Zweite Wahl
Die Wiederwahl des nigerianischen Präsidenten Obasanjo beweist, dass der Machtverlust der Militärregierung vor vier Jahren kein Betriebsunfall war. Doch der Nord-Süd-Gegensatz zwischen dem christlichen Süden und dem islamischen Norden könnte in den kommenden Jahren weiter zunehmen, und ein nationaler politischer Konsens über eine friedliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Umgestaltung des Vielvölkerstaates ist weit und breit nicht in Sicht.
von Heinrich Bergstresser
Die gute Botschaft zuerst: Das bevölkerungsreichste, ethnisch vielfältigstes Land Afrikas, gleichzeitig der größte christlich-islamische Staat der Erde, hat gewählt und den amtierenden Präsidenten Olusegun Obasanjo im Amt bestätigt. Die schlechte Nachricht: Der dreiwöchige Wahlmarathon, der auch über die Mandate in den beiden Kammern des Bundesparlamentes, der Parlamente in den 36 Bundesstaaten und deren Gouverneure entschied, war chaotisch vorbereitet, von zahlreichen Unregelmäßigkeiten, Manipulationen und Gewaltexzessen mit Todesopfern gekennzeichnet, aber in den meisten Landesteilen auch von Normalität geprägt.
Die Urteile der Wahlbeobachter aus dem In- und Ausland lagen dementsprechend weit auseinander. Die EU-Beobachter übten harsche Kritik, die des Commonwealth blieben moderat, nur das Echo der Katholischen Bischofskonferenz war insgesamt positiv. Und der Vorsitzende, Erzbischof Onaiyekan, stellte bei allen Unzulänglichkeiten besonders den Willen des nigerianischen Volkes heraus, das ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie abgegeben habe.
Wenig überraschend bestand die Wahlkommission Independent National Electoral Commission (INEC) zwar nicht die Meisterprüfung, bewältigte aber trotz aller Unzulänglichkeiten die fünf Wahlentscheidungen und lieferte Ergebnisse. Das wichtigste und zugleich unspektakulärste war die Wiederwahl von Obasanjo, dem Born Again Christian (Wiedergeborenen Christen) aus dem christlich geprägten Süden. Er, der General außer Dienst und ehemalige Juntachef (1976-79), der den Weg für die II. Republik (1979-83) geebnet hatte, entschied nach der ersten Wahl 1999 auch diese zweite klar für sich. Die politische Grundstimmung sprach eindeutig für Obasanjo, wenn auch als das kleinere Übel. Denn der hohe Favorit ist in seiner ersten Amtszeit weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, die Bilanz sogar ernüchternd. Statt Aufbruch, Aufrechterhaltung des Status quo: ständige Stromausfälle, Benzinknappheit, ethnisch-religiös gefärbte Konflikte, Gewaltkriminalität, sinnloser Machtkampf zwischen Präsident und Parlament, dazu die Einführung der Scharia in einem Dutzend islamisch geprägter Bundesstaaten Nordnigerias. Die Zulassung privater Mobiltelefonanbieter im notorisch unterentwickelten Telekommunikationsbereich war die einzig innovative Maßnahme, die wenigstens ein Kernproblem gelöst hat.
Trotz dieser mehr als mäßigen Bilanz bestätigte das Wahlvolk, die Faust in der Tasche, Obasanjo im Amt. Die Furcht vor einem Präsidenten Muhammadu Buhari, ebenfalls General außer Dienst, der mit dem Makel des Putschisten und islamischen Hardliners behaftet ist, wog weitaus schwerer, als besagtes "kleineres Übel" zu wählen, das man kennt. Buhari, einst Ölminister unter Juntachef Obasanjo, hatte mit seinem Staatsstreich genau jenes Demokratisierungsprojekt hinweggefegt, dem Obasanjo zuvor den Weg bereitete hatte. Doch hielt sich Buhari nicht lange im Amt. Eine Palastrevolte beendete 1985 seinen repressiven Kurs und seinen Traum von einer islamischen Expansion in Nigeria. Diesen Traum durfte er mit den Scharia-Befürwortern in der Hausa-Fulani-Region im Rücken als Präsidentschaftskandidat für kurze Zeit wieder träumen.
Mit 62 Prozent - etwa 24,5 Millionen Stimmen - fiel der Sieg Obasanjos erwartungsgemäß deutlich aus. Er gewann nicht nur die Mehrheit aller Stimmen, sondern übersprang auch mühelos und als einziger die hohe Hürde, in mindestens 24 der 36 Bundesstaaten und Abuja zumindest 25 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Diese beiden Bedingungen mussten für einen Wahlsieg erfüllt sein. Traumhafte Ergebnisse zwischen 52 und über 90 Prozent erzielte Obasanjo in den Gebieten der beiden Mehrheitsvölker Yoruba und Igbo und den Minoritätenvölkern zwischen Niger-Delta und River Cross in den südlichen Landesteilen. Auch im konfliktträchtigen Middle Belt, an der Nahtstelle zwischen Nord und Süd, Islam und Christentum, Minderheitenvölkern und dem dritten Mehrheitsvolk Nigerias, den Hausa-Fulani, schnitt der Amtsinhaber mit 37 bis 77 Prozent gut bis sehr gut ab. Im Kernland der Hausa-Fulani, im islamisch geprägten Nordnigeria, verfehlte Obasanjo in nur vier Bundesstaaten die magische 25-Prozent-Marke, gewann aber in den anderen bis zu einem Drittel der Stimmen.
Fazit: Es gab nirgends echte Einbrüche, nicht einmal in Zamfara, das als erster Bundesstaat die Scharia als bindendes Recht im Zivil- und im Strafrecht eingeführt hatte. Sogar dort erzielte Obasanjo noch 18 Prozent der Stimmen.
Dem hatte Buhari nichts entgegenzusetzen. Nur 32 Prozent der Wähler, knapp 13 Millionen Menschen, votierten für den Herausforderer aus dem islamischen Norden. Nur dort konnte er mit 53 bis 80 Prozent gute bis sehr gute Ergebnisse erzielen. Schon im Middle Belt schnitt Buhari mit 22 bis 40 Prozent allenfalls zufrieden stellend ab. Im übrigen Nigeria brach er völlig ein, erreichte in 14 Bundesstaaten lediglich einstellige Ergebnisse. Im Heimatbundesstaat seines Kontrahenten Obasanjo, in Ogun, bekam er gerade einmal 680 Stimmen gegenüber 1,3 Millionen des Siegers.
Der Dritte im Bunde, der mehr als eine Million Wählerstimmen gewann, war Chukwuemeka Ojukwu. Der Biafra-Sezessionist kam damit gerade mal auf gut 3 Prozent, die er durchweg in seiner Igbo-Heimatregion errang. Doch erhielt er diese Stimmen von jenen Wählern, die die Wahl zwischen Obasanjo und Buhari als Wahl zwischen Pest und Cholera empfanden und so ihre Stimme Ojukwu gaben, wohl wissend, dass sie verschenkt sein würde. Diese Wähler wünschten sich echte Alternativen zu den Generälen, die die politische Landschaft noch immer beherrschten, so die Frauenrechtlerin Joy Eleizo aus Enugu. Für den Wahlausgang waren die 1,3 Millionen Stimmen für Ojukwu irrelevant. Aber sie offenbarten, wie der diskreditierte Militärapparat durch die Hintertür nach wie vor großen Einfluss auf die Politik ausübt. Denn viele Ehemalige sitzen in zahlreichen staatlichen Institutionen und Unternehmen an wichtigen Schaltstellen. Die anderen 17 Kandidaten blieben deutlich unter der Ein-Prozent-Marke.
Die Partei des Staatspräsidenten, die People's Democratic Party (PDP), bestätigte ihre dominante Position aus der ersten Legislaturperiode, gewann die absolute Mehrheit in beiden Häusern der National Assembly, in den meisten Parlamenten der 36 Bundesstaaten, und sie stellte die meisten Gouverneure. Bei diesen Wahlen setzte sich die stärkere Akzentuierung des Nord-Süd-Gegensatzes zugunsten der PDP fort. Obwohl sie im Norden zahlreiche Mandate an die All Nigerian People's Party (ANPP), die Partei des Herausforderers Buhari, verlor, konnte die PDP zugleich ihren Einflussbereich im Middle Belt und in Südnigeria ausweiten. Das ging vor allen Dingen auf Kosten der ANPP und der Yoruba-Regionalpartei Alliance for Democracy (AD). Die AD und deren Vertreter straften die Wähler wegen Inkompetenz, gepaart mit Arroganz sogar regelrecht ab, so dass die Partei nur noch in ihrer Hochburg Lagos politische Bedeutung besitzt.
Die dominierenden Parteien sind keine Parteien im herkömmlichen Sinn, verfügen über keine ideologische Ausrichtung, sondern dienen bislang lediglich als Wahlvereine. Einige der übrigen 27 kleinen Parteien sind zwar ideologisch ausgerichtet, doch fehlt in Nigeria das demokratische Bewusstsein, um nach politischen Inhalten und Zielen abzustimmen. Wichtiger ist vielmehr, auf der Seite der vermeintlichen Sieger zu stehen.
Mit Ausnahme von Lagos regieren PDP-Gouverneure im gesamten Süden und in großen Teilen des Middle Belt. Dadurch wird der regionale und religiöse Gegensatz zwischen Nord und Süd verfestigt und zugleich der Stillstand in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht bis auf weiteres auf niedrigem Niveau zementiert.
Schon im Vorfeld des Wahlmarathons bot sich ein eindrucksvoller Einblick in die politische Kultur Nigerias: Von Wahlfieber keine Spur. Die Wahlspots in Fernsehen und Radio - so denn gerade kein Stromausfall zu beklagen war - interessierten kaum jemanden. Zeitungen und Zeitschriften liest sowieso nur eine Minderheit. Hin und wieder fuhren ein paar Lautsprecherwagen der beiden großen Parteien durch die Städte, aber niemand hörte den Parolen zu, jeder hatte genug damit zu tun, den beschwerlichen Alltag zu meistern. Einige Wahlplakate an den großen Straßen und liebevoll zurechtgemachte Kanister mit den Konterfeis lokaler Kandidaten, die über enge Gassen gespannt waren - das war's. So empfand es auch Ecce fa dope, die nach vielen Jahren in den USA wenige Monate vor den Wahlen in ihre Heimat zurückgekehrt war. Sie spürte Wahlfieber allenfalls bei Journalisten, die sich manchmal in Diskussionen über die Chancen dieses oder jenen Kandidaten ereiferten.
Auch wenn kaum etwas von Wahlkampf oder gar Wahlfieber zu spüren war, Politik als Geschäft lief dagegen auf Hochtouren. Eine Investitionsentscheidung in die Zukunft zu fällen, getragen von einem politischen Unternehmertum, so Axel Harneit-Sievers von der Heinrich Böll Stiftung in Lagos, hat nur ganz nebenbei etwas mit Demokratie oder Demokratisierungsdividende zu tun. Geld - Cash, Dollar, Euro oder auch Naira - sind die entscheidenden Parameter; und der Einsatz könnte sich lohnen im Erdölparadies, trotz der fast schon anarchischen Zustände im Lande. Getrieben von der Vorstellung, den großen Coup landen zu können, wenn man gewählt ist, mitspielen zu müssen, um relevant zu bleiben, selbst wenn man keine Chance hat zu gewinnen - dieser Antrieb offenbart ein Maß an irrationalen und korrupten Verhaltensweisen, die große Teile der politischen Elite erfasst hat und immer wieder groteske Fehlentwicklungen erzeugt.
In den Wochen vor und während des Wahlmarathons befand sich das autoverrückte Nigeria im Stau. Denn der führende Ölproduzent Afrikas, der auch über riesige Erdgasvorkommen verfügt, hatte wie so oft in der Vergangenheit nicht genügend Benzin, um die vielen Luxusschlitten und die abertausend schrottreifen Autos und Taxen zwischen Lagos, Abuja und Kano zu bewegen. Ein ganzes Volk schien auf der Jagd nach dem kostbaren Stoff zu sein, der eigentlich Mobilität garantiert, doch nun statt Mobilität, Staus und Blockaden hervorbrachte. Denn die Autobesitzer oder deren Fahrer verstopften mit ihren Fahrzeugen die Straßen, versuchten mit allerlei Tricks und Schmiergeld an die Zapfsäulen zu gelangen, wo der hoch subventionierte Kraftstoff noch immer unter 20 Cents kostet. Nur wer sofort von A nach - gelangen muss, bedient sich auf dem funktionierenden Schwarzmarkt, zum vierfach höheren Marktpreis, versteht sich. Über die ständigen Stromausfälle, das ohrenbetäubende Dröhnen der Generatoren spricht dagegen kaum noch jemand. Sie sind bereits fester Bestandteil der Alltagskultur, auch für jene, die es sich leisten können, den Dieselkraftstoff zu bezahlen.
Probleme unter den Teppich zu kehren, ist zentraler Bestandteil der politischen Kultur in Nigeria. Das gilt für die Einführung der Scharia, das gilt für die blutigen Konflikte im Ölfördergebiet des Niger-Delta und im Igbo-Kernland, wie für den Umgang mit der Korruption. Ein weit verbreitetes Gerücht besagt, dass die Parlamentarier bestochen werden mussten, um ein Gesetz zur Korruptionsbekämpfung zu verabschieden. Es klingt absurd, doch hat sich die Hinwendung zur Religion zum neuesten Wundermittel entwickelt, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Und im Gebet zeigen die Nigerianer ihre wahren Fähigkeiten: Christen wie Muslime verbrachten Stunden, Tage und Wochen vor den Wahlen damit, Gott um Beistand zu bitten gegen Angst, Konfusion, ja Hoffnungslosigkeit. Ein Höhepunkt war sicherlich das nationale Gebetsfest auf dem Unabhängigkeitsplatz in Lagos Ende März, das die Form einer Gebetsorgie mit der zentralen Botschaft annahm: Noch habe Gott die katastrophale Gesamtsituation in Nigeria im Griff.
Auf diesem Boden gedeiht religiöser Fundamentalismus, bei Christen wie bei Muslimen. "Gott wird es schon richten" ist denn auch weit mehr als nur eine Floskel, mehr noch, diese Überzeugung hat sich zum nationalen Glaubensbekenntnis entwickelt, dem sich alles andere unterzuordnen scheint, was Blockade, Lethargie, aber auch Aggression erzeugt und den Status quo fortschreibt, auch den angeheizten Gegensatz zwischen Christentum und Islam, der in den vergangenen drei Jahren mehrere Tausend Opfer forderte.
Die Spitzenvertreter beider Religionsgemeinschaften verweisen darauf, dass bei diesen schweren Auseinandersetzungen bislang noch kein hoher geistlicher Würdenträger umgekommen, die Situation insgesamt also nicht ganz so dramatisch sei, wie häufig dargestellt werde. Auch der methodistische Erzbischof Job in der nördlichen Metropole Kaduna, wo sich die Anzahl der Muslime und Christen zahlenmäßig in etwa die Waage halten, ist dieser Auffassung. Es seien jugendliche Analphabeten, ohne Arbeit, ohne Perspektive, die sich von einzelnen selbsternannten Lokalfürsten mit ein paar Naira verleiten ließen, Kirchen oder Moscheen in Brand zu setzen. Lernprozesse würden halt dauern. Dennoch seien die Politiker bereit zu lernen, meint der Erzbischof. Damit verhält er sich nicht anders als sein Kollege aus dem islamischen Klerus, Sheikh Sanusi Gumbi, der die blutigen religiös gefärbten Konflikte in Kaduna und anderswo als bedauerliche Vorkommnisse von gestern abhakt, die nicht wieder passieren würden.
Auch in der kommenden Legislaturperiode werden sich die grundlegenden Probleme nur unwesentlich ändern. Denn die Rahmenbedingungen bleiben dieselben wie bisher. Die Scharia wird weiterhin als wichtigster Stachel der Hausa-Fulani gegen Obasanjo und seine Regierung benutzt. Denn diese Wahl bewies, dass der Machtverlust vor vier Jahren kein Betriebsunfall war. Damit dürfte der Nord-Süd- Gegensatz in den kommenden Jahren weiter zunehmen, und ein nationaler politischer Konsens über eine friedliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Umgestaltung des Vielvölkerstaates ist weit und breit nicht in Sicht.
aus: der überblick 03/2003, Seite 45
AUTOR(EN):
Heinrich Bergstresser :
Heinrich Bergstresser ist Redakteur im Afrikaprogramm der Deutschen Welle und hat für seinen Sender über die Wahlen berichtet.