, nicht auf die Polizei. Denn als eine Bundesbehörde, in der Christen und Muslime miteinander kooperieren müssen, ist die Polizei nicht bereit, religiöse Gesetze zu überwachen. Auf den Straßen von Zamfara State patrouilliert daher eine Sondereinheit, die Joint Monitoring Group on the Implementation of Sharia. Diese jungen Glaubenskrieger fühlen sich nur dem Gouverneur persönlich verpflichtet, sodass er sie notfalls auch dazu benutzen kann, seine politischen Rivalen einzuschüchtern.
Auf lange Sicht dürfte es aber keinem der politischen Führer gelingen, die religiösen Milizen unter Kontrolle zu halten. Nachdem die Scharia-Kampagne ins Rollen gekommen ist, liegt es nicht mehr in der Macht einzelner Politiker, sie aufzuhalten. Dem Gouverneur von Kano etwa wird nachgesagt, dass er wenig Neigung hatte, sich der frommen Kampagne anzuschließen. Doch die Imame in der Landeshauptstadt drohten, ihn zum Ungläubigen zu erklären. Er konnte es nicht einmal wagen, in der Zentralmoschee beten zu gehen, bis er sich an die Spitze der Scharia-Bewegung setzte und dem Landesparlament ein entsprechendes Gesetz vorlegte.
Für die große Mehrheit der Muslime verbindet sich mit der Scharia die Hoffnung, dass es zu einer religiösen Erneuerung kommt, durch die sich die Gesellschaft von dem jahrzehntelangen moralischen und wirtschaftlichen Verfall befreit. Die Menschen denken dabei besonders an die ausufernde Kriminalität, die sich mit den Mitteln einer westlichen Demokratie, mit Polizei und einer unabhängigen Justiz offenbar nicht eindämmen lässt.
Dass der Islam in Nigeria und anderen afrikanischen Ländern mehr Zulauf hat als das Christentum, hängt auch damit zusammen, dass er sich als die Religion von Recht und Ordnung präsentiert. Jeder Pilger, der aus der Heimat des Propheten zurückkehrt, weiß zu berichten, das die Städte dort dank drastischer Strafen vollkommen sicher sind. Öffentliche Exekutionen und Auspeitschungen wirken also nicht abstoßend, sondern sie werden gerade wegen ihrer abschreckenden Wirkung geschätzt. Darin unterscheiden sich die Muslime im Übrigen nicht von ihren christlichen Mitbürgern. In allen Teilen Nigerias entstehen Bürgerwehren, die Räuber (und manchmal auch Hexen) auf offener Straße hinrichten. Und die Menschen drängen sich hinzu, um zu sehen, wie die Opfer mit Macheten in Stücke gehackt und mit Autoreifen verbrannt werden.
Aber den Anhängern der Scharia geht es nicht nur um den Kampf gegen Kriminalität. Durch die Rückbesinnung auf göttliche Gebote wollen sie eine Gesellschaft herbeiführen, in der Herrscher und Beherrschte eine alles umfassende Kultur teilen und sich im Umgang miteinander auf gemeinsame Werte beziehen. Statt demokratische Kontrolle einzuklagen, was heutigen Afrikanern zunehmend illusorisch erscheint, träumen sie davon, die islamische Oberschicht einzubinden in einen religiösen Diskurs. Denn nur durch die Unterwerfung unter eine religiöse Autorität scheint es denkbar, dass die hohen Herren sich in ihrer Willkür selbst beschränken.
Doch die Reichen und Mächtigen, die nun als Vorkämpfer einer göttlichen Ordnung auftreten, kümmern sich um das Los der verarmten Glaubensbrüder nicht mehr als zuvor. Kano, die Metropole des Nordens, gilt seit langem als die Hauptstadt des Lasters. Die Reichen haben es sich zur Gewohnheit gemacht, zum Shopping nach London oder New York zu fliegen, während sie sich zu Hause, vor heimischem Publikum, über die Dekadenz des Westens ereifern.
Auch die frömmsten unter den Gouverneuren stammen aus jener Kaste von Politikern, die das Land seit Beginn der Unabhängigkeit immer weiter ruiniert haben. Auch Ahmed Sani, der einer königlichen Familie entstammt, war ein Gefolgsmann von General Abacha, dem verstorbenen Führer der letzten Militärjunta. Dank seiner Loyalität gegenüber dem General hatte er einen wichtigen Posten in der Zentralbank erhalten, was ihm die Möglichkeit gab, einigen Reichtum anzusammeln. Seit Beginn der Demokratie scheint er freilich ein verwandelter Mann zu sein. Er ließ sich einen Vollbart wachsen und achtete nun darauf, nur noch in islamischen Gewändern aufzutreten. Er gestand sogar einige seiner Vergehen ein, was unter den Glaubensbrüdern den Eindruck verstärkte, dass er moralisch neugeboren ist. Nachdem er als erster Gouverneur ein Scharia-Gesetz vorgelegt hatte, waren Poster und goldgerahmte Bilder von ihm überall in Nordnigeria auf den Märkten zu kaufen. Als eine Ikone der Scharia-Bewegung ist er vor dem Zugriff der neuen Machthaber geschützt. Präsident Obasanjo könnte ihn oder seine Kumpanen gar nicht festnehmen und wegen alter Korruptionsaffären vor Gericht stellen.
So wie Ahmad Sani verschafften sich auch andere Profiteure des alten Regimes durch ihr religiöses Engagement Immunität, etwa der frühere Chef des militärischen Geheimdiensts, dem wegen des Mordes an einem Journalisten eine Klage droht. Vielen aus der alten aristokratischen Oberschicht ist es allerdings lästig, die Rolle von frommen Eiferern zu spielen. Vor allem aber dürften die wenigsten bereit sein, ihren extravaganten Lebensstil zu ändern. Gouverneur Sani und andere islamische Amtsträger haben bereits vorsorglich erklärt, dass die Unterschlagung öffentlicher Gelder nicht als Diebstahl im Sinne der Scharia zu werten ist. Da Staatsgelder im Grunde keiner Person gehörten, könne man sie auch nicht stehlen; ein Minister oder Staatssekretär, der sich bereichert hat, habe nichts weiter getan, als das Vertrauen der Bürger zu missbrauchen, und in diesem Fall müsse er von seinem Amt zurücktreten. Für vergangene wie künftige Machthaber besteht also kein Grund zur Besorgnis. General Ibrahim Babangida beispielsweise, der allein während der Kuweit-Krise 1990-91 rund 12,4 Milliarden Dollar an zusätzlichen Erdöleinnahmen veruntreute, muss nicht um seine Hand fürchten. Einem armen Kuhdieb jedoch ließ man mit einer Elektrosäge die rechte Hand entfernen. Das Bild des Gestraften gleich nach der Operation, mit dem verstümmelten und bandagierten Arm, fand reißenden Absatz auf den Märkten.
Ähnlich selektiv gestaltet sich der Kampf gegen sexuelle Ausschweifungen. Von Moshood Abiola, der sich als Vizepräsident des Obersten Islamrats entschieden für die Scharia einsetzte, wurde behauptet, dass er an die 400 uneheliche Kinder hatte. Doch der Versuch, die Sexualmoral der Bevölkerung zu heben, begann mit einem Prozess gegen eine sechzehnjährige Frau, die von drei Männern vergewaltigt worden war. Sie erhielt noch während ihrer Schwangerschaft 80 Peitschenhiebe wegen vorehelichen Geschlechtsverkehrs.
Abgesehen von solchen willkürlichen Manifestationen islamischer Gerechtigkeit hat die Einführung der Scharia nicht viel an Unmoral aus der Welt geschafft. Da die neuen religiösen Gesetze bestenfalls halbherzig angewandt werden, wächst unter den Bürgern die Enttäuschung. Nur richtet sich der Hass weniger auf die eigene Oberschicht als auf die Fremden, die sich ganz offen von der Solidarität der Umma, der islamischen Gemeinschaft, ausnehmen. Muslimische Milizen oder Jugendbanden ziehen daher auf eigene Faust in die Ungläubigen-Viertel und machen Jagd auf Gesetzesbrecher. Igbo-Händler etwa, die weiterhin Alkohol verkaufen, laufen Gefahr, auf offener Straße ausgepeitscht zu werden.
Auf die Zunahme religiöser Spannungen reagierte die Zentralregierung wie gelähmt. Präsident Obasanjo stellte zwar gleich zu Beginn der Krise fest, dass die Scharia-Gesetzgebung in Zamfara verfassungswidrig sei. Doch dann vermied er es, das Verfassungsgericht anzurufen und die illegalen Maßnahmen von Gouverneur Sani zu verbieten. Kritiker warfen ihm vor, die Ausbreitung der Scharia hingenommen zu haben, weil er den Politikern des Nordens, die seinen Wahlkampf finanziert hatten, verpflichtet sei. Für viele Igbo- oder Yoruba-Christen ist Obasanjo ein Verräter, der sie der Willkür ihrer Feinde ausgeliefert hat. Doch offenbar besaß die Zentralregierung gar nicht die Macht, gegen den Willen der lokalen Elite die Scharia-Kampagne zu stoppen. Ein Urteil des Verfassungsgerichts hätte den Streit sicher nicht schlichten können, gleichgültig wie das mehrheitlich muslimische Richterkollegium entschieden hätte. Aus islamischer Sicht sind die säkularen Elemente der Verfassung Relikte der Kolonialzeit, die den Weisungen Gottes widersprechen und deshalb nicht bindend sind. Orthodoxe Muslime versicherten jedenfalls, dass sie sich von dem Urteil irgendwelcher Verfassungsrichter nicht beeindrucken lassen.
Da die Regierung sich nicht in der Lage sah, die Rechte der Christen zu schützen, verkündeten Igbo-Politiker, dass sie sich von nun an selbst um ihre Verteidigung kümmern würden. Gleich nach den ersten Scharia-Unruhen in Kaduna, bei denen Hunderte von Igbo zu Tode gekommen waren, warnte der Gouverneur von Abia, einem der fünf Igbo-Bundesstaaten: "Wenn sie einen Igbo töten, werden wir unverzüglich Vergeltung üben." Unmittelbar danach brachten bewaffnete Milizen innerhalb eines Tages mindestens 400 Hausa um, die als Migranten aus dem Norden in verschiedenen Igbo-Städten gelebt hatten. Es war das erste Mal seit dem verlorenen Bürgerkrieg, dass sich die Igbo rächten, indem sie in ihrem Siedlungsgebiet Angehörige fremder Ethnien massakrierten. 30 Jahre lang hatten sie sich zurückgehalten, und für diese Selbstkontrolle gab es gute Gründe. Da ihre Region extrem dicht besiedelt ist, haben sich Millionen von Igbo unter anderen Ethnien angesiedelt. So haben inzwischen die Igbos bei den Hausa im Norden Nigerias sehr viel mehr investiert als die Hausa im Igboland. Käme es zu einer gegenseitigen Vertreibung, würden die Igbos bedeutend mehr verlieren als ihre Gegner. Für die defensive Haltung gibt es aber noch einen weiteren Grund: Nigerias Kirchen sehen sich als Hüter der säkularen Verfassung, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Konfessionen ermöglichen soll. Deshalb drängen sie ihre Anhänger, Andersgläubige nicht zu vertreiben. Muslime konnten dadurch im Süden, wo sie auf die Toleranz der christlichen Mehrheit angewiesen sind, jahrzehntelang in Sicherheit leben.
Doch es ist schwer, die eigenen Anhänger von Angriffen abzuhalten, wenn sich die Gegenseite nicht dieselbe Zurückhaltung auferlegt. Fast alle Igbo, mit denen ich darüber sprach, auch die Dozenten an meiner früheren Universität in Nsukka, erzählten voller Stolz von den Morden an den Hausa: "Das zeigt denen, dass das Leben eines Igbos nicht so billig ist." Offizielle Sprecher von Organisationen, die Biafra als "Igbo-Nation" wiederherstellen wollen, mögen das Vorgehen der Milizen natürlich nicht öffentlich gutheißen, aber sie empfehlen ihren Gegnern, die 400 Toten als ein Warnsignal zu verstehen. Der Biafra-Führer Ojukwu, der durch seinen Sezessionskrieg schon einmal mehr als eine Million Menschen in den Tod gerissen hatte, warnte: "Wir haben es satt, bedroht zu werden. Keine Religion hat das Monopol auf Gewalt. Wenn Ihr mir etwas von Dschihad erzählt, solltet Ihr wissen, dass wir auch unsere Kreuzzüge hatten und Ihr dabei nicht besser weggekommen seid."
Dass die Igbo zur Konfrontation bereit sind und die Spaltung des Landes zur Not in Kauf nehmen, machen auch die fünf Igbo-Gouverneure deutlich. Als der Norden begann, sich durch die religiöse Gesetzgebung abzusondern, protestierten sie zunächst mit heftigen Worten gegen den Bruch der gemeinsamen Verfassung. Doch mittlerweile nimmt man sich den Separatismus islamischer Politiker zum Vorbild: "Wenn Zamfara ein muslimischer Staat ist, lass sie doch ihren Staat auf solcher Grundlage organisieren. Wenn wir hier ein christlicher Staat sind, werde ich meinen Staat auf dieser Grundlage organisieren."
Die Igbo-Gouverneure wären also bereit, die Scharia im Norden hinzunehmen, doch nur unter der Bedingung, dass sie selbst weitgehende Autonomie erhalten. Wenn der Norden die gemeinsame Verfassung verwirft, weil er seine Bürger nach eigenen Gesetzen regieren will, gibt es keine Grundlage mehr für eine Republik. Stattdessen soll es nach dem Willen der Igbo-Führer eine Konföderation von sechs Regionen geben, die nur noch durch eine gemeinsame Armee, Währung und Außenpolitik aneinander gebunden sind.
Der Übergang zu einem losen Staatenverband könnte ein erster Schritt sein, um sich auf friedliche Weise voneinander zu trennen. Doch es scheint, dass die Igbo-Politiker nicht auf eine Sezession hinarbeiten, sondern trotz allem an einer gemeinsamen Zukunft interessiert sind, allerdings nur unter genau ausgehandelten Bedingungen. Mit dem Vorschlag, eine Konföderation einzugehen, bieten sie ihrem Gegenüber eine Art Tauschgeschäft an, das für beide Seiten profitabel sein kann: Der Süden transferiert weiterhin einen Teil der Öleinnahmen in den verarmten Norden. Dafür erhalten Igbo- oder Yoruba-Migranten das Recht, dort zu leben, ohne allzu sehr den religiösen Zwängen ausgesetzt zu sein. Sollte es zu Ausschreitungen gegen Christen kommen, weil die dortigen Machthaber ihre Milizen nicht zurückhalten, könnte der Süden die Kooperation einstellen, die Nordregion finanziell austrocknen und womöglich die Transportwege zu den Hafenstädten an der Küste blockieren. Ähnlich pragmatisch mögen auch islamische Politiker gedacht haben, als sie die Forderung nach der Scharia in Umlauf setzten. Für sie wäre es wahrscheinlich akzeptabel, einige Zeit von der Macht in Abuja ausgeschlossen zu sein, wenn sie nur weiterhin an dem Ölreichtum beteiligt blieben.
Doch die Politiker sind nicht die einzigen Akteure in dem religiösen Drama. Nach all den Jahren der Diktatur wird sich die Bevölkerung wahrscheinlich stärker als erwünscht in das Geschehen einmischen. Der Verweis auf religiöse Gebote ermächtigt die Menschen, sich über die Autorität weltlicher Herren hinwegzusetzen, gleichgültig, ob es sich bei diesen um den christlichen Präsidenten oder um muslimische Gouverneure handelt. Kämpfer für das Gesetz Gottes werden sicher auch die eigene korrupte Oberschicht an den Geboten des Korans messen. Und dann wird es nicht in der Macht der Politiker stehen, die zornigen jungen Männer zu demobilisieren und ihren frommen Eifer zu ersticken.
Dr. Johannes Harnischfeger arbeitet als Ethnologe an der Universität Frankfurt im Sonderforschungsbereich "Westafrikanische Savanne". Er hat in verschiedenen afrikanischen Ländern unterrichtet, darunter an der University of Nigeria in Nsukka, und Feldforschungen über Hexerei und christliche Sekten betrieben.
aus "der überblick" 1/2002 Seite 73