Multimedia vernetzt den Globus
Für den Korrespondenten in Moskau war die Kommunikation nicht weniger schwierig. Telefonate in die Provinz der Sowjetunion hatten allenfalls nachts um zwei Uhr eine Chance durchzukommen. Aber es hätte schon äußerst dringend sein müssen, um potentielle Informanten zu solcher Zeit zu stören. Und wie konnte er sonst seine Erkenntnisse gewinnen? Informationen aus Regierungsbulletins waren eher vernebelnd als erhellend. Die Moskauer Zeitungen, Funk und Fernsehen durften nicht alles berichten, und ausgewählte Zeitungen anderer Städte kamen zudem nicht selten mit Tagen Verspätung an. Blieben die Gespräche mit Kollegen, Geschäftsleuten und Diplomaten in Moskau. Immerhin konnte er gelegentlich Informationen auf Reisen sammeln, die allerdings angemeldet und genehmigt werden mussten. Wenigstens der Briefverkehr mit Moskau funktionierte einigermaßen reibungslos und vergleichsweise schnell.
Das konnte man zu jener Zeit von den meisten Entwicklungsländern nicht behaupten. Deshalb waren die wenigen Auslandskorrespondenten (damals waren es überwiegend Männer) in der so genannten Dritten Welt in solchen Städten stationiert, wo Telekommunikation und Post brauchbar funktionierten, etwa Singapur, Buenos Aires, Nairobi. Der Standort aber beeinflusst die Informationen und die Sichtweisen, die Korrespondenten weitergeben können. Nairobi in Kenia ist etwas anderes als Bamako in Mali.
In vielen für Europa, die USA oder die Sowjetunion und heute Russland weniger bedeutenden Ländern gab und gibt es bis heute keine festen Auslandskorrespondenten. Wenn dort etwas Aufregendes passiert, werden schnell Berichterstatter eingeflogen; parachute correspondents nennt man diese im englischen Sprachgebrauch.
Vor meiner journalistischen Berufslaufbahn habe ich eine besondere Erfahrung mit solchen parachute correspondents gesammelt. Ich war in Guatemala-Stadt in das große Erdbeben am 4. Februar 1976 geraten, bei dem rund 23.000 Menschen starben. Die Telefonverbindungen waren zusammengebrochen, aber schon nach zwei Tagen waren Reporter der Nachrichtenagentur UPI aus den USA eingetroffen. Sie durchstreiften kurz die zu großen Teilen zertrümmerte Stadt und berichteten danach, was sie gesehen hatten (und was ich am Transistorradio über Kurzwelle mithören konnte): Die Überlebenden leiden Hunger und essen Ratten.
In der Tat grillten an vielen Straßenrändern Leute etwas, was wie eine Ratte aussah. Es waren Meerschweinchen. Meerschweinchen konnten sich die meisten Guatemalteken damals allenfalls als Sonntagsbraten leisten. Aber gleich nach dem Erdbeben gab es Fleisch, Getreide, Gemüse und Früchte in Hülle und Fülle und zu unglaublich günstigen Preisen. Viele Bauern, die Beerdigungskosten zu tragen hatten oder ihre Häuser reparieren mussten, brauchten nämlich dringend Geld. So verkauften sie ihr Vieh und andere Nahrungsmittel, zumal viele Ställe und Lagerschuppen kollabiert waren, und das Überangebot führte zu Schleuderpreisen.
Kein Hunger, keine Ratten. Einem fest stationierten Korrespondenten mit Landeskenntnis wäre ein solcher Fehler in der Berichterstattung nicht passiert.
Routinierte Redaktionen verließen sich damals deshalb auch bei Krisenberichterstattung lieber auf "ihren" Korrespondenten. Diese Auslandsberichterstatter hatten somit infolge der beschränkten Kommunikationsmöglichkeiten und der Anerkennung ihrer Erfahrung eine nahezu exklusive Hoheit über die Meldungen aus ihrem Berichtsgebiet.
Das änderte sich Anfang der neunziger Jahre. Die Technologie hat die Informationsmöglichkeiten von seither geradezu revolutioniert. Vielfach wurden die neuen Techniken in Hauptstädten der Dritten Welt von Medien sogar früher eingesetzt als in westlichen Ländern. Als ich Anfang 1990 versuchte, aus Gaborone in Botswana, Afrika, per Email mit deutschen Zeitungen zu korrespondieren, musste ich schnell lernen, dass Redaktionen in Deutschland teils zwar schon einen Email-Anschluss hatten, aber – selbst beim "Spiegel" – noch das Fax benutzten. Wenige Jahre später verbreitete sich das World Wide Web. Die Zeitung The Post in Sambia startete im Jahr 1995 ihre erste Internet-Ausgabe, im gleichen Jahr wie die New York Times. Damals gab es in der Hauptstadt Lusaka schon länger exzellente Satelliten-Telefonverbindungen in die Hauptstädte der Welt (aber gleichzeitig war es bei Regen nicht möglich, vom Zentrum Lusakas aus in ärmere Stadtteile, geschweige denn in andere Landesteile, zu telefonieren, denn die Leitungen waren zu schlecht isoliert).
Langsam lernten die Redaktionen in Deutschland, dass man ausländische Zeitungen im Internet lesen und mit Suchmaschinen (damals vorwiegend Lycos, Altavista und Yahoo) schnell benötigte Informationen finden kann. Auslandskorrespondenten waren nun nicht mehr die fast exklusive Informationsquelle für die Heimatredaktionen. Vielmehr stellten letztere oft Anfragen auf der Basis von Informationen, die der betreffende Korrespondent noch gar nicht hatte. Informationen "aus zweiter Hand" (dem Internet) bekamen manchmal mehr Gewicht als die Information "aus erster Hand" des Korrespondenten (oder mittlerweile auch der Korrespondentin). Diese waren geradezu gezwungen, schon früher und mehr im Internet zu surfen, um bei einem Anruf besser informiert zu sein als die Heimatredaktionen.
Die Redaktionen der afrikanischen Medien arbeiteten nicht anders. Nach meiner Zeit als Korrespondent in Afrika bekam ich in Deutschland immer noch Anfragen, Artikel zu afrikanischen Themen zu schreiben. Einmal sollte ich etwas über Hexerei schreiben und las deshalb im Internet, was afrikanische Zeitungen darüber jüngst geschrieben hatten. Ich fand eine aktuelle Hexereigeschichte in einer eigentlich seriösen Zeitung in Südafrika – nur um anschließend festzustellen, dass diese die Geschichte aus dem Internet hatte – übernommen von der durch die Vereinten Nationen geförderten Dritte-Welt-Nachrichtenagentur International Press Service (ips).
Dem Internet folgte die Handy-Revolution. Gerade in Afrika, wo die ohnehin wenigen Telefonleitungen meist marode oder wegen ihres Kupfergehalts längst geklaut waren, verbreitete sich diese neue Kommunikationstechnik wie ein Steppenfeuer. Selbst in entlegenen Dörfern kann man sich zumindest bei der lokalen Händlerin oder dem Kleinbus-Unternehmer ein Handy mieten.
Seither ist alle Welt direkt erreichbar. Korrespondentinnen und Korrespondenten sind nicht mehr überwiegend auf die Quellen an ihrem Standort in der Hauptstadt beschränkt, sondern können sich, sofern sie dort Ansprechpartner haben, per Mobilfunk im ganzen Land und über die Landesgrenzen hinaus sofort informieren oder Rückfragen stellen. Prinzipiell steht auch den Heimatredaktionen dieser Weg offen – sofern diese die Mobilfunknummern von Ansprechpartnern kennen.
Inzwischen haben die Handys eingebaute Digitalkameras, so dass die Kontaktpersonen in ablegenen Orten auch Fotos und sogar kurze Videos gleich mitverschicken können. Lokale Journalisten haben dadurch viel mehr Möglichkeiten, die Berichterstattung über ihren Teil der Welt zu bereichern, wenn sie sich die neuen Techniken leisten können und geschult sind, diese in geeigneter Weise journalistisch zu nutzen. Oft sind nichtstaatliche Organisationen bereit, ihnen dabei zu helfen.
Computer, Digitalkameras und die Gebühren für den Datenverkehr im Internet sind mittlerweile auch in vielen Orten der Dritten Welt nicht nur für Spitzenverdiener erschwinglich geworden und helfen manchmal sogar, Kosten zu sparen. Mit der Technik voice over IP (internet protocol) etwa kann man zu nahezu Ortsgesprächsgebühren internationale Telefonate führen. So nutzen aus der wachsenden Mittelschicht in Entwicklungsländern und von den Auswanderern in der Diaspora inzwischen viele die neuen Informationstechniken (IT), um direkt mit ihren Familien und Freunden in der Ferne zu kommunizieren – zu telefonieren, oder Fotos und Videos samt Ton zu verschicken. Man ist nicht mehr auf die kargen Meldungen aus den Medien und Briefe angewiesen, die oft Wochen unterwegs sind.
Allmählich wird auch die Szene größer die aus der Dritten Welt das, was sie wissen oder erlebt haben, auf Blogger-Seiten im Internet aller Welt zugänglich machen. William Kamkwamba, ein Blogger in Malawi beispielsweise tut nicht nur das, sondern hat auf seiner Internetseite auch gleich eine Funktion eingerichtet, mit der man mit einem Klick über das Online-Zahlungssystem paypal elektronisch an ihn Spenden für seine Projekte übertragen kann. Spenden ab 50 US-Dollar, so schreibt er, werden (von wem auch immer?) verdoppelt.
Der kongolesische Rundfunk-Journalist Cédric Kalonji beschreibt und kommentiert in seinem Blog das Leben und Ereignisse in der Demokratischen Republik Kongo und erreicht damit ein größeres Publikum als mancher Journalist. Ein bolivianischer Blogger in der Hafenstadt Guyaquil in Ekuador meldet der Welt nicht nur, was sich dort tut, sondern teilt auch mit, was ihm seine beiden Brüder von daheim in Bolivien berichten. Ebenfalls in Guyaquil hat eine sozial engagierte Gruppe ein Video über die Lebensbedingungen von Nigerianern gedreht, die – statt in die USA zu gelangen – dort hängengeblieben sind und nun in einem Slum im Sumpfgebiet in Holzhütten auf Stelzen leben. Das Video hat die Gruppe bei www.youtube.com eingestellt, wo es in aller Welt jetzt mit schnellem Internet-Anschluss gesehen werden kann. Eine weitere Möglichkeit, sich und seine Sichtweise darzustellen bietet das Projekt www.6billionothers.org des Fotojournalisten Yann Arthus-Bertrand an, das die Versuchsphase abgeschlossen hat und vom kommenden Jahr an, Menschen aus aller Welt die Möglichkeit gibt, über sich selbst und ihre Ansichten im Online-Video zu erzählen.
All das kann den Auslandskorrespondenten helfen, mehr Hintergrund und mehr Kontakte über ihr Berichtsgebiet zu sammeln oder etwa bei youtube begucken zu können, wie es in der VIP-Lounge des Flughafens von Niamey, Niger, aussieht. Aber die Redaktionen daheim haben dieselben Möglichkeiten.
Einige Medien haben das zum Anlass genommen, manche Auslandskorrespondenten ganz einzusparen. Allerdings ist ihre Berichterstattung danach oft schlechter geworden, weil kein Auslandskorrespondent sie jetzt mehr darauf stößt, was für interessante Informationen über sein Berichtsgebiet sie im Internet finden können, und weil sie niemanden mehr haben, der die einzelnen Vorkommnisse und Meinungen einschätzen und gewichten kann.
Gleichzeitig entsteht – je mehr sich die neue Informationstechnologie in aller Welt verbreitet – eine parallele Welt der Berichterstattung an den großen Medienoligopolen vorbei. Rund 50.000 Zeitschriftentitel gibt es laut Google-Europachef Philipp Schindler weltweit, aber schon rund 54 Millionen Blogs. Eine Milliarde Menschen haben eine Online-Verbindung. Und laut CIA World Factbook waren bereits im Jahr 2005 über 2 Milliarden Handys in Gebrauch. Die jüngere Generation, so hat Google ermittelt, informiert sich inzwischen mehr mit Hilfe der neuen Medien als über Druckerzeugnisse, Funk und Fernsehen.
Und wer – wo immer in der Welt – sich einen Computer mit Internetanschluss leisten kann, kann sich nicht nur über das Internet informieren, sondern auch selbst ein Medium für die Massen betreiben – die allerdings irgendwie dazu bewegt werden müssen, gerade dieses Medium zur Kenntnis zu nehmen. Auch in Drittweltländern machen inzwischen mehr und mehr Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Besonders aktiv sind dabei die Pfingstkirchen, die ihre Gottesdienste, Taufen und frohe Botschaften mit neuester Technik an alle Welt verbreiten. Und bei Katastrophen warten die Betroffenen nicht erst auf die Reporter von den Medien, sondern senden per Handy gleich ihre eigenen Videodokumente, manchmal direkt an die Hilfsorganisationen, die mit Hilfe solcher Bilder dann Spenden sammeln können.
Wird die parallele Informationswelt die traditionellen Medien an den Rand drängen oder gar überflüssig machen?
Viele werden eher das Gefühl haben, von den vielen zusätzlichen Informationen überflutet zu werden, darin zu ertrinken. Um einen klaren Kopf zu behalten zu können, muss die Menge der Mitteilungen sortiert, geordnet, nach Bedeutung gewichtet und auf Wahrheitsgehalt überprüft werden – eine Rolle, die bisher die traditionellen Medien und Zeitschriften wie "der überblick" wahrnehmen.
Die neuen Medien sind dagegen noch eher Spielwiesen etwa für Verschwörungstheoretiker, die auch für die absurdesten Gerüchte und Behauptungen dort massenhaft dankbare Abnehmer finden. Viele Menschen nehmen ja auch lieber das zur Kenntnis, was sie immer schon bestätigt haben wollten, während neue Fakten, welche die liebgewonnene Meinung widerlegen, bei vielen auf taube Ohren stoßen.
Deshalb ist es um die Glaubwürdigkeit der neuen Medien auch noch schlecht bestellt. Nach einer im September 2007 veröffentlichten Befragung durch das Meinungsforschungsunternehmen tns emnid halten 60 Prozent der Deutschen ihre lokale Tageszeitung für das vertrauenswürdigste Medium und nur 20 Prozent das Internet. Selbst bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren ist laut der "JIM-Studie 2005" (Jugend, Information, Medien) des "medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest" die Tageszeitung mit 42 Prozent das glaubwürdigste Medium – weit vorm Internet mit 16 Prozent.
Umso größer die Vielfalt des Themenangebots, desto wichtiger ist es, davon eine geeignete Auswahl zu treffen und die Inhalte zu beurteilen. Einzelne mögen selbst dazu qualifiziert sein. Die meisten Menschen werden auch weiterhin "Schleusenwärter" brauchen – Redakteure eben.
Printmedien und die Tagesschau werden also einen festen Platz in der Medienlandschaft behalten, selbst wenn das Papier in einigen Jahren elektronisches Papier sein wird, also ein trag- und aufrollbarer Bildschirm.
aus: "der überblick" Nr. 4/2007 Seite 52
AUTOR(EN):
Jürgen Duenbostel
Jürgen Duenbostel ist Redakteur beim "überblick"