RENATE WILKE-LAUNER
Nein, gescheitert sei er mit seiner Wirtschaftspolitik nun wirklich nicht. Julius Nyerere, Tansanias langjähriger Präsident, ärgerte sich im Gespräch mit dem "Spiegel" und dem "überblick" über diese Frage. Seine "Fehlschläge" seien doch Erfolge: ein solides Wirtschaftswachstum und eine hervorragende Einschulungsquote. Die Weltbank und der IWF, die jetzt in seinem Land den Ton angäben, hätten weit weniger vorzuweisen (vgl. "der überblick" 2/99).
Im Jahr darauf ist die Gattin des jetzigen Präsidenten zu Gast in Hamburg. Auf die Frage, wie man denn die Politik Nyereres in Tansania heute beurteile, sagt ein junger Mann aus ihrer Delegation: "Ach, das waren doch verlorene Jahre." Jetzt, wo es darum gehe, sich in der Weltwirtschaft zu behaupten, habe das Land nicht nur schlechte Karten, sondern auch unter der Last der Vergangenheit zu leiden.
Wie passen das gute Gewissen und die schlechte Stimmung zusammen? Wie kommt es zu solch konträren Aussagen? Wer und was ist dafür verantwortlich, dass aus Tansania, dem stolzen Anwalt eines eigenständigen Entwicklungsweges, ein Bittsteller bei den Geberländern, manche meinen sogar ein Befehlsempfänger von Weltbank und Weltwährungsfonds geworden ist? Und warum lässt sich über die Bilanz und das Erbe der Nyerere- Zeit nur so schwer nüchtern diskutieren?
Dass viele Tansanier ihren inzwischen verstorbenen Präsidenten in guter Erinnerung haben, ist leicht nachvollziehbar. Er gilt als Vater der Nation, er hatte eine Vision für die Entwicklung des Landes, war ernsthaft daran interessiert und persönlich integer. Dass die Bilanz am Ende wirtschaftlich nicht sehr positiv war, dass der Staat viel Geld verpulverte, sehen ihm deshalb viele nach: "Es ist Nyerere vielleicht nicht gelungen, dass die Leute in Dar es Salaam mehr Geld in der Tasche hatten, aber er kümmerte sich sehr um sein Volk, und er hatte eine Vision für das Land, als er die 395 Staatsbetriebe ins Leben rief", so beschreibt der tansanische Journalist Moses Kulaba die Stimmung unter seinen Landsleuten (vgl. den Artikel von Moses Kulaba in diesem Heft).
Kulabas Beitrag ist in mancher Hinsicht typisch für die gegenwärtige Befindlichkeit im Land. Im Hinblick auf den alten, hoch angesehenen Präsidenten von "verlorenen Jahren" zu sprechen und die harten Einsparmaßnahmen der gegenwärtigen Regierung als Weg in eine bessere Zukunft zu verstehen, wie es Präsident Mkapa predigt, das verlangt den Menschen viel, manchmal zu viel ab. Und dass die Wirtschaft beachtlich wächst, bleibt abstrakt, wenn sich die eigene miserable Lage nicht ändert. Das gilt umso mehr, als die Tansanier beobachten müssen, dass Korruption, Rücksichtslosigkeit und üble Geschäftemacherei zu den unschönen Begleiterscheinungen der neuen Wirtschaftspolitik gehören. Manche von der Regierung begrüßte Auslandsinvestition scheint da eher wie ein Ausverkauf.
Benjamin Mkapa, der Präsident, hat Anfang Juni öffentlich auf die Kritik an der Privatisierung reagiert. Sie habe Vor- und Nachteile und sei keineswegs ein Allheilmittel. Sie sei aber notwendig, da das "frühere wirtschaftliche System" ein "Fehlschlag" gewesen sei. Die Bilanz der letzten zehn Jahre zeige, dass - hätte man nur schon vor 40 Jahren auf Privatisierung gesetzt - Tansanias Wirtschaft riesige Fortschritte hätte machen können. Das ist deutlich und ungefähr das gleiche, was der junge Mann mit den verlorenen Jahren gemeint hat.
Die Nyerere-Ära als "verlorene Jahre" zu charakterisieren, fällt auch vielen Freunden Tansanias in Europa schwer. Kein anderes Land hatte entwicklungspolitisch so viele Anhänger und Fürsprecher. Ihren Höhepunkt erreichte die Tansania-Begeisterung während der Nyerere-Zeit. Wer entwicklungspolitisch etwas auf sich hielt, schwärmte von ujamaa und self-reliance, der "afrikanische Sozialismus" des Landes galt als zukunftsweisend. Tansania wurde zum Modell erklärt. Allein der "Verlag Dienste in Übersee" setzte 17.000 Exemplare von Nyereres "Afrikanischem Sozialismus" ab. Welche Bedeutung diese Schriften hatten, formulierte ein Mitarbeiter der schwedischen Entwicklungsbehörde SIDA später so: "Ich habe Nyereres Buch als Bibel gelesen, so wie viele andere meiner Generation das auch getan haben."
Rückblickend lassen sich viele Gründe für diese Faszination ausmachen: Der charismatische Präsident und seine Vision eigneten sich gleichermaßen als Projektion für christliche, sozialdemokratische und sozialistische Vorstellungen von Entwicklung. Sie passten perfekt in eine Zeit, in der koloniale Schuld zum Thema gemacht und anerkannt wurde. Ujamaa - das verband afrikanische Traditionen mit sozialdemokratischen Vorstellungen eines stark intervenierenden bis dominanten Staates und fügte sich aufs Beste in die damalige entwicklungspolitische Konzeption der Befriedigung von Grundbedürfnissen.
Nyereres Tansania bediente eine Wunschvorstellung; nur so lässt sich wohl erklären, dass die Schönheitsfehler dieses Modells nicht zur Kenntnis genommen wurden: die keineswegs rechtsstaatlichen Gesetze etwa, die später der Nyalali-Report aufzählte (vgl. S.19 in diesem Heft) oder der Einparteistaat. Es gebe ja, so der beschönigende Einwand, die Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten. Mindestens die zunehmenden Zwangsumsiedlungen der Bauern hätten eigentlich hellhörig machen müssen, doch sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, hat man sie auch gleich hinwegdiskutiert. Weil die Politik richtig war, konnte die Opposition dagegen nur falsch sein.
Probleme und Misserfolge, die Projektmitarbeiter an ihre heimatlichen Behörden meldeten, wurden ebenfalls beiseite geschoben, wie Ole Elgström in seiner Untersuchung der schwedischen Entwicklungshilfe für Tansania herausgefunden hat. Man kann getrost davon ausgehen, dass das in anderen Ländern nicht viel anders war. Selbst als offensichtlich war, dass es so nicht weitergehen konnte, hat Schweden Tansania in seinem Widerstand gegen IWF und Weltbank noch gestärkt und damit wohl dazu beigetragen, dass Reformen erst sehr spät eingeleitet wurden.
Rückblickend ist zu fragen, ob die in diesem Fall sehr großzügigen Geber und die unkritische Begeisterung nicht eine moralische Mitverantwortung am Misserfolg der ujamaa-Politik trifft. Volkmar Köhler, der als parlamentarischer Staatssekretär im BMZ ab 1983 mit tansanischen Politikern über eine Kursänderung verhandelte und dieser Forderung mit einer Kürzung der deutschen Entwicklungshilfe Nachdruck verlieh, hat diese Frage zu Recht bejaht. Nach der lautstarken Begeisterung ist es jedenfalls auffallend leise um Tansania geworden. Manchmal erscheint es, als wäre das Modell Tansania einfach zu den Akten gelegt worden: "War halt nur so 'ne Idee".
Die Gebergemeinschaft hat Tansania nicht abgestraft, aber mit Nachdruck zu einem Kurswechsel gezwungen. Dieser für das Land ungeheuer schwierige Prozess, das Ringen zwischen Reformbefürwortern und -gegnern und die Frage, wie man eine mehr oder weniger unfähige/untätige Staatsbürokratie auf Trab und die Bürger zum Umdenken bringt, hat die entwicklungspolitische Öffentlichkeit im fernen Europa nicht interessiert. Was da ans Tageslicht kam, war zu peinlich. So war etwa die Universität von Dar es Salaam den Reformern keine große Hilfe, weil dort viel zu viele Anhänger sozialistischer Ideen oder Opportunisten saßen, die der Partei nach dem Munde redeten, um lukrativere Posten in parastaatlichen Unternehmen oder der Politik zu bekommen.
Was Tansania sich schließlich eingestehen musste - dass zum Beispiel die parastaatlichen Unternehmen ein großer Fehlschlag waren und die Privatisierung unumgänglich -, wird hierzulande nicht gern ausgesprochen. Sich für Privatisierung stark machen? Lieber nicht. Über die These diskutieren, nach der die Privatisierung wesentlich erfolgreicher hätte sein können, wenn sie nicht so zögerlich durchgeführt worden wäre? Wo führt das hin? Und sich davon provozieren lassen, was in einer Evaluierung im Auftrag der schwedischen Entwicklungsbehörde zu lesen ist, dass nämlich die Bürger Tansanias sich gegen Elemente der ujamaa-Politik gewehrt, gegen die Abschaffung des Sozialismus aber nie demonstriert haben? Du liebe Güte! Auf die unbestreitbaren sozialen Härten der Privatisierungspolitik und das unverantwortliche Verhalten mancher Unternehmer hinzuweisen, erfordert viel weniger Anstrengung und passt besser ins Bild. Wenn es Entlassungen oder den schlechten Zustand von Bildungs- und Gesundheitswesen zu beklagen gilt, findet die Tansania- Solidarität ihre Sprache wieder. Bei einem Teil der gegenwärtigen Tansania-Publizistik hat man den Eindruck, dass erneut die hiesige Weltsicht den Blick vorgibt, und die richtet sich gegen Weltbank/IWF und Privatisierung. Man sieht und beklagt, was man sehen und beklagen möchte - unter Ausblendung des Kontextes und der Vorgeschichte.
Tansanias Präsident Mkapa gehört zu den reformorientierten afrikanischen Führern, die sich für die neue Partnerschaft für afrikanische Entwicklung (NePAD) stark machen, ein Vorstoss, der Ende Juni auf dem Gipfel der G8 in Kanada diskutiert werden soll. Das zugrunde liegende Dokument hat mit Recht sehr viel Kritik erfahren: hastig zusammengeschustert, von oben herab dekretiert, in vielen einzelnen Passagen schrecklich allgemein, an anderen Stellen schrecklich konkret. Von einem überzeugenden Konzept für Afrikas zukünftige Entwicklung (und für mehr Entwicklungshilfe) kann also keine Rede sein.
Und auch der neue und angesichts der bisherigen Praxis ein klein wenig sensationelle peer review, die kollegiale Einmischung die Angelegenheiten eines anderen Landes, ist durch den Umgang afrikanischer Führer mit Simbabwe, diesem von einem despotischen Präsidenten heruntergewirtschafteten Land, bereits im Vorfeld beschädigt, wenn nicht endgültig diskreditiert. Zu denen, die Mugabe zu seinem Wahlsieg gratuliert haben, gehört auch Tansanias Präsident Mkapa.
Gegen eine vor allem in Südafrika stark vertretene Kritik muss man NePAD jedoch in Schutz nehmen: Es handelt sich keineswegs um die Kapitulation vor den in Washington ansässigen Institutionen Weltbank und Weltwährungsfonds. Wer Entwicklung will, kann auf private Investitionen nicht verzichten - das hat sich auch so herumgesprochen. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen Tansanias. Leider lassen die afrikanischen Herren - Frauen sind an dem Prozess nicht beteiligt und kommen in dem Dokument nur am Rande und als Problemgruppe und nicht als Potenzial vor - aber kaum erkennen, wie sie sich selbst verändern wollen, um good governance zu erreichen. Aber nur dann werden sie das Vertrauen ihrer Bevölkerung und der internationalen (Geber-)Gemeinschaft gewinnen, nur dann sind sie stark genug, um privaten Investoren Garantien zu geben und Grenzen zu setzen. Und nur dann hat Afrika eine Chance, nach vielen verlorenen Jahren nicht auch noch als verlorener Kontinent abgeschrieben zu werden.