Abu Zaid und Hajatpour verbindet ein ähnliches Schicksal: Sie sind in der ägyptischen beziehungsweise iranischen Provinz aufgewachsen, kommen aus relativ einfachen Verhältnissen, sie interessierten sich früh für den Islam, sie lasen alles, was sie in die Finger bekamen, und schafften schließlich trotz ihres bescheidenen Hintergrunds den Aufstieg in die Mittelschicht. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass beide irgendwann anfingen, gegen den Strich zu bürsten: Sie hinterfragten die wissenschaftliche und religiöse Praxis in ihren Heimatländern und machten sich damit viele Feinde, so dass sie zur Flucht nach Europa gezwungen wurden. Beide landeten wieder in der Provinz: Abu Zaid im holländischen Leiden, Hajatpour in Bamberg.
Beide Biographien sind somit geeignet, ein weit verbreitetes Klischee über den islamischen Vorderen Orient zu bekräftigen. Dieses Klischee besagt, dass die Gesellschaften dort erstarrt sind und religiöse Traditionen nicht hinterfragt werden dürfen. Der Islam spiele dabei eine entscheidende Rolle, so das Klischee weiter, weil er von seinen Anhängern bedingungslosen Gehorsam verlange und somit Kritik an überkommenen Traditionen unmöglich mache. Ein prominentes Beispiel ist der deutsch-israelische Historiker Dan Diner, dessen Buch "Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt" in Deutschland großen Anklang fand.
Sowohl Abu Zaid wie Hajatpour würden es vermutlich gar nicht verneinen, dass der Vordere Orient dringend einer anti-autoritären Bewegung bedürfte, die es in die Hand nähme, verkrustete Strukturen aufzubrechen. Sie sind selbst Opfer der Orthodoxie geworden, die in ihren Ländern weiter die Oberhand hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie paternalistische Ratschläge von Wissenschaftlern wie Dan Diner, die anders als sie über keine direkten Einblicke in die islamische Geisteswelt verfügen, bedingungslos akzeptierten.
Reza Hajatpour wurde in eine verarmte iranische Beamtenfamilie geboren und hegte früh den Wunsch, Mullah zu werden, also ein schiitischer Geistlicher. Interessanterweise verband er mit dem theologischen Studium Freiheit und nicht etwa Repression: die Freiheit nämlich, durch ausgiebiges Studium nach der Wahrheit zu suchen. Außerdem verband er mit dem Islam Gerechtigkeit und die Verheißung, das verhasste Schah-Regime zu Fall zu bringen, das zu jener Zeit herrschte. Kein Wunder also, dass Hajatpour beim Ausbruch der Islamischen Revolution 1979 – er war gerade 21 Jahre alt – ein glühender Anhänger Ayatollah Khomeinis war.
Doch das änderte sich schnell. Als 18-Jähriger hatte Reza schon bei der Wahl, Mullah werden zu wollen einen dicken Kopf bewiesen, musste er sich doch gegen seine gesamte Familie durchsetzen, die ergebene Beamte des Schah waren und den Beruf des Mullahs verachteten. Sein Dickkopf bewahrte Hajatpour nun davor, die Exzesse der Islamischen Revolution, wie die massenweise Hinrichtung linker Oppositioneller, widerstandslos hinzunehmen. So hatte er sich die Freiheit, die der Islam bringen sollte, nicht vorgestellt. Seine Kritik an dem islamischen Regime zwang ihn schließlich 1985 ins Exil, zunächst nach Ostberlin, von dort aus in den Westen Deutschlands. Heute lehrt Hajatpour an der Universität Bamberg Iranistik. Seine Erfahrungen im Iran haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass Religion und Politik strikt getrennt werden müssen, weil die Religion niemals bereit sei, ihren absoluten Wahrheitsanspruch aufzugeben.
Bekannter in Europa ist der Fall von Nasr Hamid Abu Zaid. Er wuchs im Nildelta auf, in einem kleinen Dorf im Norden Ägyptens, in dem kaum einer der Erwachsenen lesen und schreiben konnte und sich deswegen von begabten Schülern wie Abu Zaid die Zeitung vorlesen ließ. Zunächst wählte Abu Zaid einen technischen Beruf, doch seine eigentliche Liebe galt der Literatur und dem Studium des Korans. So landete er über Umwege an der Kairo-Universität, wo er einen Lehrstuhl für Islamwissenschaft bekleidete. Abu Zaid war wie Hajatpour ein religiöser Mann, und im Gegensatz zu dem ehemaligen Mullah ist er es bis heute geblieben. Das hielt ihn nicht davon ab, den Koran als Text zu behandeln, der von Menschen gelesen und entsprechend menschlich interpretiert wird. In der europäischen Theologie ist das mittlerweile gang und gäbe, nicht so in Ägypten. Seine Gegner warfen ihm vor, dass er durch seine Forschung die Göttlichkeit des Korans in Frage stelle und damit ein Abtrünniger vom Glauben geworden sei. Und da ein Ungläubiger nicht mit einer Muslimin verheiratet sein dürfe, riefen sie ein Gericht an, dass ihnen tatsächlich recht gab: Abu Zaid sollte zwangsweise von seiner Frau geschieden werden, ohne dass beide es wollten. Ehe es dazu kam, flüchteten sie 1995 nach Holland. Abu Zaid bekleidet dort heute einen Lehrstuhl für Islamwissenschaft an der renommierten Universität Leiden.
Abu Zaid ist bis heute ein religiöser Mann geblieben. Seine Kritik am starren religiösen Diskurs in vielen islamischen Ländern fällt deswegen umso mehr ins Gewicht. Hajatpour hingegen hat sich weitgehend von der Religion abgewendet, was ihn jedoch nicht zum Atheisten werden ließ. Sein Standpunkt ist der eines Liberalen: Auf der einen Seite ist er für die uneingeschränkte Meinungsfreiheit, die selbstverständlich auch Kritik an jeglichen Religionen beinhaltet. Gleichzeitig hält er nicht viel davon, gläubige Muslime bewusst zu provozieren oder zu beleidigen, wie es etwa der 2004 ermordete holländische Filmregisseur Theo van Gogh getan hat. Das trage nicht dazu, hier lebende gläubige Muslime zu mehr Selbstreflexion zu bewegen.
Es lohnt sich, beide Bücher zu lesen. Sie geben Einblicke in das Denken kritischer Muslime, die nicht dem Stereotyp von der erstarrten islamischen Welt entsprechen.
von Albrecht Metzger
aus: der überblick 04/2007, Seite 124