RENATE WILKE-LAUNER
Die Kriminalität in Ländern der Dritten Welt ist für viele entwicklungspolitisch Engagierte schnell erklärt. In Gesellschaften mit extrem ungleicher Einkommensverteilung, in denen nackte Not und verantwortungsloser Reichtum nebeneinander existieren, gilt sie als unvermeidbar. Man sieht darin eine Art Mundraub, den die Beraubten selbst zu verantworten haben. Wenn die Reichen sich nicht hinter ihren Gittern verschanzen, sondern den Reichtum endlich mit ihren Landsleuten teilten, würde sich das Problem von selbst erledigen.
Das scheint plausibel und ist, weil mit viel Engagement für die Armen und Ausgegrenzten vorgetragen, durchaus sympathisch. Und doch ist diese Sichtweise auf eine fatale Weise falsch. Sie verkennt Ausmaß und Art der Kriminalität, sie romantisiert als notwendige Umverteilung, was eine Minderheit von (oft gewalttätigen) Tätern sich nimmt, und sie missachtet die Opfer dieser Verbrechen. Wenn aber die Diagnose und die moralische Bewertung falsch sind, dann ist auch die Therapie nicht zu empfehlen.
Nehmen wir als Beispiel Südafrika. Das "neue Südafrika", von aller Welt mit Sympathie begleitet und wegen seiner Versöhnungspolitik gefeiert, leidet in einem ganz wörtlichen Sinne unter der hohen Kriminalität. Jeden Tag werden neue, schwere Straftaten gemeldet, viele Menschen leben in ständiger Furcht. Wer es sich leisten kann, sichert sein Haus mit Hunden, hohen Mauern und Sicherheitsanlagen. Schlimmer noch: Schilder warnen vor Armed Response (bewaffneter Reaktion) durch private Sicherheitsdienste. Viele Bürger fordern härtere Strafen, eine Mehrheit möchte die gerade erst abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt sehen.
Erschreckend ist vor allem das Ausmaß von Gewalt und Brutalität. Im Jahr 2000 wurden in Südafrika 21.000 Menschen umgebracht. Bei Vergewaltigungen, die ja häufig genug gar nicht angezeigt werden, liegt Südafrika ebenfalls mit an der Weltspitze. Die Kinderschutzabteilung der Polizei zählte von Januar bis Juni 2001 nicht weniger als 10.242 Fälle von Vergewaltigungen von Kindern und berichtet von immer jüngeren Opfern und immer jüngeren Tätern. In den letzten Wochen haben wiederholt Berichte über Vergewaltigungen von Säuglingen die Öffentlichkeit aufgeschreckt.
Wer nach Erklärungen für diese Gewalt sucht, muss sich mit den Männern und ihrem Selbstbild beschäftigen.Verschiedene Gruppen haben jeweils ein ganz spezifisches Bild von sich und "ihren" Frauen entwickelt.
Die politische Macht lag lange bei afrikaans-sprachigen weißen Männern, die autoritär herrschten, keine Selbstzweifel kannten und auf Bedrohung mit Gewalt reagierten. Ihr Selbstverständnis wurde über Schulbildung, Militär, Kirche und Institutionen wie den Broederbond immer wieder reproduziert. Dass der Mann Beschützer und Ernährer ist und den richtigen Weg weist, war in dieser Bevölkerungsgruppe nie umstritten. Ihr wirtschaftlicher Aufstieg nach 1948 hat später materielle Werte hinzu- und teilweise in den Vordergrund treten lassen, doch insbesondere die ärmeren weißen Afrikaaner halten an den alten Wertvorstellungen fest.
Alle schwarzen Männer wurden durch die Apartheidpolitik politisch entmündigt und in ein System gepresst, das es ihnen schwer, manchmal unmöglich machte, sich als Beschützer und Ernährer ihrer Familie zu fühlen. Sie mussten sich deshalb auf andere Weise Respekt verschaffen. Minenarbeiter etwa entwickelten unter den schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen das Bild von "starken" Männern, zu dem auch eine starke Sexualität gehörte: Going underground and going after women (in die Grube herab- und den Frauen nachsteigen), hat einer von ihnen das treffend beschrieben.
Der Widerstand gegen die Apartheid hat nach 1976 in den schwarzen townships die Gruppe der comrades hervorgebracht, Jugendliche, die das Apartheidregime bekämpften, sich als Helden sahen und auch so angesehen wurden. Da "das System" keine Legitimität hatte, galt ihr "Gesetz". Unter der progressiven Rhetorik gediehen Selbstüberschätzung und Selbstherrlichkeit. Wer ein Held war, hatte auch Anspruch auf Frauen. Wenn die Bewunderung nicht freiwillig erfolgte, ließ sie sich auch erzwingen.
Die Ablösung der alten Ordnung hatte für das männliche Selbstverständnis gravierende Folgen. Die bisher tonangebenden weißen Herren mussten verkraften, dass die Regierung von den Schwarzen "übernommen" wurde und in der Wirtschaft Schwarze bevorzugt eingestellt und befördert werden. Die schwarzen Männer durften nun endlich wählen und waren nicht länger von diskrimierenden Gesetzen bedroht, doch die übrigen Hoffnungen erfüllten sich für die meisten nicht: An den wirtschaftlichen Strukturen hat sich wenig geändert. Gleichzeitig ist mit HIV/AIDS eine Bedrohung aufgetaucht, die das männliche Sexualverhalten, für viele eine Quelle des Selbstbewusstseins, generell in Frage stellt.
Die verschiedenen Gruppen haben unterschiedlich auf den Wandel reagiert. Ein Teil der Weißen hat sich in seine wirtschaftlich komfortable Welt zurückgezogen. Doch durch die hohe Gewaltkriminalität können sie ihre Rolle als Beschützer nicht mehr erfüllen. Die fehlende Sicherheit ist einer der Hauptgründe für die Auswanderung weißer Fachkräfte. Ein anderer, ärmerer Teil der weißen Männer, insbesondere Mitglieder des Militärs und der Polizei, sind in die privaten Sicherheitsdienste gewechselt, die eine ebenso ausgeprägte Macho-Kultur haben. Da verteidigen sie erneut "Recht und Ordnung" gegen die swarte Gevaar.
Die Sicherheitskräfte stehen häufig den township-Jugendlichen gegenüber, die einst das alte Regime mit zum Einsturz gebracht haben. Die Helden von damals sind die Schurken von heute. Sie sind die eigentlichen Verlierer des Wandels. Ohne Schulbildung, nur im Umgang mit Gewalt erfahren, haben sie und ihre ebenfalls arbeitslosen Nachfolger keine Möglichkeit, zu den begehrten Konsumgütern zu kommen, die ihnen Status verleihen: teure Autos, schicke Kleidung und Schmuck für ihre Freundinnen. Sie schaffen sich deshalb eine Welt, in der ihr "Gesetz" gilt. Die gangs beschlagnahmen, was sie wollen, und vergewaltigen, wen sie wollen, häufig sogar in der Gruppe. Ihre "Ordnung" beinhaltet ein rigides Verständnis der Geschlechterrollen. Ein richtiger Mann hat danach neben der Hauptfreundin möglichst viele Sexualpartnerinnen, während von der Freundin erwartet wird, zu Hause auf seine Besuche zu warten. Wer gegen diese Ordnung verstößt, muss mit Gewalt rechnen.
Das Apartheidregime, das zeigen diese Schlaglichter, hat nicht nur Täter und Opfer hervorgebracht, sondern auch viele Versehrte hinterlassen. Deshalb wird das Land, das mit dem Abschluss der Arbeit der Wahrheitskommission seine Vergangenheit bewältigt glaubte, durch die Kriminalität täglich neu mit seiner gewalttätigen Geschichte konfrontiert.
Die hohe Kriminalität fordert nicht nur unzählige Opfer und führt zu schweren Traumata, sie verursacht auch hohe direkte Kosten und schädigt das Land wirtschaftlich. Der brain drain dringend benötigter Fachkräfte und die besorgten Reaktionen ausländischer Investoren behindern die Entwicklung. Nimmt man noch die Bedrohung durch HIV/AIDS hinzu, wird deutlich, wie gefährdet das Land ist.
Das wiegt um so schwerer, als sich die Menschen Südafrikas eigentlich einander öffnen und annähern müssten. Wenn aber Furcht regiert, dann werden eher alte Feindbilder bestätigt und neue geschaffen. Nach einer Untersuchung des Institutes für Sicherheitsstudien leben 44 Prozent der Südafrikaner ständig in Angst. Der Psychiater Ike Nzo, einziger Sohn des langjährigen ANC-Generalsekretärs Alfred Nzo, hat seinen Landsleuten in einem Aufsehen erregenden Zeitungsartikel auf die emotionalen Folgen der Gewalt aufmerksam gemacht: "Kriminelle werden dieses Land weit mehr kosten als die Apartheid".
Die Regierung tut sich schwer mit der Kriminalität. Manchmal erscheint es so, als fühle sie sich, ähnlich wie im Fall von HIV/AIDS, zu Unrecht und zur Unzeit von diesen Geißeln getroffen, hat sie doch gerade erst nach langem Kampf die Macht übernommen und möchte jetzt die Früchte des Erfolges ernten. Dabei braucht das Land eines besonders dringlich, wenn es der Gewalt Herr werden will: eine glaubwürdige Regierung und eine effektive Verwaltung. Nur eine saubere Regierung und eine den Menschen dienende Verwaltung wird den Schwarzen überzeugend vermitteln können, dass nicht alle ihre Erwartungen zu erfüllen sind, und den Weißen eine Solidaritätsabgabe abverlangen können, ohne dass wichtige Gruppen das Land verlassen. Doch leider gibt es Anzeichen dafür, dass black empowerment lediglich eine Minderheit begünstigt, während sich für die Mehrheit nicht viel geändert hat.
Im Umgang mit abweichenden Meinungen, mit Demokratie also, hat sich die Regierung bisher nicht von den Schatten der Apartheid freimachen können. Kritiker werden mit dem Vorwurf des Rassismus niedergemacht oder beschuldigt, alten Seilschaften anzugehören.
Die Regierung könnte eine Menge tun, um der Kriminalität besser zu begegnen. Die Polizei ist, von der Eliteeinheit der Scorpions abgesehen, in beklagenswertem Zustand. Schlecht ausgebildet und bezahlt, soll sie im Kampf gegen Gewalttäter täglich ihr Leben riskieren. Ein einfacher Polizeibeamter verdient umgerechnet nicht einmal 10.000 Mark im Jahr. Der für die Sicherheit verantwortliche Minister musste Anfang 2000 zugeben, dass einige Polizeibeamte nicht einmal richtig lesen und schreiben können.
Auch die Staatsanwälte sind überlastet, miserabel bezahlt und schlecht ausgestattet. Zusammen mit der unzureichenden Ermittlungsarbeit der Polizei hat das zur Folge, dass viele Verbrecher nie oder nur sehr spät angeklagt und verurteilt werden. Nur bei elf Prozent der registrierten Morde wird am Ende ein Täter verurteilt, bei Vergewaltigungen sind es sogar nur acht Prozent. Viele Menschen sind damit so unzufrieden, dass es immer wieder zu Übergriffen gegenüber den mutmaßlichen Tätern kommt oder gar Selbstjustiz geübt wird.
Wenn mehr Verbrechen aufgeklärt und mehr Täter gefasst werden, dann hat auch die Sozial- und Wirtschaftspolitik eine bessere Chance. Ein Job als Straßenkehrer oder ein Computerkurs sind für Jugendliche, die sich mit Gewalt holen, was sie haben möchten, keine erwägenswerte Alternative, wenn eine gute Chance besteht, dass sie straflos davon kommen.
Der Ruf nach "gerechter" Einkommensverteilung ist keine realistische Strategie zur Bekämpfung von Kriminalität. Er ist aber ein wichtiger Baustein in einem umfassenden Konzept. Er sollte nicht aufgegeben, sondern anders begründet werden: Dass alle Menschen ein Leben frei von Not und in Würde verdienen.