von Renate Wilke-Launer
Was hat die Rangelei um die Kanzlerschaft mit der Entwicklungspolitik zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel, auf den zweiten aber doch. Denn bei der Besetzung des Leitungsamtes im BMZ geht es in Koalitionsregierungen immer auch um den Parteiproporz. Manche meinen sogar, der Fortbestand eines eigenständigen Ministeriums sei überhaupt der Innenpolitik geschuldet. Und wie hoch wird der Etat ausfallen, wenn an vielen Stellen gespart werden soll, wenn ein blauer Brief aus Brüssel ins Haus steht und gleichzeitig die europäischen (Barcelona-)Beschlüsse von 2002 zur Erhöhung des Anteils der Entwicklungsausgaben am Gesamtbudget eingehalten werden sollen?
So viel scheint sicher: Eine aufsehenerregende Aufstockung oder eine gewisse Aufbruchstimmung wird es nicht geben. Keine Ankündigung, die Entwicklungsausgaben um elf Prozent jährlich erhöhen zu wollen, wie Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in seiner Regierungserklärung betont hatte. Der Kanzler bezog sich dabei auf den Bericht der Pearson-Kommission, den ersten Report zur internationalen Entwicklungspolitik, dem viele weitere folgen sollten. Einer der wichtigsten ist mit dem Namen von Brandt selbst verbunden.
Was das für eine Zeit war, zeigt ein Blick in den nach dem ehemaligen kanadischen Premierminister Lester B. Pearson benannten Bericht. Die deutsche Übersetzung ist als Hardcover-Buch im Verlag Molden erschienen, das Impressum weist als Auflage 1.-10. Tausend aus. Von einem Übersetzungs- oder Druckkostenzuschuss ist nirgends die Rede, nirgendwo sind Logos von Entwicklungsorganisationen, hier scheint ein Verleger im Vertrauen auf die Sache am Werk gewesen zu sein.
Das relativ kleine Team, das den Bericht erarbeitet hat, bestand aus sieben älteren Herren, unter ihnen Dr. Wilfried Guth vom Vorstand der Deutschen Bank. Die Dritte Welt war durch einen Brasilianer und einen Jamaikaner vertreten. Klein, aber fein hätte man früher dazu gesagt, heute ginge das nicht ohne einen Proporz der Weltregionen und nein, keine angemessene weibliche Präsenz, aber doch ein paar Vorzeigefrauen. Dass die Berichte dadurch besser würden, sollte man nicht leichtfertig behaupten.
Lassen Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis raten, von wann diese Sätze sind: »Die immer größer werdende Kluft zwischen Industrieund Entwicklungsländern ist zu einem zentralen Problem unserer Zeit geworden ... Viele Entwicklungsländer weisen ein rascheres Wirtschaftswachstum auf, als es die Industrieländer in einer vergleichbaren Phase ihrer Geschichte jemals erreichten ... In letzter Zeit ist jedoch ein Nachlassen der internationalen Entwicklungsanstrengungen zu beobachten. In einigen Industriestaaten hat man ihre Erfolgsaussichten, ja sogar ihren Sinn selbst in Frage gestellt. Auslandshilfsprogramme sind heute von einer Atmosphäre der Enttäuschung und des Misstrauens umgeben. Wenn das auch nicht für alle Länder gilt in manchen trifft sogar das Gegenteil zu so ist die Entwicklungshilfe doch in eine akute Krise geraten.«
Wenn man von der bald zu Recht attackierten Charakterisierung unseres Entwicklungsstandes als »Industrieland« absieht, sind diese Sätze, ist diese Bilanz der ersten Entwicklungsdekade unvermindert aktuell. Und das ist eine Generation und viele Anstrengungen und Kommissionen später doch eine düstere Erkenntnis. Wohl deshalb spricht heute niemand vom fünften Entwicklungsjahrzehnt.
Immerhin: In den Wahlkampf wurden unverdrossen auch entwicklungspolitische Argumente eingebracht, unter anderem von »Brot für die Welt« und dem »Evangelischen Entwicklungsdienst «. Dabei ging es auch um das 0,7-Prozent-Ziel, diese unverwüstliche Leitgröße für ein als angemessen erachtetes Entwicklungsengagement. So viel soll der Anteil der öffentlichen Hilfe am Bruttosozialprodukt (BSP) eines Landes ausmachen. 0,7 Prozent sind die Messlatte für Großzügigkeit (etwa der skandinavischen Staaten, die dieser Vorgabe entsprechen) auf der einen und für Geiz (insbesondere der USA und Japans, die nur sehr niedrige Prozentsätze erreichen) auf der anderen Seite. Und sie sind ein Symbol für Gerechtigkeit in den (Tarif-)Verhandlungen zwischen Nord und Süd. Wenn nur endlich dieser Prozentsatz erreicht würde, so die Annahme, dann gäbe es weniger Not auf der Welt.
Wer sich für die Entstehung dieses Ziels interessiert, wird meist auf die siebziger Jahre verwiesen, wer nach der Verbindlichkeit fragt, auf die UN. Tatsächlich hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 19. November 1970 (ohne Abstimmung) eine Resolution (2626) verabschiedet, in der von 0,7 Prozent vom Bruttosozialprodukt die Rede ist. Von einer Verpflichtung der ökonomisch fortgeschrittenen Staaten steht dort allerdings nichts, nur von größtmöglichen Anstrengungen.
Die Frage, wie diese Richtgröße entstanden ist, führt wieder zum Pearson- Report. »Jedes Industrieland sollte seine Mitteltransfers an Länder mit niedrigem Einkommen so rasch wie möglich, und in keinem Fall später als 1975, auf ein Minimum von 1 Prozent seines Bruttosozialprodukts steigern. Jedes Industrieland sollte seine Zusagen auf offizielle Entwicklungshilfe auf ein Niveau anheben, das Nettoauszahlungen in der Höhe von 0,7 Prozent seines BSP bis 1975 oder kurz darauf, keinesfalls aber später als 1980 ermöglicht.« So schnell sollte das also gehen tatsächlich aber haben sich viele Staaten seither eher von diesem Ziel entfernt. Willy Brandts 11 Prozent aber entsprachen fast dem von der Kommission für unser Land errechneten Steigerungsrate von 11,7 Prozent.
Die Männer um Lester Pearson haben in ihrem Bericht auch auf 5 der überblick 3/2005 die Geschichte ihrer Empfehlung hingewiesen: »Diese Zielgröße ... wurde 1958 erstmals in die internationale Debatte geworfen, und zwar von einer vom Weltkirchenrat angenommenen und allen Delegationen der Vereinten Nationen übermittelten Resolution, die besagte, dass die internationale Lage weitaus hoffnungsvoller aussehen würde, wenn die beisteuernden Länder zumindestens 1 Prozent ihres Volkseinkommens für Zuschüsse und niedrig verzinste Darlehen abzweigen könnten. 1960 nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine diesbezügliche Resolution an.« Diese Vorgabe lag übrigens relativ nahe an den damals geleisteten 0,83 Prozent. Da im 1-Prozent-Ziel auch private Kapitaltransfers enthalten waren, ergänzte die Kommission ihre Empfehlungen um eine zweite Leitlinie, eben jenes 0,7-Prozent-Ziel.
Die allerersten Überlegungen zu dieser Frage liegen nun genau fünfzig Jahre zurück. Darauf hat in diesen Tagen das Center for Global Development in Washington hingewiesen. Dessen Präsidentin, Nancy Birdsall, wird im Bericht der Pearson-Kommission unter deren Forschungsberatern aufgeführt. In ihrer Studie* verweisen Michael A. Clemens und Todd J. Moss ebenfalls auf den Ökumenischen Rat der Kirchen, eine »in Genf ansässige Organisation, die seit 1948 die Kooperation zwischen verschiedenen christlichen Sekten gefördert hat«. Wer nach dieser sagen wir: sektiererischen Charakterisierung des ÖRK nicht die weitere Lust an der Lektüre verloren hat, findet auf der nächsten Seite einen Hinweis auf die Sitzung des ÖRK-Zentralausschusses in Davos im Jahr 1955. Der hatte sich damals intensiv mit der Vorbereitung einer Studie zur christlichen Verantwortung gegenüber »Gebieten schnellen gesellschaftlichen Wandels« beschäftigt. Professor Egbert de Vries er hat maßgeblich an den damaligen Diskussionen mitgewirkt hatte geltend gemacht, dass Spenden allein die Not in der Welt nicht lindern könnten, sondern ein substantieller Kapitaltransfer von der reichen in die arme Welt nötig sei. Drei Jahre später auf diese Sitzung bezieht sich der Pearson-Bericht hat der Zentralausschuss im dänischen Nyborg eine Erklärung verabschiedet, nach der mindestens ein Prozent des Nationaleinkommens für Hilfe aufgewendet werden sollte.
In die gleiche Richtung gingen Berechnungen von zwei Chefökonomen der Weltbank Paul Rosenstein-Rodan und Hollis Chenery über den Kapitalbedarf der armen Länder, der ebenfalls etwa 1 Prozent des Einkommens der reichen Staaten ausmachte. Im Rahmen der ersten und zweiten UN-Konferenz über Handel und Entwicklung (UNCTAD) 1964 und 1968 gab es dann erstmals Überlegungen, dass die öffentliche Hilfe zwei Drittel bis drei Viertel des Kapitalflusses betragen sollte. Den Formulierungen nach zu urteilen bestand darüber aber offenbar kein Konsens. »Die Hilfsindustrie wollte mehr«, urteilen Clemens/Moss rückblickend. Es waren zwei Präsidenten der Weltbank George Woods und Robert McNamara die die Pearson-Kommission anregten und einsetzten, die dann die 0,7-Prozent-Empfehlung formulierte.
Das 0,7-Prozent Ziel ist erstaunlich langlebig und, was seine Befürworter angeht, quicklebendig. Das liegt ganz einfach daran, dass es weiter himmelschreiende Not und Menschen gibt, die das nicht hinnehmen wollen. Die entwicklungspolitischen nichtstaatlichen Organisationen, in jüngster Zeit durch Pop-Größen medial verstärkt, haben den Druck auf die Politiker, die ihrerseits entsprechende Inszenierungen für ihr Image nutzen, in der letzten Zeit noch verstärken können. Erstmals haben sich 2005 einige Länder dazu verpflichtet, dieses Ziel auch wirklich zu erreichen, und sich nicht nur, wie in so vielen UN-Konferenzen formuliert, darum zu bemühen.
Der Optimismus der Väter des 0,7-Prozent-Beschlusses hat etwas Ansteckendes. Wie kann man diese Leidenschaft erhalten und gleichzeitig nüchtern Lehren aus den Erfahrungen von 50 Jahren Entwicklungspolitik ziehen? Wie können Ziele mitreißend und gleichzeitig realistisch sein? Lässt man Revue passieren, welche Aufgaben die internationale Gemeinschaft sich schon gestellt und anschließend verfehlt hat, erscheinen die allermeisten der feierlich verkündeten Ziele doch eher als Großspurigkeit.
Verwenden wir in unserem Aktionismus auch Gedanken darauf, welche Enttäuschungen damit verbunden sein können? Franz Nuscheler, einer der profiliertesten deutschen Entwicklungsexperten, hat in der Wochenzeitung »Die Zeit« vom 15. September vor den »uneinlösbaren Versprechen« der Entwicklungspolitik gewarnt. Und eine Woche zuvor hatte Petra Pinzler, auch sie seit vielen Jahren mit Entwicklungspolitik vertraut, in der Zeit-Rubrik »Argument « von der »Machbarkeitsfalle« geschrieben. Dieser kritische Vorbehalt muss, allem wichtigen Engagement zum Trotz, auch gegenüber dem 0,7-Prozentziel gelten.
Nein, über die Zukunft Afrikas wird nicht auf Rockkonzerten entschieden. Ebensowenig bei den Koalitionsverhandlungen. Ob dort Bedingungen vorhanden sind, unter denen Hilfe wirken kann, das entscheidet sich in Afrika. Und es ist, seien wir ehrlich, nur sehr begrenzt davon abhängig, welchen Prozentsatz wir für Entwicklungspolitik aufzuwenden bereit sind. Wir können unsere Regierung, gemeinsam mit dem Parlament, lediglich dazu zu bewegen suchen, möglichst häufig an den richtigen Stellen die richtige Unterstützung zu gewähren: mal zugeknöpft und mal großzügig, aber immer gut begründet.
aus: der überblick 03/2005, Seite 4
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer