RENATE WILKE-LAUNER
Come on, Germany. Get real. Der freundschaftliche Klaps des amerikanischen Journalisten Marc Fisher1991 in der tageszeitung veröffentlicht, spiegelte wieder, was andere Einwanderungsländer von uns dachten. Eine große Koalition der traditionellen Parteien hielt, gestützt von weiten Teilen der Öffentlichkeit, damals noch eisern daran fest, dass "Deutschland kein Einwanderungsland" sei - mochten die Realität am Arbeitsplatz und im Straßenbild sowie die Aussagen der Fachleute in Wissenschaft und Sozialarbeit auch das Gegenteil beweisen. Eine der Folgen war, dass viele Menschen ins Asylverfahren drängten. Das wiederum führte zu einer hysterischen Diskussion um dieses vornehme Grundrecht und hatte zur Folge, dass ein Arbeitsverbot verhängt und Asylsuchende als Sozialhilfebetrüger verdächtigt wurden.
Die Zuwanderungskommission des Bundestages hat endlich den Satz ausgesprochen, der dieser Lebenslüge den Boden entzog: Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderer. Neben der Wirtschaft hatten zunehmend auch die Fachleute der Sozialversicherung darauf gedrängt. In diesem Jahr ist ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet worden. Es kommt zwar 20 Jahre zu spät und fällt hinter den Bericht der Zuwanderungskommission zurück, aber es dokumentiert, dass hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auch die CDU/CSU in der Hitze des Wahlkampfes - von Ausnahmen in der Schlussphase abgesehen - nicht der Versuchung erlegen ist, mit Anti-Einwanderungsparolen Stimmung zu machen. Sie hätte sich damit gegen den Konsens wichtiger Gruppen der Gesellschaft gestellt.
Mit dem Eingeständnis, dass Deutschland Einwanderer braucht, ist nun endlich der Weg frei für eine konstruktive Debatte über Integration. Sie ist nicht nur längst überfällig, sondern muss auch Versäumtes nachholen und bei den schon im Land lebenden Ausländern Vertrauen zurückgewinnen. Der Historiker Klaus J. Bade, der wie kaum ein anderer für ein sachgerechtes Migrationsverständnis gestritten hat, hat uns in der Welt vom 27. Juni diesen Jahres noch einmal vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen des nun notwendigen Dialogs sind: "Die einheimische Mehrheit hat kein Gedächtnis für eigene Versäumnisse in der Einwanderungssituation - beispielsweise bei der sozialen Ausgrenzung von 'Gastarbeitern', bei 'Ausländerpolitik' anstelle von 'Integrationspolitik', bei dem höflichen Vertreibungsdruck der 'Rückkehrprämien' Anfang der 80er Jahre oder bei den fremdenfeindlichen Exzessen der frühen 90er. Die Zuwandererbevölkerung hingegen wurde oder fühlte sich von solchen Versäumnissen nicht selten existentiell betroffen. Mitunter registrierte sie Versäumnisse erst im Dialog mit ihrer schon in Deutschland aufgewachsenen zweiten Generation." Ohne eine Aufarbeitung dieser Seite der Migrationserfahrung kann man von den Einwanderern kaum weitere Integrationsleistungen erwarten. Dass die Diskussion von deutscher Seite gleich mit einer "Leitkultur"-Vorstellung begann, hat ihr nicht gut getan.
Aber die Politik muss im Hinblick auf die Zuwanderer nicht nur die bisherige Ahnungs-und Verantwortungslosigkeit überwinden, sie muss auch mit Argumenten um die einheimische Mehrheit werben. Die scheint ihre eigenen Migrationserfahrungen verdrängt zu haben. Sind nicht aus der überforderten Alten Welt einst Millionen Bürger in die Neue Welt ausgewandert und haben dort mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik die Entwicklung mit befördert? Hat es nicht auch in Europa im vergangenen Jahrhundert unzählige Wanderungsbewegungen gegeben? Warum war Little Germany in einer amerikanischen Großstadt ein Stück Heimat, während türkische Viertel in Deutschland als Bedrohung empfunden werden? "Die Siedlungskolonien", schreibt Klaus J. Bade, "hatten eine Doppelfunktion im Einwanderungsprozess: Sie waren Selbsthilfegemeinschaften, Schutzräume gegen den aggressiven Assimilationsdruck der umschließenden Aufnahmegesellschaft und zugleich Kulturschleusen in einem steten Wandel. Er war bestimmt durch das fortwährende Einströmen neuer Kettenwanderungen und die stete Abgabe von früher Zugewanderten in einem Generationen übergreifenden Kultur-und Sozialprozess, in dem die Siedlungskolonien schließlich selbst verschwanden." Beschriebe man die bei uns drohend an die Wand gemalten "Parallelgesellschaften" so, würde ihre beachtliche Leistung deutlich werden. Der Zusammenhalt der jeweiligen Diaspora ist immer eines ihrer Erfolgsgeheimnisse gewesen.
Zur Erinnerung muss der Kampf gegen Vorurteile kommen, um den ebenso simplen wie falschen Vorstellungen entgegenzutreten, dass keine Migranten braucht, wer Arbeitslose hat. Zuwanderung kann in vielerlei Hinsicht von Vorteil sein. Gezielte Einwanderung bringt Wissen und Talent; das schafft neue Dynamik, die jede Wirtschaft braucht. Bestimmte Branchen - Bau, Landwirtschaft, Pflegeeinrichtungen, Tourismus - kommen in unserem Land längst nicht mehr ohne ausländische Arbeitskräfte aus. Wir können uns unsere Immobilität und unseren Lebensstandard nur leisten, weil Migranten bei uns arbeiten.
Der Verweis auf Tatbestände in der Wirtschaft und Zukunftsprojektionen allein wird dabei nicht ausreichen. Auch wenn die wirtschaftliche Bilanz der Migration insgesamt positiv ist, kann sie auf einzelne Gruppen, etwa gering Qualifizierte in schlecht bezahlten Tätigkeiten, nachteilige Auswirkungen haben. Die Ergebnisse wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchungen ergeben dazu kein einheitliches Bild, die Furcht vor "Billiglohnkonkurrenz" ist aber vorhanden und in einzelnen Fällen auch begründet. Vorzüge und Lasten der Einwanderung sind in der Gesellschaft ungleich verteilt - ein Aspekt, den die mit Arbeitskosten kalkulierende Wirtschaft und manch andere Einwanderungsbefürworter nicht ausreichend berücksichtigen oder nicht wahrhaben wollen.
In Deutschland klafft - wie in anderen europäischen Ländern auch - eine Lücke zwischen dem, was die Wirtschaft will, und was die Politik meint, der Bevölkerung zumuten zu können. Die Wirtschaft möchte sich nicht nur am internationalen Wettbewerb um hoch Qualifizierte beteiligen, sondern sie braucht auch Einwanderer für vergleichsweise schlecht bezahlte und unattraktive Arbeit im Dienstleistungssektor. Und die Wirtschaftswissenschaft unterscheidet kühl zwischen erwünschten, produktivitätsgeleiteten und unerwünschten, umverteilungsbedingten Wanderungen.
Der Niederländer Pieter C. Emmer (vgl. S.66) möchte die unbestreitbaren Fehlsteuerungen der europäischen Zuwanderungspolitiken ebenfalls durch "mehr Markt" ersetzen und schlägt zusätzlich vor, Zuwanderer für eine bestimmte Zeit von Sozialleistungen auszuschließen. Bereits 1991 argumentierte Marc Fisher in seinem Gastkommentar für die tageszeitung ebenso: "Deutschland hat keine Verpflichtung, jeder Person, der es gelingt, die Oder zu überqueren oder das Geld für den Flug nach Frankfurt zusammenzukratzen, Sozialhilfe zu zahlen. Aber so wie jede andere reiche Nation hat Deutschland die Verpflichtung, zumindest all jenen, die den Mumm und die Cleverness haben, dem grausamen Leben in vielen unterentwickelten Ländern zu entfliehen, unter die Arme zu greifen. Es gibt keinen Grund, den Einwanderern sofort die gleichen großzügigen Leistungen zukommen zu lassen wie jedem bundesdeutschen Steuerzahler. Lasst die Neuankömmlinge arbeiten. Lasst sie der deutschen Wirtschaft all jene Verbraucherdienste zufügen, die diese so verzweifelt braucht - die Obst-und Gemüsestände, die rund um die Uhr geöffneten Läden, die ethnischen Restaurants, die Haushaltshilfen. All diese schwierigen und manchmal niedrigen Arbeiten, die Ausländer verrichten, wenn sie ihr Leben in reichen Ländern beginnen."
Die jüngsten Wahlergebnisse in vielen europäischen Ländern zeigen, dass Zuwanderung ein sensibles Thema ist. Wie stark solche Empfindungen sind und wie viel Zustimmung eine restriktivere Aufnahmepolitik finden kann, demonstrieren gerade unsere freundlichen Nachbarn in Dänemark und den Niederlanden. Die Angst vor einer übermächtig werdenden Einwanderung ist aber keineswegs nur ein Problem Europas, Aversion und Übergriffe gegen Fremde gibt es fast überall auf der Welt. Auch im "neuen Südafrika" sind die Menschen vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit und hoher Erwartungen den ins Land strömenden Migranten aus dem Rest des Kontinents herzlich wenig zugetan.
Die Globalisierung zerstört viele Gewissheiten und Sicherheiten und verlangt den Menschen einiges, manchmal zu viel ab. Wer sich von Tempo und Ausmaß der Veränderungen überrollt fühlt, reagiert ängstlich und/oder aggressiv. Begriffe wie "Blut und Boden", "Territorium", "nationale Kultur" wirken da beruhigend. Von der Furcht vor dem Unbekannten bis zur Schaffung von Feindbildern ist es nur ein kleiner Schritt. Politiker, die diese Sorgen und Gefühle nicht aufgreifen und bearbeiten, sondern tabuisieren oder abkanzeln, überlassen den Populisten das Feld.
Das fällt vor allem im linken Spektrum schwer. Die Durchhalteparole "Deutschland ist kein Einwanderungsland" hat ja ein Spiegelbild in der Heilserwartung, die manche "antirassistische" Aktivisten an jeden zugezogenen Ausländer knüpfen. Für dieses gebrochene Nationalbewusstsein haben viele Zugewanderte übrigens herzlich wenig Verständnis. Zwar gibt es in der Argumentation von Einwanderungsgegnern unbestreitbar Rassismus, Vorurteile und Ignoranz, jede Menge sogar. Doch nicht jeder, der die Frage nach der Aufnahmekapazität einer Gesellschaft stellt, ist "Rassist". Es könnte der Integrationsdebatte helfen, wenn die Verfechter des "Multikulti" von ihrem hohen moralischen Ross herabstiegen und Andersdenkende nicht missachteten.
Auch wenn das Zuwanderungsgesetz zum Teil noch den alten Geist von Begrenzung und Gefahrenabwehr atmet, enthält es Bestimmungen zur Förderung der Eingliederung. Integration, die die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in unserem Land zum Ziel haben muss, kann nur ein zweiseitiger Prozess sein, der sowohl von den Einwanderern als auch von der Aufnahmegesellschaft Anpassung verlangt. Diese Aufgabe - ein langfristiger Auftrag an den gesamten Staat und die gesamte Gesellschaft - ist aber noch nicht einmal richtig verstanden, geschweige denn energisch angepackt worden. Für viele Menschen und manche Behörden scheint sich Integration auf Deutsch-und Orientierungskurse für Ausländer reduzieren zu lassen.
Die Parteien haben zwar der Versuchung widerstanden, im Wahlkampf gegen Einwanderer Stimmung zu machen; Reformkapital haben sie aber nicht aufgebaut. Das gilt zwar auch für fast alle anderen drängenden gesellschaftlichen Fragen, aber im Blick auf das Zusammenleben von Ureinwohnern mit drei Generationen von Zuwanderern ist es besonders schmerzlich. "Integration wagen" - das hätte ein bisschen Mut gekostet, aber In-und Ausländern Aufbruchstimmung vermitteln können.
Eine Ausnahme von der schlechten Regel ist der Bundespräsident. Er hat schon in seiner Antrittsrede im Mai 1999 deutlich gemacht, dass es für ihn nicht nur eine selbstverständliche Pflicht, sondern auch eine persönliche Verpflichtung sei, "Ansprechpartner für alle Menschen zu sein, die ohne einen deutschen Pass bei uns leben und arbeiten". In seiner Berliner Rede 2000 hat er darauf verwiesen, dass gelungene Integration Kräfte mobilisiert, die wir für eine gute Zukunft brauchen. "Wer zu uns kommt, ... soll wissen und fühlen, dass er dazu gehört", formulierte er im Januar 2001.
Entwicklungspolitische Aspekte haben in der Migrationsdiskussion in Deutschland bisher kaum eine Rolle gespielt. Immerhin haben die Kirchen in ihrer gemeinsamen Stellungnahme zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes auf die möglichen Auswirkungen für die Herkunftsstaaten hingewiesen. Dass ausländische Studienabsolventen nun in Deutschland bleiben dürfen, um zu arbeiten, könne zu einem so genannten brain drain führen: "Dies gilt auch beim Zuzug ausländischer Arbeitskräfte. Er sollte immer auch vor dem Hintergrund der ökonomischen und sozialen Entwicklung der Herkunftsländer betrachtet werden. Zur Erzielung eines beiderseitigen Vorteils aus den Wanderungsbewegungen sind gegebenenfalls entwicklungspolitische Maßnahmen angezeigt. Bei Engpässen auf dem Arbeitsmarkt in den Herkunftsländern sollte von einer Anwerbung abgesehen werden."
Was hier freundlich-diplomatisch angemahnt wird, hat der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) in gewohnter, aber in dieser Debatte bisher ungewöhnlichen Schärfe formuliert: "Wir sahnen die Qualifizierten der ärmeren Länder ab ... Wir sind gierig auf die Ausgebildeten. Wir lassen anderswo ausbilden. Das kostet uns nichts und schafft willige und billige Arbeitskräfte hierzulande. Unser schlechtes Gewissen beruhigen wir durch die Almosen für die Entwicklungshilfe ... Früher beuteten die Kolonialherren die Rohstoffe ihrer Kolonien aus, heute die Qualifizierung der ärmeren Länder. Früher wurden nur die Sklaven gekauft, wenn der Zustand ihres Gebisses zufriedenstellend war. Heute reicht ein Diplom. Das nenne ich 'zivilisatorischen Fortschritt'." (Süddeutsche Zeitung 21.3.2002).
Über brain drain wird in der Entwicklungswelt schon seit Anfang der sechziger Jahre diskutiert. Noch bevor Anwerbung von Fachkräften zum Thema in den Industrieländern wurde, haben Zehntausende Hochqualifizierte ihre Heimat verlassen, meist aus sehr verständlichen Gründen: weil Diktatoren und Despoten regierten, weil sie in ihrer Heimat keine Möglichkeit hatten oder sahen, in ihrem Beruf zu arbeiten, sich zu entfalten oder etwas Sinnvolles beizutragen. Der brain drain war oft auch eine Abstimmung mit den Füßen.
Die idealistischen Vorstellungen der Ausbildungshilfen vergebenden Entwicklungsinstitutionen, dass die frisch ausgebildeten Stipendiaten im Dienst ihres Heimatlandes Entwicklung fördern, sind oft genug an der harten Realität zerschellt. Versuche, die Abwanderung zu verhindern, zu regulieren oder ihre nachteiligen Effekte durch Besteuerung zu mildern, haben wenig Erfolg gehabt. Auch Investitionen in Bildung können nur dann fruchtbar werden, wenn gute Regierungsführung (good governance) dem jeweiligen Land Entwicklungsperspektiven eröffnet.
Was für das Individuum von Gewinn ist, kann für das Land ein Verlust sein. Zwischen 1985 und 1990 soll Afrika 60.000 professionals verloren haben, seither jedes Jahr weitere 20.000. Einer von drei afrikanischen Akademikern, so eine andere Schätzung, lebt außerhalb Afrikas. Wichtige Berufsgruppen haben besonders hohe brain drain-Verluste: Ingenieure, Lehrer, Krankenschwestern, ße. Verloren gehen den Herkunftsländer nicht nur die Ausbildungskosten, sie verlieren auch eine für die Entwicklung des Landes strategisch wichtige Gruppe: Der brain drain behindert das Entstehen einer Mittelschicht.
Was Afrika verliert, gewinnen zum Beispiel die USA. Nach deren Einwanderungsstatistik sind Migranten aus Afrika ziemlich gut qualifiziert. Die größten Gruppen kommen aus Ägypten, Ghana und Südafrika; 60 Prozent der Zuwanderer aus diesen drei Ländern verfügen über eine Hochschulausbildung. Dagegen kommen so gut wie keine Afrikaner in die USA, die nur eine Primarschulbildung haben. Setzt man Ausbildungskosten und Nutzen der Arbeitskraft in Relation, ist das eine für Afrika verheerende Bilanz und Norbert Blüms böse Worte wert.
Die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften erfolgt keineswegs immer so direkt von (sehr) arm zu (sehr) reich und ist keineswegs nur ein Fluss in eine Richtung von den Entwicklungsländern in die Industriestaaten. Manche Länder sind gleichzeitig Aus-und Zuwanderungsland. Sambische, kenianische und kubanische Ärzte beispielsweise zieht es nach Südafrika, während viele dortige Mediziner nach Großbritannien und Australien auswandern. Und von dort gehen wiederum Spezialisten in die USA.
Gute und erschwingliche Verkehrsverbindungen sowie die elektronische Kommunikation machen es möglich, dass aus der Migration eine dynamische Mobilität geworden ist. Ständiger Informationsaustausch und Pendelbewegungen haben dazu geführt, dass die Diskussion um brain drain durch die Begriffe brain gain und brain circulation ergänzt wurde. Der kluge Kopf, der in professionelle und soziale Netzwerke eingebunden ist, nützt dann Gast-und Heimatland.
Obwohl es immer noch einen erheblichen brain drain aus den armen und schlecht regierten Regionen gibt, kommt es auch zu Rückwanderungen, manchmal induziert und gefördert von transnationalen Unternehmen, die in ihren Auslandsniederlassungen Einheimische beschäftigen, die zuvor ausgewandert waren. Und schließlich haben es einige Länder, Südkorea zum Beispiel, verstanden, hoch qualifizierte Migranten zur Rückkehr zu bewegen, indem sie regelrechte Anwerbeprogramme aufgelegt, die Arbeitsbedingungen verbessert und gute Gehälter gezahlt haben.
Eine verantwortliche Migrationspolitik - das haben die Kirchen zu Recht angemahnt - sollte auch die Folgen für die Herkunftsländer im Blick haben und nicht mit der einen Hand geben (Ausbildungshilfe), was die andere wieder nimmt (Anwerbeprogramme). Wenn dann noch teure deutsche Entwicklungsfachkräfte fehlendes einheimisches Personal ersetzen müssen, wird die Sache wirtschaftlich vollends absurd, auch wenn das im Einzelfall angesichts einer in mancher Hinsicht absurden Welt sinnvoll und erfolgreich sein kann.
Entwicklungspolitiker fordern zu Recht immer wieder, dass einzelne Politiken wie Wirtschafts-, Agrar-und Entwicklungspolitik zusammenpassen müssen. Es ist an der Zeit, auch die Migrationspolitik dabei einzubeziehen. Das kann angesichts der noch kaum begonnenen Debatte über die Zusammenhänge zwischen Migration und Entwicklung nicht nur ein weiteres Mal "mehr Entwicklungshilfe" heißen. Die Frage muss vielmehr sein, wie sich die Entwicklungspolitik die Dynamik der Wanderung zunutze machen kann und wie Einwanderungs-und Hilfspolitik sich ergänzen können.
Migranten schicken Geld in ihre Heimatländer, viel Geld. Wie viel, lässt sich nur schwer abschätzen, da ein bedeutender Teil in Form von Waren und über informelle Kanäle transferiert wird. Im vergangenen Jahr sollen es mehr als 100 Milliarden US-Dollar gewesen sein. 60 Milliarden davon gehen in Entwicklungsländer. Damit liegt dieser Finanzstrom etwa 20 Prozent über dem Transfer der Entwicklungshilfe. Und während die Entwicklungshilfe stagniert oder sinkt, nehmen die Rücküberweisungen ständig zu. Sie sind zudem weit weniger konjunktur- und krisenanfällig als andere Finanzströme und damit für viele Staaten eine verlässliche Größe.
Wer die Entwicklungsdiskurse kennt, kann die Argumente gegen eine positive Bewertung dieser Geldtransfers mit Händen greifen: Es würden nur bestimmte Gruppen davon profitieren, zu viel würde in unproduktiven Konsum gesteckt, die Einkommensunterschiede würden weiter wachsen. Das ist zwar richtig, aber doch zu kurz gedacht. Dass Migranten in vielfältiger Weise zur Entwicklung ihrer Heimatregionen beitragen, zeigt in Entsenderegionen oft schon der bloße Augenschein: Man braucht sich nur die Häuser anzusehen, die sie dort bauen. Ganze Landstriche leben von den Transferzahlungen der in der Fremde arbeitenden Familienangehörigen. Neuere Erkenntnisse der Migrationsforschung deuten darauf hin, dass diese Finanzströme durchaus entwicklungsrelevant sind. Wenn die unmittelbaren Notlagen behoben sind, wird in die Verbesserung der Lebensbedingungen investiert. Und auf die Ausstattung mit Konsumgütern folgen oft produktive Investitionen, die Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Die Interamerikanische Entwicklungsbank sieht in den Rücküberweisungen der lateinamerikanischen Migranten (im Jahr 2001 wurden sie auf 23 Milliarden US-Dollar geschätzt) deshalb ein Instrument zur Armutsbekämpfung.
Zu den finanziellen Transfers kommen noch andere Leistungen der Diaspora: Sie werben für ihr Land, sie mobilisieren in Krisenzeiten Nothilfe, und entfalten eigene Entwicklungshilfeaktivitäten, etwa über hometown associations, Vereine zur Unterstützung ihres Herkunftsortes. Auf diese Weise werden zum Beispiel Krankenstationen und Schulen eingerichtet und unterstützt. Solche Hilfe setzt voraus, dass die Migranten Vertrauen haben, dass ihr hart erarbeitetes Geld nicht von den Behörden entwendet oder verschwendet wird. Statt vergeblich zu versuchen, Migrantengelder abzuschöpfen, sind deshalb manche Kommunen dazu übergegangen, diese Aktivitäten zu ergänzen und zu verstärken. Viele Regierungen haben die Bedeutung der Diaspora erkannt und suchen sie für Entwicklungsaufgaben zu mobilisieren. Indien hat, zum ersten Mal in seiner Geschichte, für den 9. bis 11. Januar 2003 die 20 Millionen Personen starke Diaspora über Zeitungsanzeigen zur Teilnahme an einer Großveranstaltung nach Neu Delhi eingeladen.
Die Wanderungsbewegungen entwicklungspolitisch sinnvoll zu nutzen, könnte gute Erfolge mit sich bringen. So hat man ermittelt, dass hoch qualifizierte Migranten dem Entsendeland dann den größten Nutzen bringen, wenn die Abwesenheit etwa 10 bis 15 Jahre beträgt, regelmäßig Geld überwiesen wird und die rückkehrende Person sowohl Kapital als auch neue Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringt. Good governance im Norden wie im Süden könnte Anreize setzen, sich so zu verhalten. Die französische Kooperation mit Mali (vgl. S.18) ist ein gutes Beispiel für den Einklang zwischen Migrations-und Entwicklungspolitik.
Mit Recht wurde im September diesen Jahres in Johannesburg (vgl. S.114) erneut angeprangert, dass die Landwirtschafts-und Handelspolitik des reichen Nordens den armen Ländern mehr Chancen auf Einkommenserzielung nehmen als die gesamten Entwicklungshilfeleistungen ihnen geben. Mit der Beschränkung der Zuwanderung verhält es sich möglicherweise ähnlich. Der amerikanische Ökonom Dani Rodrik meint, dass schon eine leichte Liberalisierung der Migrationspolitik mehr Ertrag für die Dritte Welt erbringen könnte als die gesamte Entwicklungshilfe.
Bei den Diskussionen um eine Welthandelsordnung haben die Entwicklungsländer und -politiker ihren Hut in den Ring geworfen. Sie sollten es auch in der Migrationsdebatte tun und sich nicht davon schrecken lassen, dass die klassische Entwicklungshilfe dadurch möglicherweise weiter in den Hintergrund tritt. Der Brite Nigel Harris liegt nicht so falsch, wenn er Migrationseinkommen und Entwicklungshilfe vergleichend so gewichtet: " ... machen wir uns nichts vor: Hilfe wird niemals an das heranreichen, was heute oder in Zukunft durch Migration erwirtschaftet wird. Und sie ist auch nicht von Haus aus überlegen: Als jemand, der einen großen Teil seines Lebens in der Entwicklungshilfe gearbeitet hat, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sie sowohl Geber als auch Empfänger korrumpiert. Es ist viel besser, wenn Menschen aus Entwicklungsländern die Chance erhalten, in entwickelten Staaten zu arbeiten."
Migration hat in der Menschheitsgeschichte eigentlich immer mit Entwicklung zu tun gehabt. Aus-und Einwanderung wurden im 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowohl in den Herkunfts-als auch in den Zielländern als entwicklungsfördernd angesehen. Erst in den vergangenen Jahrzehnten haben Menschen und Politiker in den reichen Ländern begonnen, Zuwanderung aus ärmeren Regionen als Bürde oder Schreckensvision zu definieren, die es abzuwehren gilt.
Migranten haben zu allen Zeiten ihre eigenen Bewertungskriterien für die Attraktivität der Zielländer entwickelt. Und bei den derzeit so begehrten hoch Qualifizierten schneidet Deutschland nicht besonders gut ab: Inder oder auch Weißrussen haben in der Green-Card-Diskussion sehr detailliert erläutert, warum es für sie nicht attraktiv ist, in Deutschland zu arbeiten. Das war hierzulande sicher für manchen selbstgefälligen Ureinwohner schwer zu verkraften. Doch auch hier enthüllt der Blick von außen sehr viel Wahrheit über unser derzeit wenig reformfreudiges Land. Come on, Germany. Get real.