Katholische Charismatiker in den Philippinen
Innerhalb der katholischen Kirche der Philippinen hat sich in den jüngsten Jahrzehnten eine starke charismatische Bewegung gebildet. Hunderttausende Gläubige kommen in der Hauptstadt Manila zu Gottesdiensten auf öffentlichen Plätzen zusammen. Das Phänomen ist nicht auf Großstädte beschränkt und zieht sich durch alle soziale Schichten. Statt auf politische Veränderungen setzen die Bekehrten auf individuelle Erlösung.
von Christl Keßler
Nach einigem Suchen finde ich die Adresse: ein eher schäbig wirkendes zweistöckiges, großes Bürogebäude an einer stark befahrenen Kreuzung. Schon draußen auf der Eingangstreppe werde ich von freundlichen Menschen willkommen geheißen. Sie weisen mir den Weg in das zweite Stockwerk, wo die »Nächsten« stehen, die mich mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßen, Namensschilder an der Brust, die sie als Bruder Eddie und Schwester Gloria ausweisen. Das eigentliche Seminar hat noch nicht begonnen, als ich den Saal betrete, aber man bringt den Teilnehmern schon ein Lied bei, das später gesungen wird. Es wird nicht nur gesungen, sondern von Händeklatschen und dem Liedtext entsprechenden Bewegungen begleitet, die jetzt eingeübt werden als Vorbereitung auf das Seminar.
An diesem Freitagabend und dem folgenden Samstagmorgen werde ich eindringliche Predigten hören, in denen Menschen über ihre Erfahrungen mit dem Heiligen Geist und dessen Wirken in ihrem Leben berichten: die Geschichte eines ehemaligen Homosexuellen, dessen Bluthochdruck mit dem Tag seiner Bekehrung genauso verschwand wie seine gleichgeschlechtlichen Begierden. Dann bekundet ein Ehemann und Vater, vormals ein Raufbold, Trinker und Schürzenjäger, wie seine völlig zerrüttete Ehe durch die charismatische Erneuerung gerettet wurde.
Ich erfahre von der Liebe Gottes und den Problemen, die aus einem Gott fernen Leben erwachsen. Die Predigten werden unterbrochen durch Theatereinlagen der Loved Flock Laienspielgruppe und viel Gesang, begleitet von der eigenen Band.
Höhepunkt der Veranstaltung ist die Zeremonie der Geistestaufe am Sonntag. Hieran nehmen nicht nur die Seminarbesucher und -besucherinnen teil, sondern auch die Mitglieder der charismatischen Gemeinschaft, die dieses Seminar anbietet. Einige von ihnen, die »Vermittler« und die »Heiler« werden eine besondere Rolle während der Zeremonie spielen. Alle Teilnehmer werden intensiv auf die Geistestaufe vorbereitet, mit Lautübungen sollen wir uns für die Gabe des Zungenredens öffnen: »Öffnet den Mund, sprecht einfach sinnlose Zweisilbenwörter, immer wieder lalalala, dadadada so wie Babies, die sprechen lernen«. Eindringlich vermittelt die Predigerin die Bedeutung der Taufe im Heiligen Geist, die Notwendigkeit, sich für Gottes Wirken und Gegenwart zu öffnen, um die Gaben des Heiligen Geistes empfangen zu können. Das Zungenreden ist dabei besonders wichtig, da dies »die einzige Sprache« sei, die »Satan nicht versteht«.
Schließlich wird es dunkel im Saal. Die Vermittler, die das ganze Wochenende über gefastet haben, legen orange Jacken an und nehmen Aufstellung um die »Täuflinge«. Die Heiler an der grünen Jacke erkennbare Männer und Frauen halten sich noch im Hintergrund. Sanfte Musik setzt ein im Dämmerlicht, die Sprecherin auf der Bühne fordert alle auf die Augen zu schließen. »Jetzt möchte ich, dass du dir vorstellst, mit Jesus allein zu sein. Konzentriere dich auf sein Gesicht, komm ihm ganz nahe. Um Jesus zu empfangen, musst du bereuen, du hast keine Geheimnisse vor ihm, hab' keine Angst.«
Das Publikum spricht ihre Sätze nach, und bekennt, von nun an zu Jesus gehören und Sünde meiden zu wollen, bittet um Vergebung, verspricht das eigene Leben für Gott zu öffnen und Gottes Willen Folge zu leisten. Tempo und Intensität der Sprecherin steigern sich, während sie die einzelnen Sätze vorspricht. Diesen Ausrufen folgt schließlich ein gemeinsam gesprochenes Glaubensbekenntnis der katholischen Kirche, gefolgt von dem Bekenntnis, Jesus als persönlichen Herrn und Retter anzunehmen. Danach fordert die Predigerin alle auf, Jesus um Vergebung ihrer Sünden zu bitten, die Band intoniert Lord forgive me, die Musik wird immer lauter und intensiver, während die Predigerin auf der Bühne in steigendem Tempo immer lauter die Sünden benennt. An erster Stelle steht die Sünde, Gottes Namen zu entehren, gefolgt vom Versäumnis die Heilige Messe zu besuchen, den Eltern Respekt und Gehorsam zu verweigern, abzutreiben, eine Abtreibung zu versuchen oder bei einer Abtreibung behilflich zu sein.
Die Sündenaufzählung setzt sich fort und reicht vom Tratschen bis zum Urteil über andere Menschen. Nach dem Sündenbekenntnis folgt die spirituelle Versöhnung mit den Angehörigen: »Ich möchte, dass ihr euch euren Vater vorstellt. Vater, ich vergebe dir, dass du mir keine Zuwendung gezeigt hast. Ich vergebe dir, dass du mich gescholten und gemaßregelt hast, dass du mich nicht unterstützt hast, dass du meine Leistungen nicht anerkannt hast.« Auch den Müttern wird auf diese Weise vergeben, ebenso den Kindern, Geschwistern und Ehepartnern (»Ich vergebe dir, dass du mich nicht unterstützt hast, dass du mich nicht geliebt hast, dass du mir untreu warst«). Der Versöhnungspart endet mit der Aufforderung, sich die Person vorzustellen, die einen am tiefsten verletzt hat und ihr zu vergeben.
Glaubensbekenntnis, Sündenbekenntnis und Versöhnung bereiten vor auf die folgende Anrufung des Heiligen Geistes, in der die Musik sehr laut und eindringlich wird, die Predigerin immer wieder, mit der Musik schneller und lauter werdend, den Heiligen Geist anruft »Oh komm Heiliger Geist! Berühre sie! Fülle sie! Reinige sie!« um endlich alle aufzufordern in Zungen zu reden: »Öffnet den Mund, lalalal«. Jetzt treten auch die Menschen in den grünen Jacken in Aktion die Heiler und Heilerinnen gehen in die Reihen der »Täuflinge« und beten über jedem einzelnen. Die ganze Zeremonie ist ein einziges Crescendo von Musik, Vorbeterin und in Zungen sprechenden Täuflingen, einige weinen und schreien. Schließlich geht die Band über in ein harmonisches, eingängiges Lied, die Predigerin wird sanft und leise »Herr, ich danke dir für diese neu gefundene Beziehung zu dir, danke für meine Heilung, danke für deine Vergebung, ich liebe dich Herr, ich liebe dich Jesus!«
Im Anschluss an die Zeremonie werden die Täuflinge aufgefordert, Zeugnis abzulegen über ihre Erfahrungen. Einige gehen auf die Bühne, berichten von Empfindungen von Hitze, Wind, von Heilung und Frieden, eine spricht davon, wie ihr Jesus erschien. Schließlich werden die Ehepaare auf die Bühne gebeten, die Männer sollen sich hinter ihre Frauen stellen. Jeder Mann bekommt eine rote Rose, die Frauen werden angewiesen sich umzudrehen und ihre Ehemänner überreichen ihnen die Rose. Die Zeremonie der Geistestaufe wirkt noch nach, die Atmosphäre ist von intensiven Emotionen geprägt, aber die Stimmung ist entspannt. Zwischen den Ehepaaren auf der Bühne spielen sich tränenreiche Versöhnungen ab.
Die hier beschriebene Geistestaufe ereignete sich bei einem Life in the Spirit-Seminar der charismatischen Gemeinschaft Loved Flock in Manila, Philippinen. In Manila findet an fast jedem Wochenende ein solches Seminar statt. Der Besuch war Teil meiner Feldforschung, die Grundlage einer Studie über den religiösen Wandel auf den Philippinen war. Dabei ging es um die starke Zunahme der charismatischen Bewegung in dem Land.
Bei charismatischen Christen und Pfingstkirchen denkt man in der Regel an Bewegungen im protestantischen Teil der Christenheit. Katholische Charismatiker so etwas können sich viele Menschen kaum vorstellen. Aber auch bei katholischen Christen gibt es das Bedürfnis, wenn sie mit ihrer Kirche unzufrieden sind, ihre Gemeinden nicht zu verlassen, sondern sie durch pfingstlich orientierte religiöse Praxis zu erneuern und zu bereichern. Und in den Philippinen sind es vor allem Katholiken, die einem charismatischen Christentum anhängen.
Die charismatische Erneuerungsbewegung innerhalb der römisch-katholischen Kirche wird zurückgeführt auf eine Gruppe von katholischen Theologiestudenten und -studentinnen der Duquesne University in Pennsylvania. Sie hatten sich 1967 zu einem Gebetswochenende zurückgezogen, in dessen Verlauf sie das Wirken des Heiligen Geistes zu erfahren glaubten. Diese Gruppe wandte sich an Mitglieder protestantischer Pfingstkirchen, um ihre Erfahrungen zu deuten, und empfing von diesen die Taufe im Heiligen Geist.
Die Geistestaufe ist für charismatische Christen aller Konfessionen von zentraler Bedeutung. Sie bezeichnet eine spirituelle Erfahrung, die als Gefühl des Erfülltseins vom Heiligen Geist beschrieben wird, als direktes, persönliches und emotionales Erleben von der Präsenz und der Liebe Gottes. Üblicherweise empfangen Gläubige die biblischen Charismen wie die Gabe der Heilung oder des Zungenredens erst, nachdem sie die Erfahrung der Geistestaufe durchlaufen haben.
Die katholische charismatische Erneuerungsbewegung verbreitete sich in den USA schnell über die ursprünglichen universitären Kreise in Duquesne, Pennsylvania, und Ann Arbor, Michigan, hinaus. Auch Aufbau und Inhalt der oben beschriebenen Wochenendseminare gehen zurück auf die ersten studentischen Gruppen charismatischer Katholiken in Ann Arbor. Heute sind katholische Charismatiker überall auf der Welt zu finden: 14 Prozent aller Katholiken in Nordamerika gehören der charismatischen Bewegung an, 16 Prozent der Katholiken in Lateinamerika und 15 Prozent der Katholiken in Asien.
Im Jahr 2003 haben wir in den Philippinen landesweit 1200 Personen nach ihrer religiösen Praxis befragt. 15 Prozent aller befragten Katholiken gaben an, in der charismatischen Bewegung aktiv zu sein. Die beiden größten charismatischen Laiengruppen, Couples for Christ und El Shaddai haben nach eigenen Angaben zusammen etwa drei Millionen registrierte Mitglieder. Beide sind im ganzen Land präsent. El Shaddai hat überdies Gruppen in so gut wie allen Ländern, in denen sich philippinische Arbeitsmigranten aufhalten. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Bewegung Couples for Christ, die sich zu einer internationalen Organisation entwickelt hat und in 117 Ländern der Erde aktiv ist. Neben diesen beiden großen und bekannten Organisationen existieren unzählige kleinere Gruppen. Über 40 charismatische Gruppen sind allein im Dachverband der übergemeindlichen charismatischen Gemeinschaften im Großraum Manila organisiert. Hinzu kommen charismatische Gebetsgruppen in den Pfarrgemeinden und nicht zuletzt in großen Unternehmen.
Bilder von den Massengottesdiensten El Shaddai, in denen jedes Wochenende Millionen von Menschen in der Hauptstadt zum Gebet zusammenkommen, lassen leicht den Eindruck entstehen, charismatische Katholiken seien vorwiegend unter den schlecht bezahlten Dienstmädchen und Arbeitern der Großstadt zu finden. Aber dass in den Medien vor allem die Massengottesdienste von El Shaddai gezeigt werden, zu denen vorwiegend einfache Leute kommen, vermittelt einen falschen Eindruck von der charismatischen Bewegung in den Philippinen. Unseren Daten zufolge finden sich charismatische Katholiken nämlich in so gut wie allen gesellschaftlichen Schichten. Die charismatische Bewegung ist mit Sicherheit auch kein großstädtisches Phänomen: Im Großraum Manila ist der Anteil der Charismatiker unter den Katholiken im Vergleich zu anderen Regionen des Landes sogar am niedrigsten.
Die katholische charismatische Bewegung in den Philippinen ist weder ein Elitenphänomen noch eine Bewegung der Unterprivilegierten. Die Struktur der charismatischen Bewegung in den Philippinen spiegelt die gesellschaftlichen Unterschiede klar wider. Die ärmere Bevölkerung findet sich eher bei El Shaddai, die Mittelklasse bei Couples for Christ und die Elite in Organisationen wie der Brotherhood of Christian Businessmen and Professionals. In ihrer Vielfalt zeigen die unterschiedlichen Gemeinschaften jedoch, dass die charismatische Erneuerung offensichtlich für Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen attraktiv ist. Die Geistestaufe spielt dabei die zentrale Rolle.
Diese Zeremonie der Taufe im Heiligen Geist birgt die wesentlichen Momente charismatischer Religiosität. Die emotionale Basis des Glaubens wird betont: »Herr, ich liebe dich«. Im Zentrum steht die individuelle Beziehung zu einem sehr persönlichen Gott, die individuelle Entscheidung für diese Beziehung und die ganz eigene, emotionale, spirituelle Erfahrung. In den charismatischen Gottesdiensten, welche die meisten solcher Gemeinschaften wöchentlich abhalten, wird diese spirituelle Erfahrung durch eine eindrucksvolle Dramaturgie von Musik, Licht und Bewegung unterstützt.
Der liebende Jesus, zu dem man sich hier bekennt, ist kein entfernter Gott, sondern einer, der den Einzelnen in Situationen des Alltags unterstützt, leitet und führt. In vielen Interviews der Studie wird deutlich, dass charismatische Christen Gott als aktiv steuernde Kraft in ihrem Leben begreifen. Das nimmt zuweilen für Außenstehende etwas befremdliche Züge an: Da wird die Vermittlung eines Jobs durch die eigene Schwester zum göttlichen Wirken; und eine Mutter berichtet, dass Jesus ihrem Sohn bei einer Klassenarbeit erschienen sei und ihm bei der Lösung der Prüfungsaufgaben geholfen habe.
Charismatiker erleben den Alltag als durchdrungen von Gottes Präsenz. Aber auch Satan und Dämonen wirken in der Welt. Deshalb begeben sich zum Beispiel die Mitglieder der charismatischen Gemeinschaft, die als Heiler und spirituelle Vermittler an der geschilderten Geistestaufe teilgenommen haben, danach in einen Nebenraum, um die durch die Taufe heimatlos gewordenen bösen Geister zu vertreiben. Unter anderem geht es bei diesen Dämonen um Stolz, Faulheit, Drogenabhängigkeit, Rauchen, Trinken und ähnliches. Alle diese Laster so glauben sie sind Manifestationen von bösen Geistern und können deshalb auch mit Hilfe des Glaubens und durch Vertrauen in den Heiligen Geist überwunden werden.
Die Bedeutung von dämonischen und satanischen Mächten in der charismatischen Religiosität geht einher mit dem starken Empfinden charismatischer Katholiken, dass Gott und insbesondere der Heilige Geist hier und heute aktiv in der Welt wirken. Die offenkundige Unordnung, in der sich die Welt befindet, das eigene Leid sowie das Leid von Millionen anderer könne jedoch nicht auf das Handeln des liebenden Gottes zurückgehen. Dieses Leid erkläre sich durch den freien Willen des Menschen, der es ihm erlaube, sich gegen Gott zu entscheiden und damit die Macht des Bösen zu stärken.
Charismatische Prediger verbreiten meist eine einfache, manichäische Weltsicht des Lichts und der Finsternis: Es gibt den Weg Gottes, vorgezeichnet durch die Bibel und die Gebote der katholischen Kirche, und es gibt den Weg des Satans. Grautöne existieren nicht. Die charismatischen Gemeinschaften bieten den Gläubigen klare Orientierung, wie sie ihr alltägliches Leben zu führen haben. Das tut natürlich auch die katholische Kirche aber die Amtskirche ist sehr viel weniger in der Lage, den Gläubigen ein soziales Netz zu bieten, das sie bei der alltäglichen Umsetzung dieser Vorgaben unterstützt.
Der Fokus liegt dabei auf einer intakten Familie, wie in den oben geschilderten Szenen der Versöhnung zwischen den Ehepaaren oder der spirituellen Verzeihensübung deutlich wird. Dieser Schwerpunkt kommt nicht von ungefähr. In der Wahrnehmung der charismatischen Gemeinschaften gilt es, die Familie als tragende soziale Einheit der Kirche wie der Gesellschaft zu schützen.
Interessanterweise wird Familie in den charismatischen Predigten und Publikationen nicht als traditionelle Großfamilie und erweiterter Familienverband präsentiert, sondern meist als moderne Kleinfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Nach wie vor ist die Familie in den Philippinen eine der wichtigsten sozialen Institutionen, weil es keine funktionierenden staatlichen Sicherungssysteme gibt. Daher ist der familiäre Solidarverband die einzige Versicherung in Not- und Krisensituationen. In der charismatischen Bewegung scheint es aber weniger darum zu gehen, diese traditionelle Struktur zu bewahren, als darum, die modernere Variante der patriarchalen Kleinfamilie zu stabilisieren, in welcher der Mann die Familie ernährt, während die Frau für die Kinder und die häuslichen Angelegenheiten zuständig ist. Der Mann ist der Herr im Hause, der die Entscheidungen trifft. Frauen und Kinder haben im Zweifelsfalle zu gehorchen.
Allerdings ist der christliche Familienvater verpflichtet, seine Frau und Kinder zu achten, ihre Meinung anzuhören und ihre Interessen angemessen zu berücksichtigen. Das christliche Ideal des Familienvaters erklärt, warum dieses patriarchale Modell für Frauen attraktiv ist: Ehemänner und Familienväter stehen in der Pflicht, praktisch, finanziell und spirituell die Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen. In charismatischen Familien mögen die Frauen ihren Männern untergeordnet sein, aber sie können von ihren Männern Engagement für die Familie und respektvolle Behandlung als religiöse Pflicht einfordern.
Die Ursachen für den Erfolg der katholischen charismatischen Bewegung in den Philippinen sind vielfältig. Charismatische Gottesdienste und ihre Spiritualität sind lebendiger als die traditionelle Liturgie, in ihrer Dramaturgie moderner und im Einsatz von Musik, Tanz, Meditation, spontanem Gebet und aktiver Teilnahme der Gläubigen vielfältiger. Die katholische charismatische Bewegung ist in den mehrheitlich katholischen Philippinen auch deshalb attraktiv, weil man nicht mit den eigenen religiösen Wurzeln brechen muss und weiterhin der dominanten religiösen Gruppe angehören kann.
Charismatische Gemeinschaften so nehmen es die Gläubigen wahr bieten ihnen die Sicherheit einer gemeinsamen, religiös legitimierten Weltdeutung sowie emotionale und spirituelle Unterstützung. Charismatische Christen können sich zweifach geborgen fühlen: in ihrer Beziehung zu einem liebenden Gott und im sozialen Netzwerk ihrer charismatischen Gemeinschaft. Die Beziehung zu Gott ist für viele die emotionale Quelle der Kraft, mit der sie ihren oft schwierigen Alltag bewältigen. Die soziale Einbindung in die charismatische Gemeinschaft hingegen bedeutet oft eine wichtige Unterstützung in diesem Alltag und kann als Ersatz oder Ergänzung für das soziale Netz der erweiterten Familie und der Dorfgemeinschaft wirken.
Der charismatischen Bewegung wird häufig vorgeworfen, dass die Betonung der individuellen religiösen Erneuerung und Umkehr den Blick auf gesellschaftliche Strukturen als Ursache von Leid und Armut verstellt. Armut, so die Argumentation, darf nicht als individuelles, sondern muss als strukturelles Problem begriffen und bekämpft werden. So richtig der Verweis auf gesellschaftliche Strukturen ist, verkennt diese Kritik jedoch, dass christliche Lebensführung für den individuellen Gläubigen sehr wohl ein Weg aus der Armut sein kann. Wenn Männer beginnen, sich aktiv um den Lebensunterhalt der Familie zu bemühen, Frauen wie Männer kein Geld mehr für Glücksspiel, Zigaretten und Alkohol ausgeben und die Kinder zu fleißigem Lernen und Schulbesuch anhalten, kann das durchaus zu bescheidenem sozialen Aufstieg verhelfen.
Gegen die Hoffnung auf strukturelle Veränderungen in den Philippinen hingegen spricht die historische Erfahrung: Selbst die kollektive Anstrengung in der Peoples Revolution von 1986 führte nicht zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse, nachdem sie den Diktator Marcos gestürzt hatte. Die Attraktivität und der ermächtigende Aspekt individueller Lösungen, wie sie die charismatische Bewegung anbietet, muss auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden.
Es bleibt die Frage, welche gesellschaftlichen Wirkungen die katholische charismatische Bewegung mit ihrem Rückzug auf die individuelle Erneuerung hat. Die katholische Kirche ist in den Philippinen ein wichtiger politischer Akteur. Der damalige Erzbischof von Manila, Kardinal Sin, spielte eine zentrale Rolle beim Sturz von Marcos. Die Amtskirche sieht sich nach wie vor in der Pflicht, Demokratie und Menschenrechte zu schützen sowie als »Kirche der Armen« für deren Interessen zu sprechen. Sie verfügt über einigen Einfluss: Groß angelegte staatliche Programme zur Bevölkerungskontrolle scheitern immer wieder an der Opposition der Kirche.
Die katholische Kirche in den Philippinen ist kein monolithischer Block. Besonders zu der Frage, wie die Interessen der Armen am besten zu vertreten seien, gibt es unterschiedliche Ansichten. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen ist die charismatische Bewegung zu einem ernstzunehmenden Faktor geworden. Die Bedeutung der charismatischen Katholiken reicht über ihre Anzahl von 15 Prozent aller Gläubigen hinaus, da sie überproportional unter den Laien vertreten sind, die aktiv die katholische Kirche mitgestalten. Die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten der charismatischen Bewegung haben in den letzten Jahren zugenommen: Couples for Christ hat ein großes Wohnungsbauprogramm für Arme gestartet, andere Organisationen sind aktiv an Anti-Korruptionskampagnen und der Wahlüberwachung beteiligt. Das politische Engagement von Mike Velarde, Gründer und Leiter von El Shaddai, hat mehrfach für Aufruhr gesorgt, weil er sich mit seiner Unterstützung des ehemaligen Präsidenten Estrada in Opposition zur Amtskirche begeben hat. Dies ist allerdings die Ausnahme von der Regel. Im Allgemeinen stehen die charismatischen Gruppen zuverlässig hinter den politischen Anliegen der Amtskirche charismatische Katholiken betreiben zum Beispiel aktive Lobbyarbeit in der Familiengesetzgebung.
In ihren gesellschaftspolitischen Aktivitäten bleiben die charismatischen Katholiken ihrem Fokus auf individuelle Erneuerung treu. Dies heißt zum einen, dass sie aktiv gegen Korruption als individuelle Verfehlung vorgehen, es heißt aber auch, dass ihr Zugang zu Armutsbekämpfung eher paternalistische als gesellschaftskritische Züge trägt. Mit ihrem Kampf gegen Korruption könnten diese Gruppen durchaus einen Beitrag zur Demokratisierung leisten, ist doch die Korruption eines der größten Hindernisse für Rechtstaatlichkeit und Legitimität staatlichen Handelns. Ihr Ansatz der Armutsbekämpfung steht jedoch im Kontrast zu umfassenderen Entwicklungsansätzen, die in den letzten Jahrzehnten die kirchliche Entwicklungsarbeit geprägt haben.
Die charismatische Bewegung stärkt die konservativen Kräfte in der katholischen Kirche und damit auch die konservativen Kräfte in der Gesellschaft. Sie drängt nicht auf gesellschaftliche Veränderungen struktureller Art. Selbst die extrem ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums wird in charismatischen Kreisen in erster Linie als moralisches Problem gesehen, das nur durch die christliche Erneuerung der reichen Eliten zu lösen ist. Aber neben diesen, den Status quo festigenden Tendenzen hat die charismatische Bewegung auch ein großes Potential: Mit ihren moralischen Ansprüchen an Amtsträger und Bürger und ihrer Weigerung, Korruption, Amtsmissbrauch, Wahlfälschung und Stimmenkauf als unabänderlich anzusehen, kann sie zur weiteren Demokratisierung beitragen.
aus: der überblick 01/2005, Seite 20
AUTOR(EN):
Christl Keßler:
Christl Keßler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arnold Bergstraesser Institut für kulturwissenschaftliche Forschung in Freiburg. Sie hat in Kooperation mit dem »Institute of Philippine Culture, Ateneo de Manila University« in den Philippinen eine Studie über religiösen Wandel auf den Philippinen durchgeführt und dafür im Jahr 2003 dort mehrere Monate lang Feldforschung betrieben.