Wer die Bilder aus Ceuta und Melilla vom September 2005 noch nicht vergessen hat, wer sich anrühren ließ, vom verzweifelten Versuch einer Gruppe von Afrikanern, über den Stacheldrahtzaun nach Europa zu gelangen, kann mit diesem Buch nachvollziehen, was Menschen über eine lange Zeit auf sich nehmen, um diese eine Chance zu haben. Klaus Brinkbäumer, Reporter beim "Spiegel" hat John Ampan auf der beschwerlichen Reise von Ghana nach Europa begleitet.
Der Ghanaer hatte sie vor 14 Jahren schon einmal gemacht und seine Familie seither nicht gesehen. Nun kommt er zusammen mit zwei Weißen zurück, hat reiche Freunde und selbst etwas Geld und wird dadurch als einer angesehen, der es geschafft hat, in dessen Fußstapfen man treten möchte. Doch der Preis ist hoch. Brinkbäumer versteht es, das einfühlsam zu vermitteln. Die Kinder gehen dank der Überweisungen aus Europa zur Schule, aber der Vater bleibt ihnen fremd. Er fühlt sich verantwortlich, aber lebt mit einer Freundin weiter in Spanien. Der Reporter vom "Spiegel" und der Fotograf aus Deutschland machen sich mit John Ampan noch einmal auf den Landweg nach Europa. Sie nehmen alles mit, was ein Europäer vorsorgend einpackt, vor allem aber Geld und Kontakte – einmal hilft ihnen die deutsche Botschaft aus der Bredouille. Denn sie werden nicht als Gäste und Reporter angesehen, sondern als Geldquelle. Polizisten, Grenz- und Zollbeamte, Fahrer, Hotelbetreiber oder ganz einfach Passanten wittern und ergreifen überall die Chance, etwas mehr herauszuschlagen. "Bilde dir nicht ein, dass du hier Freunde finden wirst", sagt John Ampan. "Jeder, mit dem wir auf dieser Reise zu tun haben werden, hundertprozentig jeder wird versuchen, aus der Beziehung zu euch das maximal Mögliche herauszuholen." John Ampan versteht das, kann es erklären, aber er missbilligt es auch und analysiert sehr genau, welche Verhaltensweisen dazu beitragen, dass Afrika fünf Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit so schlecht dasteht. Er ist ein Wanderer zwischen den Welten geworden – und könnte ein Mittler sein, wenn die Umstände seines Lebens ihn nur ließen. Immerhin hat er in Spanien jetzt einen Job gefunden, bei dem er neu ankommende Afrikaner betreut und berät.
"In Afrika vergisst du die Farbe der eigenen Haut nie. Sie hebt dich heraus, sie fällt auf, sie schützt dich manchmal, und manchmal gefährdet sie dich." Brinkbäumer verschweigt seine Irritationen nicht, aber er lässt sie seine Empfindungen nicht dominieren, er will ja auch nicht von sich erzählen, sondern von John Ampans langer Reise nach Europa. Und das gelingt ihm ganz vorzüglich: Er verbindet die Rückschau seines Protagonisten mit den gemeinsamen Erfahrungen der neuen Reise, lässt sich noch von anderen Geschichten und Hoffnungen berichten, erklärt und reflektiert, wo es nötig ist und liefert nebenbei auch immer wieder Eindrücke vom Selbst- und Weltverständnis vieler Gesprächspartner: vom Pfarrer in Benin City, der seinen Hass auf Europa herausschreit, und gleich danach vom Chief, der daran erinnert, dass Nigeria am Ende der Kolonialzeit sehr viel besser dran war als heute.
So verbindet er auf kluge Weise Empathie und Analyse, stellt John Ampans Beobachtungen neben seine eigenen und besinnt sich zwischendrin auf die Reisebeschreibungen Ryszard Kapuszinskis, des inzwischen verstorbenen polnischen Reporters, und die Erklärungen der Hamburger Afrikawissenschaftler. Das alles verschränkt er so kunstvoll miteinander, dass man als Leserin fasziniert dabei bleibt – wie der Autor voller Bewunderung für den Mut und den Durchhaltewillen der Afrikaner, die sich aufmachen, das gelobte Land, nämlich Europa, zu erreichen. Und gleichzeitig auch mit einem Einblick in das, wozu Menschen in jeder Hinsicht fähig sind: zu warten, um irgendwann voran zu kommen, Entbehrungen auf sich zu nehmen, aber auch den Nächsten zu bestehlen, in arroganter Machtausübung zu drangsalieren oder aus Mangel an Verantwortung in den Tod zu schicken.
Klaus Brinkbäumer, für seine "Spiegel"-Reportage "Die Afrikanische Odyssee" mit dem renommierten Egon-Erwin-Kisch Preis ausgezeichnet, hat ein vorzügliches Buch über Migration von Afrika nach Europa geschrieben. Für den, der es gelesen hat, wird auf absehbare Zeit hohl bleiben, was die Politiker zur Abschottung gegen unerwünschte Migration und zur Fluchtursachenbekämpfung sagen. Und er wird den afrikanischen Küchenhelfer in seinem Großstadtrestaurant in Zukunft mit anderen Augen sehen – und vielleicht bei der Bemessung des Trinkgeldes an den Schulbesuch von dessen fernen Kindern denken.
von Renate Wilke-Launer
aus: der überblick 04/2007, Seite 124