Wer diesen Schönheitswettbewerb gewinne, sei nun wirklich nicht von Bedeutung. Was tatsächlich zähle, sei der Kampf um die Befreiung der Frauen, der Schwarzen und der Vietnamesen. So stand es 1969 auf einem Plakat von Demonstrantinnen gegen den Miss America-Wettbewerb in Atlantic City im Bundesstaat New Jersey. Das war damals nicht nur eine Frage der Prioritäten, sondern der Weltanschauung, der einzig richtigen und deshalb am Ende siegreichen, versteht sich.
Eine Generation später fällt das Urteil wesentlich nüchterner aus. Auch wer Schönheitswettbewerbe für ein überflüssiges kommerzielles Spektakel hält, muss zugestehen, dass sie ungeheuer populär sind. Und das bis in den letzten Winkel der Welt. Die Vietnamesen haben zwar die Weltmacht USA 1975 in die Flucht schlagen können, sind des Kommunismus aber nicht froh geworden. Sie lassen sich längst nicht mehr einreden, dass Make up ein Übel der Bourgeoisie sei, sondern kaufen, sofern ihre noch bescheidenen Mittel das zulassen, gern Kosmetika aus dem kapitalistischen Ausland (vergl. den Artikel von Margot Cohen). Dass sich Menschen - auch im Namen angeblich oder tatsächlich wichtigerer Dinge und höherer Ideale - nicht umerziehen lassen, zeigt die Entwicklung der damaligen sozialistischen Großmächte. In keinem Land der Welt wächst, wenn man den Statistiken glauben will, der Kosmetik-Markt stärker als in Russland. Die Frauen dort verdienen zwar weit weniger als die im Westen, geben aber anteilig viel mehr für die Schönheitspflege aus. Fast so, als müssten sie verlorene Zeit wettmachen. Und in China, dessen Bürger eine Generation lang im Einheitslook die Gleichheit aller Menschen des Landes zu demonstrieren hatten, investieren die am Wirtschaftsboom teilhabenden Frauen ebenfalls mit großer Begeisterung in ihr Aussehen (vergl. den Artikel von Jutta Lietsch). Die Schönheitsindustrie werde 2004 zehn Milliarden US-Dollar zum Bruttosozialprodukt beitragen und beschäftige ungefähr fünf Millionen Menschen, heißt es in der China Daily. Die Autorin des Artikels, Yuan Wu, bekennt freimütig, dass sie die Hälfte ihres Gehaltes für Schönheitspflege ausgebe.
Auch Indiens junge Mittelschicht von mehr als 100 Millionen Menschen demonstriert kaufkräftig Freude an Kosmetik und Klamotten. Aus den anderen Schwellenländern kommen ebenfalls Erfolgsmeldungen der einschlägigen Industrie. In Südafrika sei der Umsatz an Kosmetika und Toilettenartikeln von 1996 bis 2000 um 65 Prozent gestiegen und werde 2005 voraussichtlich 1,75 Milliarden US-Dollar betragen. Brasilien und Argentinien sind schon lange als schönheitsbewusst bekannt, wirtschaftliche Notzeiten wie die in Argentinien 2001 ändern das nur begrenzt. “Produkte, die sie schöner aussehen und sich besser fühlen lassen, geben Frauen selbst in der Krise nicht auf”, hat Jorge Martinez, Avon-Manager für das Land, beobachtet. Selbst wenn die Not am größten ist, im Krieg, vermittelt der Lippenstift ein Stück Normalität. Im Afghanistan der Taliban haben Frauen für geschmuggelte Kosmetika sogar ihr Leben riskiert. Wenn einem alles genommen wird, braucht man das Überflüssige offenbar um so mehr.
Frauen haben sich seit jeher pflegender Ingredienzien und schmückender Attribute bedient, um ihr Aussehen zu verändern. Die moderne Kosmetikindustrie ist aber gerade erst hundert Jahre alt. Massenproduktion und die Verbreitung von Bildern durch Photographie, Magazine und Filme haben ihren weltweiten Siegeszug begünstigt (vergl. den Artikel von Kathy Peiss). Heute wird das gesamte Schönheitsgewerbe auf weltweit mehr als 160 Milliarden Dollar geschätzt - ein riesiges und vor allem für die beteiligten Konzerne gutes Geschäft. Viele der Pioniere sind immer noch dabei: das 1909 von EugPne Schueller gegründete Unternehmen, als L’Oréal heute Weltspitze, die in Hamburg ansässige Firma Beiersdorf mit der in 150 Ländern vertriebenen Nivea - (vergl. as Interview mit dem Beiersdorf-Pressesprecher), und das ebenfalls in dieser Zeit entstandene japanische Unternehmen Shiseido. In den USA sind die Marken der zeitlebens rivalisierenden Damen Elizabeth Arden und Helena Rubinstein sowie das vom polnischen Immigranten Max Factor, dem Erfinder des modernen Make Up, aufgebaute Unternehmen hinzugekommen, später ergänzt um die Neugründungen Revlon und Estée Lauder.
Zu den besonders erfolgreichen Unternehmen zählt die US-Firma Avon, die ihre Produkte im Direktvertrieb verkauft und derzeit große Zuwächse verzeichnet. Das Unternehmen rühmt sich in über hundert Ländern 4,4 Millionen Frauen (und ein paar Männer) unter Vertrag zu haben. Sie verkaufen an Familienmitglieder und Freundinnen und am Arbeitsplatz und dürfen dafür einen bestimmten Prozentsatz der Erlöse behalten. In der (alten) Bundesrepublik oft als alberne Beschäftigung grüner Witwen verspottet, nimmt in den Zeiten von Ich-AGs auch hierzulande die Zahl der Avon-Beraterinnen wieder zu. Großer Beliebtheit erfreut sich die Tätigkeit als Avon-Vertreterin in den sich rasch entwickelnden und von großen sozialen Gegensätzen geplagten Schwellenländern. Man erwirtschaftet ein (Zusatz-)Einkommen, kann selbstbestimmt etwas tun und ist in ein modernes Netz von Kommunikation und (gelegentlicher) Fortbildung eingebunden.
Auch wenn die Werbung viel verspricht: Schönheit ist nicht käuflich, weder bei der Freundin noch an der Ladentheke. Gewiss, man kann sein Aussehen und seine Ausstrahlung mit Tiegeln, Tuben und Töpfen verbessern, auch durch den Gang zum Friseur und ins Fitnessstudio. Ihr Vorbild, meist über die Medien vermittelt, aber erreicht kaum eine Frau. Diese Kluft ist Quelle immer neuer Anstrengungen und der hohen Zuwachsraten der einschlägigen Industrie. In ihr lauern aber auch Gefahren. Sie fördert Gefühle des Ungenügens, des Versagens und selbstzerstörerischen Verhaltens. Feministinnen sehen hier eine der Ursachen weiblicher Selbstbeschränkung und der Niederhaltung von Frauen. Und Ärzte müssen später versuchen, etwas gegen die Folgen von Magersucht, Fresslust, Fitness-Fanatismus und nicht sachgerechten Behandlungen zu tun.
Zu den Erscheinungen, die die Lebensfreude deutlich beeinträchtigen und manchmal gefährlich werden, gehört der moderne Schlankheitswahn, der auch in der Dritten Welt, und wieder vor allem in den Schwellenländern, immer mehr Frauen erfasst (vergl. den Artikel von Reem Haddad). Eine Frau in Indien mit den dort bis vor kurzem als schön geltenden Maßen, kann heute kaum noch einen Schönheitswettbewerb gewinnen. Das ständige Bemühen, in Kleidergröße 32 oder 34 zu passen, ernährt wiederum einen eigenen Wirtschaftszweig, die Gewichtsreduzierung versprechende Industrie, die weltweit jährlich 12 Milliarden Dollar umsetzt. Die angebotenen Geräte und Cremes sind meist wirkungslos, die Medikamente oft gesundheitsschädlich. Gleichzeitig nimmt die Fettsucht zu, nicht nur im Paradeland USA, sondern neuen Untersuchungen zufolge auch bei ärmeren Menschen in den Schwellenländern.
Für die meisten Schlagzeilen und die größten Zuwachsraten aber sorgen derzeit die Schönheitsoperationen. Wieder sind die USA mit 8,7 Millionen Eingriffen führend, aber wenn es um die Zahl der Schönheitschirurgen pro Kopf geht, liegt Südkorea vorn und bei den Operationen pro Kopf ist Brasilien Spitze. Schönheitsoperationen sind chic geworden und werden nicht länger verschämt verborgen. Ging es vor einem Jahrzehnt noch in erster Linie darum, die Spuren des Alters zu beseitigen, will man heute einem bestimmtem Bild entsprechen. Von den 400.000 einschlägigen Operationen in Brasilien im Jahr 2003 wurden 60.000 an Teenagern ausgeführt. Diese werden in ihrem Leben möglicherweise noch wechselnden Moden folgen. Vor wenigen Jahren ließen sich Frauen in Brasilien die Brüste eher verkleinern, um nicht so auszusehen wie die (schwarzen) Frauen der Unterschicht, jetzt ist auch dort ein großer Busen gefragt. Dass sich das in so kurzer Zeit so stark verändere, falle ihm schwer zu glauben, sagt Professor Sander L. Gilman, der die Geschichte der Schönheitsoperationen untersucht hat. Er prophezeit, dass es im Jahr 2020 ganz normal sein werde, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Begründen müsse man dann eher, warum man diese Investition in ein besseres Aussehen nicht vornehme.
Der Wunsch nach Schönheitsoperationen entspringt, so Gilman, dem Bedürfnis dazuzugehören, akzeptiert zu werden. Und manchmal, so möchte man hinzufügen, auch herauszustechen und bewundert zu werden. Denn gutes Aussehen zahlt sich aus, das ist inzwischen durch zahlreiche Untersuchungen belegt. Schönheit hilft auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt, man erfährt bessere Beurteilungen und größere Hilfsbereitschaft, ja erhält, wenn etwas schief gelaufen ist, sogar geringere Haftstrafen.
Man muss deshalb noch nicht, wie der Economist das 2003 getan hat, ein Recht auf Schönheit propagieren, man muss aber das Bedürfnis nach Schönheit respektieren und kann noch so befremdlichen Anstrengungen dazu wohl nur durch Aufklärung, geduldige Überzeugungsarbeit und, etwa bei Medikamenten und Kosmetika, Regulierungen und Kontrollen begegnen. Für manche Menschen haben “an sich” nicht notwendige Schönheitsoperationen auch eine heilende oder befreiende Funktion. “Sie können große Fähigkeiten haben, aber sie treten nicht zu Tage, wenn Sie sich nicht attraktiv fühlen”, hat die in diesem Jahr verstorbene Estée Lauder in ihrer Autobiographie geschrieben.
Auch wenn man selbst an den alten Prioritäten festhält und den Weltfrieden wichtiger findet als die “Revolution in der Kosmetik”: Feministinnen und Fundamentalisten, die beide gegen die Zurschaustellung von nur mit einem Bikini oder Badeanzug bekleideten Frauen bei Schönheitswettbewerben protestiert haben, haben deren Popularität nicht beeinträchtigen können. Und Demonstrationen gegen die “Verschwendung” von Mitteln für derartige Veranstaltungen, wie dieses Jahr bei der Wahl der Miss Universum im ekuadorianischen Quito, finden nur wenig Unterstützung. Neugier und der Nationalstolz wiegen deutlich schwerer.
Schönheitswettbewerbe sind keineswegs immer gleiche Spektakel kommerzieller Unternehmen. Jenseits der glamourösen nationalen und internationalen Veranstaltungen zeigt sich in ihnen bei vielen Gelegenheiten auch Phantasie und Lebensfreude (vergl. den Artikel von Andrea Lauser). Und längst wird das Format der Miss-Wahlen auch genutzt, um die Schönste unter einer Gruppe von Frauen zu bestimmen, deren Leben nicht dem Klischee einer Schönheitskönigin entspricht. Wer sich wie Saovapa Devahastin in Thailand zur Miss Spinster (Frau Unverheiratet) wählen lässt, demonstriert damit zugleich, dass kaum ein Mann schönen, klugen und offenbar auch ohne Ehepartner gut lebenden Frauen gewachsen ist. In Botsuana gibt es seit 2002 einen Wettbewerb für eine Miss Stigma Free. Er findet in einem Hotel statt, wird vom Fernsehen übertragen, es gibt glitzernde Kleider und ein Interview mit den Bewerberinnen. Und am Ende eine Schärpe und ein Krönchen für die Siegerin. Alles ganz normal - abgesehen davon, dass die Bewerberinnen HIV-positiv sind. Sie sind nicht nur schön, sondern auch ganz schön mutig.
Renate Wilke-Launer ist Chrefredakteurin des überblick.