Als der Pressesprecher der NATO, Jamie Shea, während des Kosovo-Krieges, mit Blick auf getötete Zivilisten von Kollateralschäden sprach, war die Empörung groß. So groß, dass der Begriff in Deutschland zum "Unwort des Jahres 1999" gewählt wurde. Trotz des weit verbreiteten Unbehagens über diesen antiseptischen Euphemismus hat sich der Begriff eingebürgert, oft kritisch oder ironisch verwandt, aber eben doch verwandt. Auch von seiner ursprünglichen Bedeutung losgelöst, macht er Karriere. Als Robert Mugabe im Schatten des Irak-Krieges gegen die Opposition wüten ließ und Fidel Castro mit Regimegegnern kurzen Prozess machte, wurde dies als "Kollateralschaden" der auf den Irak gerichteten Aufmerksamkeit diagnostiziert.
Welche Schäden der Irak-krieg angerichtet hat, welche Folgen er haben wird, lässt sich nur schwer abschätzen. Noch wissen wir nicht, wie viele Menschenleben er gekostet hat: Soldaten auf beiden Seiten und im Irak auch Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder. Es gibt erste Zählversuche und die in den letzten Tagen verstärkte traurige Gewissheit, dass die Zahl noch weiter steigen wird. Was derzeit aus dem Irak berichtet wird, kann niemandem Freude bereiten, auch keine Schadenfreude im Hinblick auf die arroganten militärischen Sieger.
Verflogen ist auch jener kurze Moment der Euphorie, den manch einer empfunden hat, als Menschen in aller Welt gegen die Kriegsabsichten der USA demonstrierten und bis dahin wenig beliebte Regierungschefs auf einer Woge der Zustimmung reiten konnten, weil sie sich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dem Ansinnen der USA und Großbritanniens widersetzten. In der gemeinsamen Gegnerschaft gegen die Pläne der USA hatten sich ja Menschen und Staaten aus den unterschiedlichsten Motiven zusammengefunden, aus gut begründeten moralischen, rechtlichen, strategischen Überlegungen, aber auch aus Unbehagen an der Stärke der einzig verbliebenen Weltmacht, die, so die Wahrnehmung, wirtschaftlich die Fäden zieht, militärisch erdrückend ist und kulturell den Ton angibt. Mit ihren reichlich fadenscheinigen Argumenten und ständig wechselnden Kriegsgründen haben die USA diese weltweite Opposition gegen sich selbst auf vortrefflichste gefördert.
So ernsthaft und leidenschaftlich die Debatte über die Zukunft der internationalen Ordnung und die Rolle der UN war, so verlogen und kaltherzig war sie im Blick auf die Menschen im Irak. Sowohl Kriegsbefürworter als auch -gegner haben sie zur Unterstützung ihrer jeweiligen Position herbeizitiert - und sich doch beide in der Vergangenheit herzlich wenig für die Not der Iraker unter der brutalen Herrschaft Saddam Husseins interessiert.
Der aufgeregte Schlagabtausch unter dem Stichwort "Bruch des Völkerrechts" hat die zuvor schon erlahmte Debatte über das grundsätzliche Dilemma des Schutzes der Menschenrechte einerseits und der Respektierung der "Souveränität" der Staaten andererseits in den Hintergrund gerückt. Kofi Annan, der kluge UN-Generalsekretär, hatte sie 1999 mit einem Aufsatz im Economist voranzubringen versucht. Nach dem Irakkrieg ist diese Diskussion noch schwieriger, wenn nicht gar unmöglich geworden. Einmal, weil sich diejenigen Regime gestärkt sehen, die sich jede Einmischung in die "inneren Angelegenheiten" ihrer Länder verbitten, zum anderen, weil verschiedene Entwicklungen der letzten Monate deutlich haben zu Tage treten lassen, wie uneinig sich die Völker und Regierungen dieser Welt sind.
Am deutlichsten sichtbar wurde diese Kluft während der 59. Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf. Durch fragwürdige Allianzen, und politischen Kuhhandel schützten viele der dort vertretenen 53 Staaten nicht die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, sondern sich selbst vor Kritik. Die südafrikanische Regierung hatte schon vorab erklärt, eine Verurteilung Simbabwes komme nicht in Frage (vgl. "der überblick" 1/2003). Kuba wurde nicht nur nicht kritisiert, sondern vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) per Akklamation für zwei Jahre in die Menschenrechtskommission gewählt.
Dabei hatten Fidel Castro und Robert Mugabe während der sechswöchigen Sitzungsperiode der Kommission erneut demonstriert, wie sie die Menschenrechte missachten. Castros Regierung ließ 75 Dissidenten in Schnellverfahren zu hohen Haftstrafen und drei Männer, die eine Fähre nach Florida umleiten wollten, zum Tode verurteilen. Und Mugabe ging wieder mit brutaler Gewalt gegen die Opposition vor und verwies mit Andrew Meldrum den letzten ausländischen Journalisten des Landes.
Die Staaten der Europäischen Union haben die kubanische Provokation mit diplomatischen Sanktionen beantwortet und auch das Beitrittsgesuch Kubas zum Abkommen von Cotonou auf Eis gelegt; Castro selbst hat daraufhin eine Massendemonstration vor den Botschaften Spanien und Italiens angeführt und die Schließung des spanischen Kulturinstituts, der einzigen westlichen Einrichtung dieser Art, eingeleitet.
Während die EU in diesem Fall einmütig handelte, war sie in der Simbabwepolitik gespalten. Auf der einen Seite wollten die Briten die beschlossenen Sanktionen fortsetzen, auf der anderen Seite fürchteten die Portugiesen und Franzosen, die übrigen Afrikaner zu verärgern. So durften Mugabe und seine gern einkaufende Frau Grace (im Lande first shopper genannt) im Februar Paris besuchen.
Doch diese europäischen Reaktionen auf die Verletzung grundlegender Menschenrechte werden keineswegs universell geteilt. Und es sind nicht nur die ebenfalls autoritären Regierungen, die die Verurteilung ablehnen. Als Robert Mugabe jüngst in Südafrika beim Staatsbegräbnis von Walter Sisulu erschien, wurde er heftig beklatscht. Reist Fidel Castro in die Dritte Welt, gibt es regelrechte Beifallsstürme, zuletzt anlässlich der Amtseinführung des argentinischen Präsidenten Kirchner. Im Fall Kubas entzweit die Beurteilung sogar die Intellektuellen in Europa und Lateinamerika. Während einige, unter anderem der portugiesische Schriftsteller und Nobelpreisträger Saramago, die jüngsten Verhaftungen und Hinrichtungen kritisierten, halten viele andere Castro wegen der "Bedrohung" durch die USA weiter die Stange. Dabei gibt es in der Geschichte genügend Beispiele für die fehlgerichtete Solidarität mit weiter als Revolutionären posierenden Diktatoren.
Machen wir uns nichts vor: Nach der Aufbruchstimmung der neunziger Jahre - unter anderem bei den großen UN-Weltkonferenzen - hat sich das Gesprächsklima zwischen den Menschen und Regierungen dieser Welt kräftig verschlechtert. Dass ein Teil der muslimischen Welt die ihre Religion und ihre Region betreffenden Entwicklungen sehr anders wahrnimmt und interpretiert als viele Menschen in Europa und den USA, konnten wir seit dem 11. September 2001 immer wieder lesen, hören und sehen. Doch auch in vielen anderen Fragen gibt es tiefe Gräben in und zwischen verschiedenen Teilen der Welt. In seiner Rede vor der Menschenrechtskommission hat Kofi Annan diese Kluft angesprochen: "Heute wird die weltweite Debatte zu oft in Kategorien von Bedauern und Vorwurf geführt, sie ist zu häufig von Misstrauen und Missverständnissen bestimmt. Bei einem breiten Spektrum von Weltfragen - von Abrüstung über Konfliktlösung bis hin zur Umwelt - wird es zunehmend schwieriger, Einvernehmen herzustellen." Nicht einmal der Einsatz für die grundlegenden Menschenrechte ist unstrittig: "Während einige fürchten, dass die Menschenrechte dem Diktat der Sicherheit zum Opfer fallen, befürchten andere, dass die Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen in einem oder zwei Fällen zur Folge hat, dass ebenso schwere Verstöße an anderen Orten ignoriert werden. Während die einen sich auf die bürgerlichen und politischen Rechte konzentrieren möchten, wollen die anderen, dass auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte die gleiche Aufmerksamkeit erfahren."
Doch gerade in diesen schwierigen Zeiten, so der UN-Generalsekretär, sei die Förderung und der Schutz der Menschenrechte wichtiger denn je. Und dann hat Annan den Delegierten auf seine freundliche, aber bestimmte Art auch ein bisschen die Leviten gelesen: Spaltungen und Streit hätten die Menschenrechtskommission nicht stärker, sondern schwächer gemacht, ihre Stimme sei gedämpfter, nicht klarer geworden. Weniger diplomatisch formuliert: Den Menschenrechten hat der in Genf praktizierte Kuhhandel geschadet.
Die Charakterisierung der Menschenrechtsverletzungen als "Kollateralschäden" des Irakkrieges setzt voraus, dass jemand es überhaupt für nötig hält, den Windschatten der internationalen Aufmerksamkeit zu nutzen. Lehrt die Erfahrung doch, dass Willkür und Kriegstreiberei keineswegs immer geahndet werden. Wenn eigene Interessen im Spiel sind - wie Terrorismusbekämpfung und lukrative Geschäfte - oder die Angelegenheit als nicht so wichtig erachtet wird, drückt auch der Westen ein, manchmal beide Augen zu.
Die Präsidenten von Uganda und Ruanda zum Beispiel, vor Jahren zu "neuen Führern Afrikas" geadelt, werden weiter großzügig unterstützt, obwohl sie jahrelang die Reichtümer im Osten des Kongo geplündert haben und für die gegenwärtigen brutalen Morde rivalisierender Banden in der kongolesischen Ituri-Region zumindest mitverantwortlich sind.
Jetzt soll eine von der EU geführte und von den UN mandatierte Friedenstruppe dem tödlichen Treiben Einhalt gebieten. Dass sich die Welt damit endlich dem Kongo zuwendet, in dessen kriegerischen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren schätzungsweise drei Millionen Menschen umgekommen sind, ist auch eine Folge des Irakkrieges, in der Logik der eingangs zitierten Sprachschöpfung ein "Kollateralgewinn". Frankreich möchte so seine Bedeutung als weltpolitischer Akteur stützen. Ob das mit dem robusten, aber zeitlich und räumlich eng begrenzten Mandat gelingt, ist nicht abzusehen. Aber dass diese Mission so schnell und so unaufgeregt beschlossen wurde, ist ebenso erfreulich wie die Tatsache, dass dieses Mal auf zu viele große Worte und realitätsferne Versprechen verzichtet wurde. Wenn in Zukunft Risiken und Nebenwirkungen von Anfang an nicht verschwiegen werden, weder bei Friedensmissionen noch bei aus eigenem Ermessen erklärten Kriegen, dann braucht es keine Nebelkerzen B la "Kollateralschaden" mehr.
Reante Wilke-Launer ist Chefredakteurin des "überblick"
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aus "der überblick" Nr. 2/2003 Seite 4