Spurensuche im Archiv
Wenn es um die Dritte Welt geht, dann berichten die Medien doch nur über Krisen, Katastrophen und Kriege. Diese Klage scheint auch das redaktionseigene Archiv zu bestätigen: Ist etwas los, schwillt ein Ordner schnell an, ist die Aufregung vorbei, wird nur noch gelegentlich etwas abgeheftet.
Seit einigen Jahren wird nun ein ähnlich anklagender Vorwurf an die "Weltgemeinschaft", also die in den UN zusammengeschlossenen Staaten gerichtet: dass sie erst reagieren, wenn die Katastrophe eingetreten, wenn der Krieg ausgebrochen ist. Dann schicken sie ihre Helfer und Truppen los, dann wird die erste Not gelindert, dann versucht man die Streithähne zu trennen und der Bevölkerung mit ordnungsgemäßen Wahlen eine Stimme zu geben. Ist dann der große Tag vorbei, werden bald wieder die Koffer gepackt, es gibt schließlich anderswo genug zu tun. Auch das lässt sich mit einem diesmal längeren Blick ins "überblick"-Archiv bestätigen.
Nehmen wir Osttimor, heute Timor-Leste. Nach vier Jahrhunderten portugiesischer Kolonialherrschaft und 24 Jahren indonesischer Besatzung wurde es am 19. Mai 2002 unabhängig. Drei Jahre lang hatten davor die UN die Geschicke des Landes bestimmt. "Selten zuvor", so schrieb UN-Generalsekretär Kofi Annan damals stolz, "hat die Welt mit derartiger Eintracht, Entschlossenheit und Schnelligkeit zusammengefunden, um die Selbstbestimmung eines Volkes sicherzustellen." Doch die "Erfolgsgeschichte" hielt nicht lange an; bereits im Dezember 2002 war von Unruhen zu lesen, wurde der Ausnahmezustand verhängt. 2006 eskalierten die Spannungen, am 25. Mai schossen Soldaten des Landes auf unbewaffnete Polizisten. Die internationale Gemeinschaft musste erneut Truppen schicken.
Zu schnell und zu drastisch, so die Berichterstatter, habe man die UN-Truppen reduziert, zu wenig für die bitter armen Menschen des Landes getan, zu viel Geld für die teuren ausländischen Experten ausgegeben, zu häufig gegenüber sich abzeichnenden Fehlentwicklungen beide Augen zugedrückt. Und selbst sinnvoll erscheinende Entscheidungen wie etwa die, die Einnahmen aus dem Verkauf von Öl nicht gleich wieder auszugeben, sondern einen Teil in einen Zukunftsfonds einzuzahlen, können sich am Ende als kontraproduktiv erweisen, wie Graciana del Castillo in diesem Heft zeigt.
Blättert man weiter zurück, so hat es an kritischen und warnenden Stimmen nicht gefehlt. Journalisten hatten schon früh über das Cambodia problem geschrieben, also über die negativen Folgen kurzfristiger Präsenz vieler ausländischer Helfer, oder über Quickfixville gespottet, also die absurde Vorstellung, in gerade mal drei Jahren ein funktionierendes Gemeinwesen schaffen zu können. Nun bemüht man sich erneut, aber statt den Rückenwind der Freude über die Unabhängigkeit nutzen zu können, muss man nun einen Wettlauf gegen die Enttäuschung der Bürgerinnen und Bürger gewinnen.
In ein paar Jahren wird jemand anderes vielleicht im Archiv nachlesen können, ob die Vereinten Nationen, die 1975 zuließen, dass Indonesien Osttimor besetzte und zur 27. Provinz machte und 2002 ihren Job nur zur Hälfte erledigt haben, dem Land nun mit der notwendigen Geduld beistehen werden. Und dabei wahrscheinlich auch etwas über die Medien lernen: Dass sie meist der Agenda der Politik folgen, dabei aber einen ziemlich guten Job machen.
aus: der überblick 04/2006, Seite 1