Politik mit dem Einkaufskorb
von Renate Wilke-Launer
Im Dezember 2004 erschien im New York Review of Books unter dem Titel Inside the Leviathan eine Besprechung verschiedener Bücher über Wal-Mart, das größte und tonangebende Unternehmen der Welt. Knapp vier Monate später, in der Ausgabe vom 7. April 2005, gab es dann eine ungewöhnliche Anzeige in dem Blatt, in dem sonst eigentlich nur für Bücher und am Rande für Universitätsprogramme geworben wird. Ganz vorne, auf den Seiten 6 und 7 nicht zu übersehen, wandte sich Lee Scott, der Chef von Wal-Mart Stores, Inc. in einem offenen Brief an die Leser der renommierten Zeitschrift.
Die in dem Artikel und in den besprochenen Büchern vorgetragenen Argumente gegen sein Unternehmen schadeten genau den Menschen, deren Interessen die Kritiker zu vertreten vorgäben, schrieb Scott. Wer unvoreingenommen an die Sache heranginge, würde vielmehr zu dem Schluss kommen, dass Wal-Mart "sehr gut" für Amerika sei. Was Scott als Hauptargument vortrug, ist nichts anderes als die Firmenphilosophie: jederzeit Niedrigpreise (Every Day Low Prices, ELDP). Das spare den Konsumenten im Land mal eben 100 Milliarden Dollar im Jahr, was insbesondere Familien mit mittlerem und niedrigem Einkommen zugute komme. Scott: "Anders ausgedrückt: Wal-Mart ist als Agent für diese Familien tätig und setzt dabei zu ihren Gunsten eine Verhandlungsmacht ein, die sie alleine niemals hätten. Wal-Mart bringt das kollektive Gewicht ganz normaler Amerikaner auf die Waage, um deren Leben zu verbessern."
Die weiteren Argumente des Textes kann man leicht widerlegen, bestreiten oder relativieren, wenn man die besprochenen Bücher gelesen hat und die Presse verfolgt. Aber dieses eine Argument die preisstabilisierende und, ja, preissenkende Wirkung von Wal-Mart sollte nicht vom Tisch wischen, wem Menschen mit geringem oder relativ niedrigem Einkommen nicht egal sind. Denn Inflation geht immer besonders zu Lasten der Armen in einer Gesellschaft. Und da sie einen höheren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben, gilt das für die Preise in Supermärkten ganz besonders. Zwischenhändler ausschalten, Makler umgehen, Mengenrabatte aushandeln, Transportkosten verringern, Betriebsabläufe optimieren, Lagerzeiten verkürzen, Repräsentationskosten reduzieren was ist daran unsympathisch?
Doch das in den Gründerjahren beeindruckende Bemühen um Kosteneinsparungen ist mit dem aggressiven Wachstum von Wal-Mart umgeschlagen in ein zwar hoch effizientes, aber auch gnadenloses Warenbewirtschaftungssystem. Der "Bulle aus Bentonville" diktiert Bedingungen, verlagert Risiken, verletzt Regeln und verheizt Menschen. Der hohe Preis der niedrigen WalMart- Preise ist inzwischen gut dokumentiert, die Diskussion beschäftigt die amerikanische Nation bis hin zu einigen demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Der Konsument profitiert von Wal-Mart, der Bürger zahlt dafür.
Ein Teil von ihnen wehrt sich inzwischen, stimmt gegen die Ansiedlung neuer Wal-Marts, zieht gegen den Arbeitgeber vor Gericht oder boykottiert die Wal-Mart-Märkte. Doch nicht nur der Bürger kann handeln, der umworbene Konsument kann es auch, kann Politik mit dem Einkaufswagen machen. Der Käufer am Ende der zentralistisch organisierten und ständig überwachten Warenkette kann den Spieß einfach umdrehen. Da Wal-Marts Logistik Schule gemacht hat, gilt das grundsätzlich für alle vergleichbaren Unternehmen. Tesco, der britische Konkurrent mit dem freundlicheren Image, betreibt geradezu obsessive Marktforschung und kann so seine Märkte nicht nur zielgruppengenau dimensionieren, sondern auch ganz auf die Kundschaft zugeschnitten bestücken: für den Londoner Stadtteil Brixton und seine karibischen Bewohner mehr Kochbananen und die Produktlinie Tesco Value, für den feineren Vorort Chingford Green mehr frische Garnelen und Tescos's Finest. Was für die ethnische Herkunft oder die gefüllte Brieftasche gilt, ist ja auch für die bewusste Konsumhaltung denkbar.
Dass die Zeit dafür reif ist, zeigen die hohen Zuwachsraten des fairen Handels. Fairtrade in Großbritannien meldet 50 Prozent Zuwachs, Transfair e.V. in Deutschland 40 Prozent. Biobauern sind keine Exoten mehr, es gibt inzwischen nicht nur die guten alten Reformhäuser, sondern auch geräumige und flotte Bio-Supermärkte. Trendforscher sprechen bereits von einer moralischen Konsumrevolution, ihre Träger werden "Lohas" genannt. Das Acronym steht für Lifestyle of Health and Sustainability, gesunden und nachhaltigen Lebensstil.
Geprägt haben den Begriff schon vor einigen Jahren die beiden US-Soziologen Paul Raye und Ruth Anderson. Der Handel registriert das Phänomen aufmerksam, sehr aufmerksam, denn Lohas sind keine Konsumgegner. Und es sind viele. Die Namensgeber haben geschätzt, dass 50 Millionen US-Amerikaner den Lohas zuzurechnen sind. In Deutschland möchte Eike Wenzel vom Zukunftsinstitut sogar fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung in dieses Schema einordnen, ihr Kollege Christian Rauch sieht nicht nur eine "Konsum-Avantgarde, sondern eine Verschiebung der Koordinaten unseres Wirtschaftsystems". Wie bei jedem neuen Trend wird da ein bisschen übertrieben, aber ein weiterer Anreiz für eine globale Strukturpolitik mit dem Einkaufskorb ist es allemal.
Hören oder lesen Lohas, dass ein Produkt nicht umweltschonend hergestellt und die Arbeiterinnen nicht anständig bezahlt werden, lassen sie die Ware links liegen. So durchorganisiert, wie die Warenbewirtschaftungskette heute ist, brauchen sie das gar nicht öffentlich zu verkünden, der Ladenchef und die Zentrale haben es bald auf dem Schirm. Wollen sie das Produkt wieder verkaufen und die werte Kundschaft nicht weiter verärgern, müssen sie nicht lange überlegen: Längst sind Standards in entsprechenden Vereinbarungen festgehalten wie zum Beispiel der Ethical Trading Initiative, der auch der Marktführer Tesco und die britische Wal-Mart Tochter Asda beigetreten sind.
Dabei geht es nicht nur um die eigene Umwelt, sondern auch um die Lebens- und vor allem die Arbeitsbedingungen in weit entfernten Ländern. Tesco hat sich mit Blick auf seine Äpfel und Birnen aus Südafrika schon 2005 harte Kritik von Action Aid über die Behandlung der Saisonarbeiterinnen auf den Obstplantagen anhören müssen. Gertruida Baartman, eine Arbeiterin vom Kap, hat sogar auf der Jahresversammlung von Tesco gesprochen. Der britische Marktführer sagte eine Verbesserung bei der Kontrolle der Arbeitsbedingungen zu. Action Aid wacht zusammen mit Women on Farms darüber, Projektpartner auch von "Brot für die Welt" und der "HeinrichBöll- Stiftung". In diesem Jahr hat Action Aid einen Bericht über die schlechte Behandlung und Bezahlung von Frauen in der Zulieferkette britischer Supermärkte vorgelegt.
Während Soziologen und Trendforscher die Lohas entdeckt und getauft haben, sind die Supermärkte nach Übersee gezogen und haben Millionen neue Kunden gefunden, den Einzelhandel in manchen Ländern regelrecht umgekrempelt. Und fast in jedem Land der Welt wachsen nun glitzernde Shopping Malls in den Himmel. Da verschieben sich wirklich Koordinaten. Wo Konsumenten, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft und Politik darüber diskutieren, werden die gleichen Argumente vorgebracht wie in Europa und den USA. Aber sie haben ein anderes Gewicht. Denn es geht bei dem ungeheuer schnellen Wandel der Handelsstrukturen in Afrika, Asien und Lateinamerika um wesentlich mehr als um den täglichen Einkauf. Wer die Ausbreitung der Malls und Märkte aus der Perspektive der hiesigen Konsum- und Konzernkritik bedauert oder beklagt, wird dem damit verbundenen Aufbruch nicht gerecht.
Das exponentielle Wachstum von Supermärkten und Shopping Malls ist ein Zeichen dafür, dass sich Millionen Menschen aus der Armut befreien konnten. Die hohen Wachstumsraten der Wirtschaft kommen ganz offensichtlich zumindest einem Teil der Bürgerinnen und Bürger zugute. Diese nach unseren Begriffen unteren Mittelschichten können sich in der ersten Generation etwas leisten und haben einen hohen Nachholbedarf an Konsumgütern. Zu der Freude daran und dem Stolz darauf gehört auch, in modernen Geschäften einzukaufen. Wer unter uns Mittelschichtkonsumbürgern wollte ihnen das verwehren?
Seien wir ehrlich: Teilhabe an der kapitalistischen Konsumkultur hat auch eine befriedende Wirkung. Manchmal sogar eine befreiende. Der südafrikanische Historiker Jonathan Hyslop vertritt gestützt auf Befragungen die These, dass die zunehmende Bereitschaft der weißen Südafrikaner, sich als globale Konsumenten zu verstehen, zum Ende der Apartheid beigetragen habe. Ihren life style zu erhalten war ihnen irgendwann wichtiger, als die Privilegien (und überkommenen Rigiditäten) der weißen Vorherrschaft zu verteidigen. Mit dem Einkaufen haben sie nebenbei das Klima für den Wandel geschaffen. They shopped into a revolution, so Margaret Crawford, Professorin für Stadtplanung an der Harvard Graduate School of Design. Und wenn man das Konsumverhalten der aufsteigenden black spending class beobachtet, ließe sich analog formulieren: They have traded the revolution for shopping, sie haben die Revolution fürs Einkaufen verscherbelt. Auch das kann man, ein wenig zynisch, als befriedende Wirkung des Konsums betrachten.
Nicht nur in Südafrika scheint der Bau von Shopping Malls mit einer Entwicklungsstrategie verwechselt zu werden (vgl. den Beitrag von Themba Hlengani). Und das ist fatal, denn der Strukturwandel im Einzelhandel kennt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer Bauern zum Beispiel und informelle Händlerinnen.
Den leidenschaftlichsten Streit darüber gibt es in Indien, wo der neuen Mittelschicht, die gerne in Supermärkten kauft und mit Vergnügen in Shopping Malls schlendert, Millionen kleine Händler, informelle Verkäufer und weiterhin bitterarme Bauern gegenüber stehen. Hindunationalisten möchten keine ausländischen Unternehmen im Land sehen, die Kommunisten treten als Anwalt der kleinen Leute und der kleinen Läden auf. Die Regierung hält die ausländischen Unternehmen weitgehend fern, während einheimische Konzerne Lebensmittelketten aus dem Boden stampfen. Als ein indisches Unternehmen im August für den Großhandelsbereich eine Partnerschaft mit Wal-Mart einging, gab es regelrecht schrille Töne: Vandana Shiva, immer gerne besserwissend vorneweg, sah einen "ökonomischen Tsunami" Indien unter sich begraben. So viel Bevormundung möchte man fast mit der ebenso aggressiven Arroganz von Wal-Marts Lee Scott und seinem Argument der niedrigeren Preise als Dienst am Kunden antworten.
aus: der überblick 03/2007, Seite 4
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer
ist Chefredakteurin des "überblick".