Euphorisch, chaotisch, gut - und viel Zustimmung nach den ersten hundert Tagen
Am 27. Dezember 2002 hat die kenianische Bevölkerung einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament gewählt. Fast drei Jahrzehnte Misswirtschaft unter Präsident Daniel arap Moi und der Regierungspartei KANU sind damit zu Ende gegangen. Begleitet von beispielloser Euphorie nahm die neue Regierungskoalition NARC unter Präsident Mwai Kibaki die Amtsgeschäfte auf. An Reformeifer mangelt es den ernannten Ministern bisher nicht. Aber die Hyperaktivität in den ersten Amtsmonaten vermittelt den Eindruck einer zwar gut gemeinten, jedoch konfusen Regierungspolitik.
von Roland Schwartz
Die Ausgangssituation für die Regierungsübernahme hätte für die "Koalition des nationalen Regenbogens" (NARC) nicht besser sein können. Nach Jahrzehnten umfassender Misswirtschaft war Kenia zum Zeitpunkt der Wahl im Dezember 2002 politisch, wirtschaftlich und emotional ausgeblutet. Fast zwei Drittel der Wähler schickten die bisherige Regierungspartei KANU in die Opposition. Schockierende Bilder und Berichte vom Nyayo-Folterkeller des verhassten Regimes machten im Nachgang zu den Wahlen den Umfang des Machtmissbrauchs der Moi-Gefolgsleute nur allzu deutlich. Für jede neue Regierung wäre es eine Herausforderung gewesen, die Amtsgeschäfte schlechter zu erledigen als es die Regierungspartei KANU vermocht hatte. Alles konnte nur besser werden. Und in der Tat, das Klima zwischen Bürgern auf der einen sowie Machthabern und Verwaltung auf der anderen Seite änderte sich praktisch über Nacht. Amtsinhaber waren plötzlich erreichbar und ansprechbar, in den Verwaltungen erwartete die Bürger ein Hauch von Dienstleistungsatmosphäre.
Der Januar 2003 hielt eine Fülle von neuen Alltagserfahrungen für normale kenianische Bürger bereit. Gleichzeitig war jedoch überall eine enorme Erwartungshaltung nach mehr zu spüren. Vielerorts demonstrierten Arbeiter spontan für Gehaltserhöhungen, in der Annahme, die neue Regierung würde es schon richten. Kurz: Die Stimmung nach einem Vierteljahr ist euphorisch, chaotisch, gut.
Bereits in den ersten Tagen des neuen Jahres stellte Präsident Mwai Kibaki sein Kabinett vor. Dabei hatte er die Interessen von treuen Gefolgsleuten zu bedienen, auf koalitionsinterne Ausgewogenheit zu achten, die ethnische Balance zu wahren, eine hinreichende Anzahl von Frauen zu nominieren und noch dazu das Wahlversprechen einzulösen, Expertise, Verdienst und Qualifikation zum entscheidenden Auswahlkriterium zu machen. Angesichts dieser Mission Impossible, diese unlösbare Aufgabe, hat es nach der Bekanntgabe der Auserwählten nur wenig Kritik gegeben. Der NARC-Koalitionspartner Liberal Democratic Party (LDP) fühlte sich zwar mit 8 von 23 Ministerposten im Kabinett - nicht ganz zu unrecht - unterrepräsentiert. Allerdings hätte im Verhältnis zu den eingebrachten Wählerstimmen eher die Partei Forum for the Restoration of Democracy-Kenya (FORD-K) Grund zur Klage gehabt und versuchte in der Presse auch Stimmung gegen die Koalitionsgruppe National Alliance Party of Kenya (NAK) zu machen, die den Präsidenten stellt. Nicht zuletzt aufgrund eines Machtwortes des ungekürten LDP-Führers Raila Odinga blieb es aber bei einem Sturm im Wasserglas.
Abgesehen von den verletzten Eitelkeiten einzelner Individuen und kleineren politischen Ränkespielchen nötigt einem das Gesamtbild des Kabinetts Respekt ab. Man mag sich zwar fragen, warum ein gelernter Arzt Umweltminister und nicht Gesundheitsminister geworden ist, oder ob es nicht unnötiges Kompetenzgerangel zwischen dem Umweltministerium und dem Wasserministerium geben wird. Auch das Portfolio des Kooperativenministeriums hätte vielleicht besser eingespart werden können. Denn letztendlich ist die Anzahl von Ministerien nicht wie angekündigt deutlich gesunken. Aber diese fast kleinliche Kritik könnte nur aus einer Ecke kommen, die noch nie dem Druck der politischen Dankbarkeit ausgesetzt gewesen ist. Zumindest die inflatorische Anzahl von machtlosen stellvertretenden Ministern wurde drastisch reduziert und ihre Stellung gleichzeitig aufgewertet. Damit haben die Ministerien eine echte politische Doppelspitze, durch die zumindest in der Führungsetage nun mehr Professionalität einkehren kann. Stirnrunzeln hingegen hat für Außenstehende die Ernennung oder Versetzung einiger Staatssekretäre hervorgerufen. Doch hier scheint der Selektionsprozess noch nicht abgeschlossen. Denn die Position des obersten Technokraten im Ministerium ist im Interesse der Funktionsfähigkeit einer Behörde zu wichtig, um hier Unstimmigkeiten zwischen Minister und Staatssekretär auf Dauer bestehen zu lassen.
Faktischer Sitz der neuen Regierung war in den ersten Wochen nicht das State House, sondern das Nairobi Hospital. Präsident Kibaki erholte sich dort von seinen Verletzungen, die er in einem Unfall während des Wahlkampfes im Dezember 2002 erlitten hatte. Gesellschaft leisteten ihm fünf Kabinettskollegen, die zu Beginn des Jahres bei einem Flugzeugabsturz zum Teil schwer verletzt wurden. Der Arbeitsminister überlebte den Unfall nicht. Die verbliebenen, unverletzten Kabinettsmitglieder verbrachten einen erheblichen Teil ihrer ersten Arbeitstage damit, ihre Amtskollegen im Nairobi Krankenhaus zu besuchen. Nicht zu vergessen ist die angeschlagene Gesundheit des Vizepräsidenten Michael Wamalwa, der offiziell wegen Gicht und Nierenproblemen in London und Nairobi in ärztlicher Behandlung steht. Man konnte zeitweise den Eindruck gewinnen, als ob KANU durch Voodoo-Zauber Rache an der Wahlniederlage üben wollte.
Die Einlösung des teuren Wahlversprechens von kostenloser Grundschulbildung markierte für die neue Regierung eine erste Bewährungsprobe. NARC erfuhr zum ersten Mal, wie schwierig die reale Umsetzung von Reformen jenseits der politischen Rhetorik ist. Ohne zusätzlich Lehrer einzustellen, wurde in den bestehenden Schulkapazitäten ein Drittel mehr Kinder untergebracht. Im Juli sind zudem für die mehr als 200.000 Lehrer Gehaltserhöhungen von bis zu 30 Prozent zu finanzieren.
Als ob angesichts leerer Staatskassen damit nicht schon genug Finanzlöcher zu stopfen wären, machten die neu ernannten Minister aus einer Mischung von Unerfahrenheit und Übereifer weitere kostenträchtige Ankündigungen. Kaum ernannt, versprach beispielsweise Gesundheitsministerin Charity Ngilu eine Krankenversorgung zum Nulltarif für alle Kenianer. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss Finanzminister Mwiraria einem Herzanfall nahe gewesen sein. Zu seiner Rettung würden potente Geber wie EU, Internationaler Währungsfond (IWF) und Weltbank lieber heute als morgen kommen. Die EU hat bereits mit der Auszahlung umfassender Projektgelder begonnen, IWF und Weltbank warten noch auf die Verabschiedung von zwei Antikorruptionsgesetzen, ehe auch sie wieder im Konzert der großen Geberinstitutionen mitspielen wollen. Noch fließt die Budgethilfe zur Schließung des fast 1 Milliarde Euro großen Haushaltsloches aber nicht, und die kostenträchtigen Reformvorhaben in der Sozialpolitik befinden sich vorerst noch in der Warteschleife oder leiden kurz nach Einführung bereits unter Finanzierungslücken.
Für die kostenlose Grundschulbildung wurden zunächst 40 Millionen Euro bereitgestellt. Der zehnfache Betrag wäre aber mindestens jährlich notwendig, damit die ohnehin schon zweifelhafte Qualität der Schulausbildung nicht noch weiter leidet. Was nutzt es, wenn jedem Kind ein Schulplatz garantiert wird, bei einer Klassenstärke von 50 bis 100 Kindern am Ende der Schulzeit aber viele noch nicht einmal ihren Namen schreiben können.
Der gleiche Budgetansatz von rund 500 Millionen Euro wird für das propagierte nationale Krankenversicherungssystem veranschlagt, in dem alle Kenianer Zwangsmitglied werden sollen. Für die Hälfte aller Kenianer, die unter der Armutsgrenze leben, würde der Staat die Beitragszahlung übernehmen. Soweit zumindest die Ankündigungen der jeweiligen Minister für Bildung und Gesundheit.
War die Umsetzung des freien Grundschulbesuches Teil der Wahlversprechen, wurden die weitergehenden Wohlfahrtsankündigungen spontan ohne Not gemacht und müssen nach dem Ende der Flitterwochen für die neue Regierung zwangsläufig zu Enttäuschungen in der Wählerschaft führen. Nichtsdestotrotz ist der Reformeifer in der Sozialpolitik mutig und lobenswert. Gesundheit und Bildung sind Grundpfeiler gesellschaftlicher Entwicklung. Die Kosten von Unwissen in der Bevölkerung sind langfristig wesentlich höher als das Gehalt von Lehrern. Nur müssen die Sozialpolitiken in eine zeitliche Reihenfolge gebracht werden, damit sie insgesamt finanzierbar bleiben.
Die Einstellung eines Regierungssprechers, der das Agieren der Amtsinhaber in konsistenter Weise der Bevölkerung erklärt, könnte aus den vielen Einzelakteuren der Regierung in der Öffentlichkeit ein bisher nicht zu erkennendes Mannschaftsbild erzeugen.
Ein fast unheimliches Tempo legen die Regierenden im Einsetzen von Kommissionen und Komitees ein, um Korruptionsvergehen der Vergangenheit aufzudecken. Bisher prominenteste Opfer dieser Säuberungsaktion sind der Bundesrichter Samuel Oguk und Justizchef Bernard Chunga. Beide sind zurückgetreten, nachdem Kommissionen ihre Amtsgeschäfte näher untersuchen sollten. Im Zuge eines Bankenskandals sind diverse Direktoren von Staatsunternehmen entweder zurückgetreten oder entlassen worden. Fast jeden Tag verlängert sich die Liste derjenigen, die von ihren Aufgaben entbunden werden, weil sie sich in den letzten Jahren schamlos an öffentlichen Geldern bereichert hatten.
Unklar ist noch, ob es in den meisten Fällen zur Strafverfolgung kommen wird oder ob mit dem Rücktritt die Sache als erledigt angesehen wird. Zumindest bei der Aufklärung des sogenannten Goldenbergskandals wäre eine Amnestie nach dem Prinzip "Wer zurücktritt, bleibt straffrei" fatal. Der Leiter des Unternehmens Goldenberg, der aus Indien stammende Millionär Kamlesh Pattni, hatte 1992 für fiktive Goldexporte umgerechnet 230 Millionen US-Dollar an Subventionen erschlichen. 1995 wurde er deswegen inhaftiert, aber durch Protektion von höchster Stelle nach 24 Stunden wieder freigelassen. Gerüchte wollen wissen, er verdanke seine Freilassung Wahlkampfspenden an die KANU. Wenn hier nicht versucht wird, zumindest Teile des erschlichenen Geldes zurückzufordern, käme das einer Aufforderung an die neuen Amtsinhaber gleich, sich ebenfalls an Steuergeldern schadlos zu halten.
Neben der Verfolgung von Individuen werden auch Anstrengungen unternommen, politisch motivierte Land- und Eigentumtransfers der Vorgängerregierung rückgängig zu machen. Hierbei stellt sich jedoch das Problem, dass es sich zwar um politisch unkorrekte, jedoch juristisch korrekte Transfers handelt, deren Annulierung für jeden Eigentumstitel eine Rechtsunsicherheit implizieren würde. Die bisher prominentesten Fälle sind die Rückübereignung der KANU-Parteizentrale an die öffentliche Hand und die zweifelhafte Weitergabe von Land eines im Besitz der Organisation International Centre for Research in Agroforestry (ICRAF) befindlichen geschützten Waldgebietes, des Karura Forest in Nairobi, an einen amerikanischen Bauunternehmer. Diese beiden Fälle und eine Vielzahl anderer werden noch schwierige juristische und politische Fragen aufwerfen.
Binnen weniger Tage nach der Machtübernahme kletterte der Aktienindex an der Börse Nairobis um rund 50 Prozent. Dieser Anstieg spiegelt aber lediglich die Erwartungshaltung der Marktteilnehmer wieder und reflektiert keinesfalls eine reale Zunahme der Wirtschaftskraft.
In Ermangelung eines Wirtschaftsministeriums liegt die Koordination aller Maßnahmen zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivität beim Planungsminister Peter Anyang' NyongNo. Dieser geht mit ganzem Einsatz ans Werk, indem er versucht, das NARC-Wahlprogramm mit der Armutsbekämpfungsstrategie in Einklang zu bringen. In diversen Abstimmungsrunden zwischen Privatsektor und Politik legt er in nur drei Monaten die Marschrichtung fest, erleidet dabei einen Schwächeanfall und muss auf einer der Konsultationsveranstaltungen ärztlich betreut werden. Im Arbeitseifer für das Land die eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, wäre keinem KANU-Minister je passiert! Es ist dieser sichtbare Wille zur Veränderung, der die NARC-Regierung zur Zeit diese unbeschreibliche Sympathie in der Bevölkerung beschert.
Für die Konjunktur- und Wirtschaftsprogramme Kenias ist die externe Unterstützung von IWF und Weltbank fest eingeplant. Die Fixierung auf zusätzliche Gelder der internationalen Finanzinstitutionen ist angesichts der leeren Staatskassen einerseits verständlich. Die Gefahr, dass neue Kredite noch nicht nutzbringend in den Wirtschaftskreislauf eingebracht werden können, ist jedoch nicht wegzuplanen. Die Bürokratie, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in Ineffizienz geübt hat, ist immer noch dieselbe. Wenn frische Kredite aber nicht in profitwirksame Wiederaufbauvorhaben investiert werden, erhöhen sie nur die ohnehin schon hohe Staatsverschuldung. Kapital ist in Kenia zudem genug vorhanden. Staatsanleihen sind regelmäßig um das Doppelte und mehr überzeichnet. Wenn es außerdem gelänge, das im Ausland befindliche Kapital der kenianischen Unternehmer zurückzuholen, wäre das Buhlen um neue ausländische Kredite unnötig. Die extrem zeitraubenden Verhandlungen mit dem IWF könnten dann durch produktive Tätigkeiten ersetzt werden.
Auch für die Sanierung des halbstaatlichen Monopolisten TELKOM und des Energieversorgungsunternehmens Kenya Power and Lighting Company (KPLC) ist keine Auslandsfinanzierung notwendig. Zur Zeit stehen fast alle Staatsbetriebe als - wenngleich schmutziges - Tafelsilber Kenias in der Ecke. Durch bereits vollzogene und noch folgende personelle Veränderungen sollten sie aber binnen Jahresfrist mit eigenen Anstrengungen zum Glänzen gebracht werden können.
"Wir geben Kenianern eine neue Verfassung innerhalb der ersten sechs Monate unserer Amtszeit", war eines der NARC-Versprechen, um im Wahlkampf Position gegen KANU zu beziehen, deren Exekutive und Judikative alles versucht hatte, um das Inkrafttreten der neuen Verfassung vor den Wahlen zu verhindern. Neben der Änderung des Wahlrechts und der Justizreform sind im vorliegenden Verfassungsentwurf weitreichende Reformen im Bereich des Staatsaufbaus, des Landrechts, des Parteiwesens und der Menschenrechte enthalten. Die Umsetzung des Verfassungsentwurfs in geltendes Recht wird die Grundlagen der kenianischen Gesellschaft auf ein rundherum neues Fundament stellen. Wann die neue Verfassung die alte ersetzen wird, bleibt unklar. Das Ringen um die endgültigen Formulierungen in der verfassungsgebenden Versammlung hat bereits begonnen. Bis Ende des Jahres soll der Wortlaut der Verfassung zur Abstimmung vorliegen.
Eine Vielzahl der neuen Bestimmungen des in der Entstehung befindlichen, ranghöchsten Gesetzes des Landes finden inzwischen umfassende Zustimmung. Extrem kontrovers ist jedoch noch neben der Rolle von speziellen Kadi-Gerichten für Muslime vor allem die Machtverteilung zwischen dem vorgesehenen Amt des Premierministers und des Präsidenten sowie die Anzahl ihrer Stellvertreter. Mit der Klärung dieses Verfassungsabschnittes ist die politische Zukunft der neuen Regierung auf das Engste verbunden. Einflussreiche NARC-Mitglieder, die mit der Verteilung der Kabinettspositionen nicht einverstanden waren, versuchen für sich und ihre Klientel nun verfassungsrechtlich verankerte Staatsfunktionen zu sichern. Die für die Qualität der neuen Verfassung schädliche Vermischung von grundlegenden Reformen mit tagespolitischen Interessenlagen wird über deren Entstehungsprozess bis zum letzten Tag wie ein Damokles-Schwert schweben.
Sowohl die Regierungskoalition NARC als auch die größte Oppositionspartei KANU haben erhebliche innerparteiliche Probleme. Das war nach dem Wahlausgang auch nicht anders zu erwarten, da die koalitionsbildenden NARC-Parteien nur eine und sonst keine Gemeinsamkeiten hatten: KANU zu besiegen. Das Wahlergebnis 2002 war folglich nicht unbedingt ein Votum für NARC, sondern vor allem eines gegen KANU. Die Gruppen und Individuen, die unter NARC zusammengefunden hatten, um die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, hätten von ihrem Charakter her nicht unterschiedlicher sein können. Was sie alle kurzzeitig vereinte, war der Wille zur Macht, aber nicht, dass sie in ihrer Regierungspolitik gleiche Vorstellungen hätten. Viele, kurz vor der Wahl von KANU zu NARC übergelaufene Politiker kennen noch nicht einmal das NARC-Wahlprogramm. Das NARC-Bündnis weist entlang ethnischer Linien bereits deutlich sichtbare Risse auf. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in den 15 NARC-Mitgliedsparteien Überlegungen angestellt werden, wie das NARC-Bündnis neu geordnet werden kann.
Zur Diskussion steht ein Zwei-Säulen-Modell, das die KANU- Überläufer in der LDP zusammenfasst und den restlichen Parteien unter Kikuyu Führerschaft eine neue, eigene Identität gibt. Ob sich damit die drittgrößte Ethnie Kenias, die Luhyas, anfreunden können, muss angezweifelt werden. Falls nicht, würde das Zwei-Säulen-Modell zu einem Dreirad, dessen Fahrtrichtung sehr ungewiss wäre. Kurz: Die NARC-Mitgliedsparteien werden sich in nicht allzu ferner Zeit neu aufstellen. Ob jedoch der große Wurf gelingt, der alle Mitgliedsparteien auflöst und NARC zu einer Partei klassischen Stils mit individueller Mitgliedschaft werden lässt, ist aus jetziger Sicht sehr fraglich.
Sind die NARC-Risse bisher nur an der Oberfläche und im uneinheitlichen Abstimmungsverhalten im Parlament sichtbar, hat das Wahlbeben KANU bereits bis ins Mark erschüttert. Auch nach den Wahlen verlor KANU noch weitere Mitglieder. Prominenteste unter ihnen sind der ehemalige Finanzminister Chris Okemo und der Wendehals Stephen Ndicho. Der Parteiaustritt Ndichos ist zwar kein echter Verlust, da er in den letzten acht Jahren fünf Mal die Partei gewechselt hat. Er spiegelt jedoch exemplarisch die Parteiuntreue kenianischer Politiker wieder, wenn es um persönliche Vorteile geht.
Der Reformflügel um den Präsidentschaftskandidaten und Fraktionsführer der KANU, Uhuru Kenyatta hat sich längst noch nicht gegenüber den KANU-Falken wie Nicolas Biwott und Gideon Moi durchgesetzt. Gideon Moi, Sohn des langjährigen Staatspräsidenten Daniel arap Moi, liefert sich im Hintergrund einen Machtkampf um die Vorherrschaft in KANU mit Uhuru Kenyatta, Sohn des Staatsgründers, Jomo Kenyatta. Vor lauter innerparteilichen Machtkämpfen blieb für die Parteierneuerung noch keine Zeit. Dabei wäre im Parlament eine starke Oppositionspartei extrem wichtig. Doch die Rolle der Opposition muss von einer Partei, die 30 Jahre lang die Regierung gestellt hat, erst von Grund auf gelernt werden. Die größte Herausforderung für die Regierungskoalition stellen daher im Parlament zur Zeit die NARC-internen Abweichler dar, nicht die 65 KANU-Abgeordneten. Bereits zwei Mal haben von der Regierung eingebrachte Gesetzesvorlagen trotz überwältigender NARC-Mehrheit im Parlament dort keine Mehrheit gefunden.
Ist die Kritik an der Regierung innerhalb des Parlaments gering, ist sie außerhalb des Parlaments praktisch verstummt. Fast alle Gruppen der Zivilgesellschaft hatten über Jahre hinweg ihr Arbeitsmandat aus der Bekämpfung der korrupten KANU-Strukturen abgeleitet. Mit der neuen NARC-Regierung ist dieses Berufungsmotiv (glücklicherweise) abhanden gekommen. Der Sektor der nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) ist dabei, sich gesund zu schrumpfen. Die einzelnen, gut etablierten NGOs haben es aber noch nicht geschafft, sich zwischen einer Beraterfunktion für eine vermeintlich gute Regierung und einer weiterhin kritischen Distanz zu den neuen Machthabern zu entscheiden. Viele ehemalige Aushängeschilder der Zivilgesellschaft haben bereits Funktionen in der Regierung übernommen und stürzen ihre alten Arbeitgeber mitunter in Existenzkrisen, da viele NGOs von einer prominenten Führungspersönlichkeit abhängen. Der Konsolidierungsprozess wird sich in den nächsten Monaten fortsetzen und intensivieren. In Anbetracht der sich neu bildenden politischen Landschaft wäre es zu wünschen, wenn eine leistungsfähige, wenn auch in ihrer Zahl reduzierte NGO-Gemeinde erhalten bliebe. Im Übereifer das NGO-Kind mit dem NARC-Bade auszuschütten, wäre für den weiteren Demokratisierungsprozess in Kenia keine Hilfe. Jede Regierung wird zu einer schlechten Regierung, wenn ihr Handeln nicht von kritischen Stimmen begleitet wird.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Fehlverhalten hochrangiger NARC-Politiker in Vergangenheit und Gegenwart in der Öffentlichkeit angeprangert werden müssen. Im Erziehungsministerium stehen bereits Minister und Stellvertreter unter Korruptionsverdacht. Fred Gumo muss extreme Gewinne im Zusammenhang mit Landtransfers erklären und die politische Zukunft seines Vorgesetzten, George Saitoti, ist aufs Engste mit den Enthüllungen um den Goldenbergskandal verbunden. Und das ist nur die Spitze eines Eisberges, über dessen Größe, nicht aber über dessen Existenz, zur Zeit nur spekuliert werden kann. Die Zivilgesellschaft muss Druck ausüben, damit auch für NARC unangenehme Wahrheiten veröffentlicht werden, um der Verwahrlosung der politischen Kultur der neuen Regierung entgegenzuwirken. Fehlt dieser Druck, wird das Vorbild der Parlamentarier schnell Schule machen. Die Volksvertreter haben sich ohne nennenswerte Proteste in der Öffentlichkeit bereits ihre monatlichen Diäten auf rund 6000 Euro erhöht und noch zusätzlich einen Dienstwagen und weitere Vergünstigungen gebilligt.
Zwar sollte niemand bereits Wasser in den Wein schütten, von dem die Kenianer seit drei Monaten im Demokratierausch trinken. Die Qualität und Intensität der Streitigkeiten innerhalb der Regierungskoalition geben jedoch Anlass zur Sorge, ob das edle Getränk nicht bald verblendet im Schierlingsbecher dargeboten wird. Zu viele Grüppchen innerhalb der Parlamentsfraktion agieren gegeneinander, ohne miteinander zu kommunizieren. Der Präsident kann aufgrund seiner immer noch angeschlagenen Gesundheit nicht die Führungsrolle einnehmen, die zur Zeit so dringend notwendig wäre. Andererseits legt die Regierungsmannschaft einen Reformeifer an den Tag, der die Erwartungen der Kenianer mehr als erfüllt. Dabei werden die Reformen in der Regel zwar nicht mit der erhofften Effizienz vorangetrieben, aber mit beipiellosem Eifer und Begeisterung.
Die eigentliche Bewährungsprobe steht der NARC-Regierung noch bevor, wenn es gilt, den Korruptionsfeldzug auch gegen Personen aus den eigenen Reihen zu führen. Dann wird sich entscheiden, ob NARC von einem Zweckbündnis zu einer Allianz mit Prinzipien reifen kann, die klar zwischen Freund und Feind unterscheidet.
aus: der überblick 03/2003, Seite 20
AUTOR(EN):
Roland Schwartz:
Dr. Roland Schwartz ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Nairobi, Kenia.