Zwischen den Vietnamesen im Osten und Westen der Stadt sind Fronten des Kalten Krieges noch zu spüren
Die ersten Kontakte zwischen Vietnamesen aus Ost- und Westberlin nach dem Fall der Mauer waren besonders schwierig. "Die Vietnamesen aus Ostberlin sprachen uns als ‘Genossen’ an", erinnert sich Pham Ngoc Dangh, der damalige Leiter des vietnamesischen Tempels im Stadtteil Spandau. In seinen Ohren sei das eine Beleidigung gewesen, denn diese Begrüßungsformel habe ihn an die "Eroberung" seines Landes durch die Kommunisten erinnert. Von dem selben Ereignis hätten die Vietnamesen im Ostteil der Stadt als "die Wiedervereinigung" gesprochen. Auch dies zu akzeptieren oder zumindest zu überhören sei nicht nur ihm sehr schwer gefallen, sagt Pham.
von Friederike Böge
Nguyen Thi Lau* lebt seit vierzehn Jahren im Ostberliner Stadtteil Hellersdorf. Im Westteil der Stadt ist sie noch nie gewesen. Das Vietnam-Haus im Stadtteil Kreuzberg und den vietnamesischen Tempel mit den drei Meter hohen Buddha-Statuen im Nordwesten Berlins kennt sie nur aus Erzählungen. "Ich habe gehört, dass die Vietnamesen in Westberlin bei Veranstaltungen die südvietnamesische Fahne hissen", sagt Nguyen zur Begründung. Sie werde sich hüten, diese Fahne mit ihrer Teilnahme zu ehren.
Die drei roten Streifen auf gelbem Grund stehen für einen Staat, der schon seit 1975 nicht mehr existiert. Damals waren nordvietnamesische Truppen in Südvietnam einmarschiert und hatten ein wiedervereinigtes sozialistisches Vietnam ausgerufen. Hunderttausende Südvietnamesen hatten daraufhin unter teils dramatischen Bedingungen das Land verlassen. Viele ertranken auf der Flucht in nicht hochseetauglichen Booten. Über 200.000 der so genannten Boat People kamen in die deutsche Bundesrepublik und nach Westberlin. Ihnen gilt die alte südvietnamesische Flagge bis heute als Zeichen des Widerstands gegen das kommunistische Regime in Vietnam. Für viele ist sie ein Symbol ihrer Hoffnung, in ein nicht kommunistisches Vietnam zurückkehren zu können.
Nguyen Thi Lau aber ist Nordvietnamesin. Sie ist 1987 als Vertragsarbeiterin in die DDR gekommen. Allein in diesem und dem darauf folgenden Jahr nahm die DDR auf der Basis eines Abkommens mit der Sozialistischen Republik Vietnam über 50.000 Vertragsarbeiter auf, um den eigenen Arbeitskräftemangel zu beheben. In den zehn Jahren davor waren etwa 10.000 Lehrlinge und 700 Studenten aus Vietnam in der DDR ausgebildet worden – als eine Form der Entwicklungszusammenarbeit. Die vietnamesischen Behörden hatten sorgsam ausgewählt, wer in die DDR reisen durfte. "Viele Vietnamesen in Westberlin denken, wir seien alle Kommunisten. Das ist natürlich Unsinn", sagt Nguyen mit einem nachsichtigen Lächeln. Mit der antikommunistischen Protestkultur vieler Vietnamesen im Westteil der Stadt will sie dennoch nichts zu tun haben. Sie fürchtet, bei einem Besuch in der Heimat Schwierigkeiten mit den Behörden zu bekommen, wenn sie mit Dissidenten in Zusammenhang gebracht werden könnte.
Die ersten Kontakte zwischen Vietnamesen aus Ost- und Westberlin nach dem Fall der Mauer waren besonders schwierig. "Die Vietnamesen aus Ostberlin sprachen uns als ‘Genossen’ an", erinnert sich Pham Ngoc Dangh, der damalige Leiter des vietnamesischen Tempels im Stadtteil Spandau. In seinen Ohren sei das eine Beleidigung gewesen, denn diese Begrüßungsformel habe ihn an die "Eroberung" seines Landes durch die Kommunisten erinnert. Von dem selben Ereignis hätten die Vietnamesen im Ostteil der Stadt als "die Wiedervereinigung" gesprochen. Auch dies zu akzeptieren oder zumindest zu überhören sei nicht nur ihm sehr schwer gefallen, sagt Pham. Viele vietnamesische Familien seien ja sogar zweimal vor den Kommunisten geflohen: 1954, nach der Teilung des Landes in einen kommunistischen und einen französisch besetzten Teil, und Ende der siebziger Jahre nach dem Sieg der Kommunisten im Vietnamkrieg. Der Kontakt mit Vietnamesen in Ostberlin rief in ihnen wieder die alten Ängste wach.
Doch es gab auch viele euphorische Momente: Nach dem Fall der Mauer flohen Tausende der ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter über die nun offene Grenze nach Westberlin in der Hoffnung auf Asyl. Viele dortige Vietnamesen boten spontan ihre Hilfe an, sie spendeten Kleider, stellten Unterkünfte bereit und begleiteten die Asylsuchenden bei Behördengängen. "Unsere Leute wollten helfen, weil sie sich an ihre eigene Flucht vor zwanzig Jahren erinnert fühlten", sagt Pham Ngoc Danhg. Er selbst stellte den Spandauer Tempel als Durchgangslager für die Flüchtlinge zur Verfügung. Pham sieht sich als Vermittler zwischen den Fronten und den Tempel als eine Stätte der Begegnung. Die buddhistische Religion vereint Vietnamesen aus Ost- und Westberlin wenngleich für viele Ostberliner der Besuch eines Tempels eine neue Erfahrung ist, denn Religionsausübung ist in Vietnam erst seit einigen Jahren wieder erlaubt.
Über Politik und Geschichte Vietnams will Pham mit seinen Ostberliner Landsleuten lieber nicht mehr sprechen. "Das schürt nur unnötig Hass", sagt der 65 Jahre alte Mann. Viel wichtiger sei doch die gemeinsame Zukunft. Doch auf die südvietnamesische Fahne, die zum Neujahrsfest am Gartenzaun des Tempels in Spandau befestigt wird, will auch Pham nicht verzichten: "Du kannst nicht einfach die Symbole abschaffen, für die du gekämpft hast und für die deine Eltern gestorben sind."
Nach der anfänglichen Freude über die Maueröffnung war das Verhältnis zwischen Ost- und Westberliner Vietnamesen in den neunziger Jahren merklich abgekühlt. "Schuld daran ist die Zigarettenmafia", sagt Pham Dang Hieu vom Vietnamhaus in Kreuzberg. Viele Vietnamesen in Westberlin seien verärgert gewesen, dass ihr guter Ruf in der deutschen Öffentlichkeit zerstört worden sei. Sie hätten sich demonstrativ von ihren Landsleuten im Osten Berlins abgrenzen wollen, von denen viele in illegale Geschäfte verwickelt gewesen seien. "Dabei haben sie sich nicht immer die Mühe gemacht, zwischen legalen und illegalen Händlern zu unterscheiden", gibt Pham zu.
Die meisten der Ostberliner Vietnamesen sind heute selbstständige Händler oder arbeiten als Verkäufer im Geschäft eines anderen Vietnamesen. Denn nach der Wende waren sie die Ersten, die in den DDR-Betrieben innerhalb weniger Monate ihre Arbeitsplätze verloren. Um Startkapital zu erwirtschaften oder in der Hoffnung, vor der drohenden Abschiebung noch möglichst viel Geld zu verdienen, um den Ansprüchen der Verwandten daheim gerecht zu werden, suchten viele ihr Glück als illegale Zigarettenhändler. Doch als sich Anfang 1992 erstmals abzeichnete, dass die DDR-Vertragsarbeiter eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erwirken könnten, stiegen fast alle verbliebenen vietnamesischen Vertragsarbeiter auf legale Handelsgeschäfte um. Zu diesem Zeitpunkt hatte ein Großteil der Vietnamesen bereits gegen eine Abfindung von 3000 Mark das Land verlassen.
"Die Westberliner Vietnamesen können nur nicht akzeptieren, dass wir nun nicht mehr die armen Landsleute aus dem Osten sind", sagt Vu Ming Thu*, die auf dem vietnamesischen Großmarkt in Marzahn Pullover und T-Shirts verkauft. Wie zum Beweis erzählt sie, dass in Ostberliner Asia-Shops, die im Besitz von westdeutschen Vietnamesen seien, meist billigere Waren angeboten würden als im Westen. Vor allem ihr Auto sei vielen "Westvietnamesen" ein Dorn im Auge, glaubt die Händlerin: "Sie halten uns für gierig nach Statussymbolen und vergessen dabei, dass wir unsere Autos brauchen, um Waren zu transportieren." Schließlich, so sagt sie, habe auch ihr Ruf unter dem Zigarettenhandel gelitten. Früher seien die vietnamesischen Vertragsarbeiter als fleißig geachtet worden. Viele DDR-Bürger hätten sie sogar bewundert: "Weil wir die Amerikaner besiegt haben."
Das Klischee des raffgierigen Nordvietnamesen ist indes nicht neu. Es gehört zu den gängigen Vorurteilen, die der Süden Vietnams gegenüber dem Norden hegt. "Die Region, aus der man stammt, hat in Vietnam schon immer eine große Rolle gespielt", sagt Vu, die wie die Mehrheit der Vietnamesen in Ostberlin aus Nordvietnam stammt. In Berlin ist aber häufig nicht mehr von Nord-und Süd-, sondern von West- und Ostvietnamesen die Rede.
Wilfried Lulei, emeritierter Vietnamistikprofessor von der Humboldt-Universität Berlin, hält den unterschiedlichen Status, den Vietnamesen in Ost-und Westdeutschland genossen, für die Hauptursache der heutigen Querelen. "Die vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR waren so gut wie gar nicht in die Gesellschaft integriert." Eine Integration war auch nie geplant. Die Vietnamesen sollten nur für vier, fünf Jahre in die DDR kommen – allein, ohne Familienangehörige. Viele ließen Ehepartner und Kinder für diese Zeit in Vietnam zurück. Auch deshalb investierten die Vertragsarbeiter fast ihren gesamten Lohn in Waren, die sie nach ihrer Rückkehr in Vietnam verkaufen wollten. Die wenigsten von ihnen sprachen Deutsch, denn sie lebten isoliert in eigenen Wohnheimen. Schwangere Frauen wurden nach Hause geschickt oder zur Abtreibung gezwungen. Nach der Wende lebten die ehemaligen Vertragsarbeiter in einem rechtlichen Vakuum. Bis 1997 war nicht klar, ob sie dauerhaft in Deutschland bleiben konnten. So lange blieb ihr Leben auf kurzfristige Ziele ausgerichtet. Hinzu kamen Sprachprobleme und Abhängigkeitsbeziehungen zu vietnamesischen Dolmetschern, die sie zu DDR-Zeiten bei Behördengängen begleitet hatten.
Ganz anders dagegen die Vietnamesen in Westberlin, die nach ihrer Flucht in der Bundesrepublik sofort als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Dank staatlich geförderter Ausbildungs- und Sprachprogramme konnten sich viele von ihnen in den Arbeitsmarkt integrieren. Ihre Kinder besuchten oftmals höhere Schulen und Universitäten. Deshalb gelten die ehemaligen Boat People als Vorzeigebeispiel für Integration in Deutschland. Viele sind längst deutsche Staatsbürger.
In den vergangenen Jahren hat Lulei eine allmähliche Verbesserung der Beziehungen zwischen Vietnamesen in Ost- und Westberlin beobachtet. "Der Hauptgrund dafür ist die politische Öffnung in Vietnam selbst", sagt der Vietnamist. Sie habe bewirkt, dass viele Vietnamesen im Westteil der Stadt nun von ihrem konfrontativen Antikommunismus abrückten. "Außerdem denken viele der jüngeren Leute nicht mehr in engen politischen Kategorien", sagt Lulei. Sie träfen sich bei Musikkonzerten und schwärmten für die gleichen Fußballteams.
Nguyen Thi Lau aus Hellersdorf allerdings hat davon noch nicht viel mitbekommen. Eine Freundin von ihr hat vor zwei Jahren einen Vietnamesen aus Westberlin geheiratet. Seit der Hochzeit hat Nguyen sie nicht mehr gesehen. "Ihr Mann will nicht, dass sie den Kontakt zu uns hält. Er hat Angst vor dem Osten". Und um nicht den Eindruck zu vermitteln, das habe sie verletzt, sagt sie: "Hier im Osten gibt es genug andere Vietnamesen, mit denen ich mich treffen kann."
* Name geändert
aus: der überblick 01/2001, Seite 118
AUTOR(EN):
Friederike Böge :
Friederike Böge ist Volontärin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.