Der Geist des Aufbruchs zu neuen Grenzen wirkt in den USA bis heute
Amerikas "Durchbeiß-Gesellschaft" ist nicht im Wilden Westen entstanden, wie uns Hollywood erzählt, sondern Jahrhunderte früher im Nordosten des Landes. Von Anfang an war die Geschichte des Landes davon geprägt, dass scheinbar unüberwindbare Hindernisse bewältigt werden mussten. Das hat den Geist der unbegrenzten Möglichkeiten, den new frontier spirit, in den Vereinigten Staaten geprägt.
von Werner Meyer-Larsen
Gibt es ein Land ohne Grenzen? Oder eines, das seine Grenzen unablässig weitertreibt? Wenn wir uns umsehen auf der Welt und in der Weltgeschichte, können dies nur die Vereinigten Staaten von Amerika sein. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die 21 Jahrzehnte alten USA die einzige Supermacht der Welt. In Wirtschaft und Wissenschaft, in Militär und Technologie sind sie die großen Treiber der Weltgeschichte.
Im ersten Jahrzehnt des vergangenen Säkulums, also noch vor 1910, setzten die USA sich an die Spitze der Weltwirtschaft, im zweiten gewannen sie den "Großen Krieg", wie sie den Ersten Weltkrieg nennen. Im dritten Jahrzehnt, den zwanziger Jahren, entstand dort das erste Modell einer Gesellschaft im Massenkonsum. In den dreißiger Jahren hatten sie eine Reinigungskrise von nie gesehenen Ausmaßen durchzustehen, in den Vierzigern gewannen sie den Zweiten Weltkrieg, fast gleichzeitig in Europa und im Pazifik.
Im nächsten Jahrzehnt richtete Amerika durch ein paar kühne Schachzüge das zerstörte Europa wieder auf, in den Sechzigern landeten Amerikaner auf dem Mond, in den Siebzigern stürzte ihre Presse, die den Watergate-Einbruch aufgedeckt hatte, den eigenen Präsidenten und damit den mächtigsten Mann der Welt. Im folgenden Jahrzehnt starteten von Amerika aus die elektronische Revolution und der Space Shuttle, in den Neunzigern dann das Internet. Gleichzeitig wurden die USA mit der Selbstzerstörung des Sowjetreichs ihren größten Albtraum los.
Für sie war es ein unvergleichliches, eben das amerikanische Jahrhundert. Aber war das ein geschichtlicher Zufall oder ist es systemimmanent? Ist Amerikas Streben nach neuen Grenzen, nach den sagenhaften new frontiers, nur ein selbstgebautes Image oder ist es Realität? Auf jeden Fall hat es mit dem Selbstverständnis der Nation zu tun, also mit ihrem Entstehen, ihren Gewohnheiten und ihren anscheinend unzerstörbaren Prinzipien.
Es hatte alles schon mit den ersten Siedlern an der nordamerikanischen Ostküste begonnen. Sie kamen aus England, das sich bald im Wettrennen mit Frankreich Teile des neuen Kontinents aneignete. Aber wer ging damals, als noch hölzerne und plumpe Segelschiffe über den Atlantik trieben, schon gerne in die Kolonien? Die Weltmacht Britannien bot ja auch zuhause allerlei. Schon zu dieser, Amerikas britischer Zeit, ist es eine besondere Spezies von Leuten gewesen, die den Weg ins Ungewisse, den nach neuen Grenzen, gesucht hat.
Was die ersten britischen Siedler in der neuen Welt, in Neuengland, antrafen, kann sich kaum von dem unterschieden haben, was der römische Feldherr Quintinius Varus um die Zeitenwende im Teutoburger Wald vorfand. Wegelose Wälder, eine biestige Tierwelt mit Bären und Mückengeschwadern, dazu seltsame Menschen mit seltsamen Sitten und Hinterhälte zuhauf. Nur dass nun alles um den Faktor Hundert größer war als damals.
Das Land schien grenzenlos in seiner Ausdehnung und seinen natürlichen Reserven. Zu finden war hier einfach alles: Fabelhafte Buchten zum Ankern, wunderbarer landwirtschaftlicher Boden, Holz und Wasser im Überfluss, dazu Witterungsverhältnisse wie in der Heimat, wenngleich im Winter wie auch im Sommer alles etwas brutaler. Improvisation und Berserkerarbeit, Kühnheit und Risiko waren gefragt. Ein Dorado für Pioniere. Aber eben nur für sie.
Nicht zuletzt lebten dort in der Neuen Welt ja auch andere Menschen. Doch die kulturelle Auseinandersetzung mit den Indianern war für die Kolonialmacht bei solchem Überfluss an Natur nicht besonders schwierig. Die Indianer nutzten zwar ebenfalls die Weite des Landes, doch damit waren sie noch keine Expansionisten, keine Pioniere. Ihr Denken und ihre Kultur schienen den Briten mittelmäßig und statisch. Britannien marschierte über so etwas hinweg - wenn es nicht anders ging, auch mit Gewalt. Von den Traditionen der dort vorgefundenen Völkerschaften ließ es sich jedenfalls nicht beeinflussen.
Das umso weniger, als die Briten bald auch Leute aus anderen europäischen Ländern hereinließen. 1620 waren mit den Pilgrim Fathers angeblich die ersten Engländer in der Gegend des heutigen Boston angelandet, in einer "heulenden Wildnis", so ihr Führer William Bradford. Schon 63 Jahre später aber erschienen die ersten deutschen - oder fast deutschen - Einwanderer. Sie zogen in die unendlichen Wälder des Briten William Penn ("Penn-Sylvania"). Zwei Jahre später schrieb Penn begeistert: "Pastorus, der deutsche Quäker und seine holländischen Leute machen Anstalten, im nächsten Jahr Ziegelsteine herzustellen."
Auch Technik gehörte ja zum Pioniergeist, sie brachte ihm sogar beträchtlichen Auftrieb. Und da lieferten die deutschen Einwanderer viel. Später dann folgten die ganz großen Immigrationswellen, die der Italiener, Iren, Skandinavier und Polen. Sie alle, wie auch die Deutschen, hatten vorher bereits den Mut aufbringen müssen, den restriktiven politischen, gesellschaftlichen und religiösen Regeln ihrer Herkunftsländer zu entrinnen - durch eine abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse. Die großen Buchten Neuenglands gelten noch heute als größte Schiffsfriedhöfe aller Zeiten: Wer die frühen Passagen überlebte, hatte auch deshalb schon wenig Lust, ins Land seiner Geburt zurückzukehren.
Die Reise nach Amerika ist, außer für Kapitäne und Mannschaften der britischen Marine, also ein One-way-ticket gewesen, eine Fahrt ohne Wiederkehr, die Abnabelung von allem. Zuzugreifen, mitzumachen, Risiken einzugehen, Höfe, Städte, Industrien auf den gerodeten Boden zu bauen, war eine Überlebensfrage. Wer nicht mittat, war verloren. Wie wir wissen - man schaffte es. Doch der Preis, die Anforderung an die eigene Leistungskraft, ist stets hoch gewesen - zumindest für die Einwanderer selbst, insbesondere für Frauen und Kinder.
Amerikas Durchbeißgesellschaft ist nicht im Wilden Westen entstanden, wie uns Hollywood weismachen möchte, sondern zwei Jahrhunderte früher im Nordosten des Landes. Zunehmend hatten sich die Neu-Amerikaner nicht nur mit den klimatischen und zivilisatorischen Umständen herumzuschlagen, sondern eben auch mit jeweils anderen ethnischen Gruppen und mit jenen, die schon früher gekommen waren. Die "Neuen", bar englischer Sprachkenntnisse, hatten für das Establishment stets die Kuliarbeit zu leisten. Damals waren es die Iren und Italiener, jetzt sind es die Latinos. Doch die Kulis setzten immer wieder alles daran, gesellschaftlich aufzusteigen. Auch sie wollten zu neuen Grenzen vorstoßen.
Vielleicht hat die Pioniers-Attitüde Amerikas durch die frühe Durchmischung der Bevölkerung sogleich etwas Genetisches angenommen. Eine aparte Kreuzung von britischer Unverfrorenheit, deutscher Penibilität, südeuropäischer Hitzebeständigkeit und irischem Durchhaltewillen ist es wohl gewesen, die Amerikas Pioniergeist ausgemacht hat. Diese Mixtur nämlich hat bei allen unterschiedlichen Zählern zumindest einen gemeinsamen Nenner: Sich durch das scheinbar Unmögliche nicht davon abhalten zu lassen, vorwärts zu kommen.
Nonchalance und Missachtung des Konventionellen gehören zwingend dazu. Der von Briten abstammende George Washington, Amerikas erster Präsident, war ein solcher Mann. Er war sozusagen der Mann der Stunde. Nachdem man die "Bostoner Tea-Party" tollkühn durch die Unabhängigkeitserklärung der britischen Kolonialprovinzen ergänzt hatte, bekam man es rasch mit der überlegenen englischen Militärmacht zu tun. Acht Jahre sollte der dann folgende Unabhängigkeitskrieg zwischen den Revoluzzern und den Kolonialherren dauern.
Befehlshaber der kärglich ausgestatteten Revolutionärsarmee war jener George Washington. Er gewann den Krieg, weil er sich so verhielt wie zweihundert Jahre später der Vietnamese Ho Tschi Minh. Er nutzte die Tücken der Landschaft und ihre natürlichen Hinterhalte, um die Briten immer wieder auszutricksen, bis sie sich entschlossen, einstweilen aufzugeben. Die letzte und entscheidende Schlacht dieses Krieges - bei Yorktown - hatte der unkonventionelle Washington gar nicht selber gewonnen, sondern dies dem jungen französischen General Graf Lafayette überlassen.
Zu einem solch haarsträubenden Ma-növer hatte auch der legendäre US-Präsident Abraham Lincoln später greifen wollen, als es im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) schlecht um ihn stand: Er bot dem italienischen Nationalhelden General Garibaldi das Oberkommando der Unionsstreitkräfte an. So als hätte Otto von Bismarck sich 1866 für seinen Krieg gegen die Österreicher um den gerade arbeitslos gewordenen amerikanischen Südstaaten-General Lee bemüht.
Alles also nicht so ganz "normal". Doch kommen wir zu den new frontiers zurück. Bereits zwischen ihren beiden Kriegen hatten die Amerikaner die beiden größten - und unblutigsten - Landnahmen der modernen Geschichte erledigt. 1803 kauften Präsident Thomas Jefferson und sein Pariser Botschafter James Monroe dem finanziell ausgepowerten Napoleon Bonaparte nahezu die gesamte Landmasse zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains zum Vorzugspreis von 15 Millionen Dollar ab. Dieser Rundumschlag ging als Louisiana Land Purchase in die Geschichte ein und verdoppelte das US-amerikanische Staatsgebiet schlagartig. Fünfundvierzig Jahre später fuhr der inzwischen fast vergessene Präsident James Polk (1845 bis 1849) eine ähnliche Ernte ein. Diesmal ging es um die Landmasse jenseits der Rockies. Im "mexikanischen Krieg" von 1848 fiel Amerikas gesamter Westen an die Yankee-Union: Kalifornien, Nevada, Oregon, Arizona, New Mexico, Washington, Utah und Teile Colorados. Zusammen mit Texas, das sich 1845 freiwillig zur Union meldete, hatte der unscheinbare Polk das US-Staatsgebiet noch einmal so gut wie verdoppelt.
Nach Lincolns Bürgerkrieg gegen die abtrünnigen Südstaaten schien es für Amerikas Pioniere kaum noch geografisches Neuland zu geben. Doch weit gefehlt. Nur zwei Jahre später, 1867, kauften die Amerikaner dem russischen Zaren für 7,2 Millionen Dollar das Ödland Alaska, heute Amerikas flächenmäßig größter Bundesstaat, ab. Viele fanden den Preis viel zu hoch. Bis dort Gold und später Öl gefunden wurde.
Nachdem die geografischen Grenzen nun ausgeschritten waren, wandte sich der Tatendurst des Pionierlandes dem Eisenbahnbau und der Schifffahrt zu. Fast im Handumdrehen war der gewaltige Kontinent logistisch erschlossen. Mit Andrew Carnegie (Stahl), John Pierpont Morgan (Finanzen) und John Davison Rockefeller (Öl) kreierten die USA dann den neuen Typ des Konzernmagnaten. Man operierte mit Unternehmen einer bis dahin unerhörten Größenordnung. Ende des 19. Jahrhunderts besaß John D. Rockefeller mit 90 Prozent Marktanteil das Welt-Ölmonopol. Die Besiedlung des Wilden Westens mit ihrer zeitweisen Gesetzlosigkeit war im Vergleich dazu ein schwaches Säuseln.
In diese Zeit hinein wurde auch Theodore Roosevelt - auch Teddy oder TR genannt - geboren, der 1901 mit 42 Jahren als bisher jüngster US-Präsident ins Weiße Haus einzog. Seinen Vorgänger William McKinley hatte man auf der pan-amerikanischen Ausstellung zu Buffalo (New York) erschossen. Teddy Roosevelt, der sich im Übrigen gerne in gefährliche Abenteuer einließ und eine Schwäche für den amerikanischen Westen besaß, war ein belesener Mann mit ausgeprägtem Geschichtsverständnis. Als erster amerikanischer Präsident gab er den traditionellen Isolationismus der Nation auf und begann sich in auswärtige Dinge einzumischen.
Amerikas Staatsgrenzen, sagte er schon zu seinen Zeiten als stellvertretender Marineminister, seien zwar abgesteckt. Um sie aber auch abzusichern, benötigten die USA eine variable Hochseeflotte und müssten ihren Einfluss auf das gesamte strategische Vorfeld ausdehnen. Dies wiederum ließ sich je nach Stand der Kriegstechnik beliebig erweitern. So brach 1898 dank Roosevelt der amerikanisch-spanische Krieg aus, in dessen Folge Kuba, Guam, die Philippinen, Puerto Rico und Hawaii unter amerikanischen Einfluss gerieten.
Aus strategischen Gründen ließ TR den Panama-Kanal bauen, zu welchem Zweck er die Provinz Panama von Kolumbien abspaltete und sie zu einer Art Satellitenstaat beförderte. Später griff er, um Amerikas Interessengebiete noch weiter zu stecken, vermittelnd in den russisch-japanischen Krieg ein, was ihm den Friedensnobelpreis einbrachte. Roosevelts Interventionalismus wurde zwar von seiner eigenen Partei, den Republikanern, mehrheitlich abgelehnt, ist aus der Politik des Landes - außer in den zwanziger Jahren - aber nie wieder verschwunden.
Schon gar nicht aus den Visionen seines Vetters fünften Grades Franklin Delano Roosevelt, der von 1933 bis 1945 im Weißen Haus herrschte. Der jüngere Roosevelt, FDR genannt, wird inzwischen als erfolgreichster Politiker des 20. Jahrhunderts angesehen. Teilgelähmt und an den Rollstuhl gebunden, führte er die USA nicht nur aus der Weltwirtschaftskrise heraus, sondern gewann triumphal den Zweiten Weltkrieg. Er gründete die Vereinten Nationen und unter ihm entstand 1944 in Bretton Woods das neue westliche Währungssystem, womit FDR den Kalten Krieg wohl schon gewonnen hatte, noch bevor er überhaupt ausgebrochen war.
Jeder andere US-Präsident fühlt sich seitdem im Schatten von FDR. Als eigentlicher Gründer der amerikanischen Supermacht hatte Roosevelt die politischen Grenzen, die sein Land besaß, so gut wie vollkommen ausgeschritten. Doch pionierhaft und kreativ blieb die Nation auch danach, wiewohl sich die Einwandererströme dramatisch veränderten und die Einflusssphäre der USA an den Grenzsteinen des Sowjet-Empires endete. Was am Ende aber den Zusammenbruch des Moskowiter-Reiches erst auslöste.
Im Grunde hat kein Amerikaner je ernsthaft daran gezweifelt, dass seine Nation den Sowjet-Kommunismus überleben würde. Auch mit dem Sino-Kommunismus hält man es so. Diese Art Selbstgefühl geht gleichfalls auf die eingefleischte New-Frontier-Gesinnung der Amerikaner zurück. Man erlebte es letztlich sogar bei den Olympischen Spielen, als etwa die Läuferin Marion Jones vorab verkündete, fünf Goldmedaillen nach Hause schleppen zu wollen. Zwar wurden es dann weniger, aber ohne den großen Versuch wäre es vielleicht gar keine geworden. Zum amerikanischen Pioniergeist gehört eben auch ein Quantum Selbsthypnose.
Im weiteren Sinne lebt von dieser Selbsthypnose die gesamte amerikanische Gesellschaft. In Wirtschaft, Wissenschaft, in Technik und auch im Privatleben will man stets das Unmögliche, stets einen neuen Maßstab setzen. "Unmöglich" bedeutet für Amerikaner ohnehin nur, dass andere etwas für unmöglich halten, nicht sie selbst. Überraschend oft werden sie im Übrigen auch darin bestätigt. Weil sie eben meist mehr riskieren als andere, dabei aber auch den vollkommenen Fehlschlag in Kauf nehmen. Es war dann halt ein Versuch.
Gerne halten sie sich auch für besser als sie sind. Taucht eine knifflige Frage auf, so heißt es erstmal "kein Problem" - und dann wird solange versucht und gefummelt, bis irgendwann eine Lösung da ist. Oder auch nicht. Weil das so ist, konnte auch die amerikanische Schuldenwirtschaft immer wieder zu neuen Grenzen aufbrechen. Kaum dass die Bundesregierung unter Clinton begonnen hatte, Schulden abzubauen, stürzten sich die Privat- und Geschäftswelt mit großer Wonne in neue. Die private Sparrate der Amerikaner beträgt gegenwärtig minus 0,6 Prozent. Dahinter steht der Anspruch, alles Neue und alles Begehrenswerte so schnell wie eben möglich zu greifen. Jede Familie, jede Einzelperson visiert ihre eigenen new frontiers an. Solange der Geldkreislauf keine Unwucht zeigt, bringt dies der US-Wirtschaft unablässig Spitzenwerte. Die internationale Fachwelt steht vor einem Rätsel: Die US-Wirtschaft wächst selbst nach zehn Jahren Dauerkonjunktur immer noch schneller als allgemein geweissagt wurde. New Frontiers wirkt. Es steckt eben in jedem Kopf.
Damit verbunden ist allerdings ein unbekümmerter Ressourcenverbrauch. Da wird nicht lange gefackelt. Wenn etwas sein muss, müssen eben Bodenschätze, Feuer und Wasser her, so schnell es geht. Da das Tempo die Wege bestimmt, sind die Lösungen oft grandios. Aus diesem Denken zum Beispiel entstammt der heute produktivste Teil des Bundesstaates Kalifornien, der von San Franzisco bis zur mexikanischen Grenze. Geologisch gesehen ist dieses Gebiet eine Halbwüste, fast ohne Flüsse, mit eingesprengselten Vollwüsten. Gut für allenfalls ein bis zwei Millionen Einwohner.
Im Jahre 2000 zählt Südkalifornien aber um die dreißig Millionen Menschen. Des Rätsels Lösung ist die Beschaffung von Wasser. Für diese wiederum steht der gebürtige Ire William Mulholland, der bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts begann, Wasser für das damals noch kleine Los Angeles zu beschaffen. Mulholland fing mit Bohrungen, mit offenen und geschlossenen Leitungen an, die das Wasser über hunderte von Kilometern vom inzwischen fast trockenen Monosee und vom Colorado-Fluss in die zwölf Millionen Menschen starke Großregion Los Angeles transportierten.
Mulholland, ein Pionier, ein Besessener und ein Autodidakt, verschwand erst in der Versenkung, als 1926 eines der vielen von ihm gebauten Reservoire, der Saint-Francis-Damm, platzte und 400 Leute unter sich begrub. Doch Südkalifornien leidet auch jetzt noch nicht unter Wassermangel, weshalb Mulholland trotz dieses Desasters in vielen Straßennamen verewigt ist.
Aus den wilden Tagen der kalifornischen "Wasserkriege" stammt übrigens auch ein Film mit dem jungen John Wayne in der Hauptrolle. Sinnvollerweise trägt er den Titel New Frontiers. Doch Wayne spielt dort einen Verhinderer, der ganze Ortschaften vor dem Zugriff der Wasserbarone bewahrt. Völlig unamerikanisch also. Doch die Sache ist ja abgehakt: Slow grow hat keine Chancen in Amerika.
Währenddessen steht Hurry-up-Amerika vor einer neuen, wohl säkularen Herausforderung an seinen Pioniergeist. Mit letzterem haben die USA es inzwischen so weit getrieben, dass die Welt-Rohölpreise unkomfortabel hochgeschossen sind. Zwanzig-Liter-Schluck-Autos wurden wieder Standardware. Nun aber ist Amerika derart vom Nahost-Öl abhängig, dass jeder Konflikt in jener Region die Aktienindices jäh nach unten treibt. Doch selbst Pioniere sind nicht immer auch Visionäre. Um die Öl-Abhängigkeit wenigstens zu begrenzen, hat das New-Frontiers-Land bisher wenig getan.
Dies, so steht zu vermuten, könnte sich ändern. Und wenn, dann im gewohnt grandiosen Stil. Wie hieß es doch einst so schön in der Anzeigenserie des weltgrößten Mineralölkonzerns: "Es gibt viel zu tun - packen wir's an". Tea Partys waren zu dieser Zeit bei den reicheren Leuten an der amerikanischen Ostküste sehr beliebt. Als die Briten nach dem siebenjährigen Krieg die Steuern auf Tee drastisch erhöhten, begannen Bewohner Bostons eine Revolte gegen die britische Kolonialherrschaft. Das war der Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges.
Zweierlei Grenzen: Frontier und BorderDie Frontier als Grenzbereich zwischen Zivilisation und Wildnis ist sowohl ein historischer Fachbegriff als auch ein Schlüsselkonzept der UN-amerikanischen Identität. Was ist unter dem Begriff zu verstehen? Das statistische Bundesamt der USA beschrieb seit den 1870-er Jahren die Frontier demografisch, nämlich als Siedlungsgebiete mit einer Bevölkerungsdichte zwischen zwei und sechs weißen Bewohnern pro Quadratmeile. Sie galten damit als Berührungsgebiete zwischen den westlichsten Ausläufern der amerikanischen Zivilisation und unbewohnten oder indianischen Territorien, welche von den USA nicht als souveräne Staaten anerkannt wurden.Anhand der Verschiebung der Frontier lässt sich die kontinentale Expansion der USA nachvollziehen: Lag die Siedlungsgrenze in der Kolonialzeit quasi noch im Hinterland der Ostküste, schob sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in westlicher Richtung bis zur Mitte Nordamerikas. Mit der Annexion der nördlichen Hälfte Mexikos und der Aufnahme Kaliforniens in die Union im Jahre 1848 wuchs die Bevölkerungsdichte dann auch von dort aus, bis sich die Frontier um 1890 in vereinzelte Flecken auf der Landkarte auflöste. Frontiergebiete entwickelten sich in fünf Besiedlungsstufen: Auf Trapper und Pelzhändler folgten Viehzüchter, dann insbesondere im 19. Jahrhundert Minenunternehmen, als nächste Farmer und schließlich eine Stadtbevölkerung. 1893 stellte der Historiker Frederick Jackson Turner (1861-1932) seine frontier thesis vor; sie ist die erste akademische Ausformulierung von schon früher wirkenden Konzepten und Mythen über den amerikanischen Nationalcharakter. Danach sind die Vereinigten Staaten entscheidend von dem 300 Jahre währenden Prozess der Besiedlung der Wildnis geprägt. Der raue agrarische Charakter der Frontier förderte Turner zufolge Individualismus, Gleichheit und demokratische Gesellschaftsformen. Klassengegensätze verschwanden, Bildung und Kultur hatten einen geringen Stellenwert, und sozialer Status drückte sich in materiellem Wohlergehen aus. Der klassische Siedler-Farmer, so Turners Modell weiter, war zäh, anpassungfähig, ehrgeizig und konnte durch die Überwindung von Naturgewalten und von Indianern aus der Mittellosigkeit zu bescheidenem Wohlstand aufsteigen. So drückte die Frontier den europäischen Pionieren einen dezidiert amerikanischen Stempel auf und übte eine nachhaltige Wirkung auf die gesamte amerikanische Gesellschaft und ihre Institutionen aus. Auch wenn die städtische und später die industrielle Zivilisation nachrückte, blieb die Frontier als Quelle der Regeneration von agrarisch-demokratischen Tugenden erhalten und machte Generation auf Generation von Einwanderern zu genuinen Amerikanern. Im Gegensatz zu europäischen Staaten verfügten die USA mit dem offenen Westen auch über ein "Sicherheitsventil", über das der soziale Druck der Industrialisierung und ihrer Begleiterscheinungen abgelassen werden konnte, erklärte Turner. Sein Modell ist auch nach über einhundert Jahren noch einflussreich, wenn auch höchst umstritten. Detaillierte Studien des sozialen Gefüges in Frontiergebieten, zum Beispiel über die Rolle von Frauen und die Interaktion mit Indianern, zeichnen heute ein räumlich und zeitlich weit differenzierteres Bild von verschiedenartigen Frontiers. Während Turner auch auf negative Aspekte der Frontier verwies wie etwa auf den rücksichtslosen Individualismus und die Gesetzlosigkeit, wurde sie in der populären Wahrnehmung zu einem durchweg positiv besetzten, mythischen Raum. Die Frontier als Ort der Herausforderung und Bewährung symbolisierte Fortschrittsoptimismus, missionarische Zivilisierungsideale und ökonomische Markterschließung. Sie wurde damit zu einem Fundament des amerikanischen Selbstbewusstseins. Dieser populäre Mythos ist bis heute ungebrochen. Er begegnet uns schon in James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Romanen (1823-1841), prägte das Genre des Western und lebt in der an ein Massenpublikum gerichteten Science Fiction (Space - the final frontier) fort. Ökonomische, politische oder soziale Fragen werden mit Hilfe des Konzeptes der Frontier als Ausdruck des amerikanischen Pioniergeistes feilgeboten. Im Gegensatz zum symbolisch überfrachteten Begriff der Frontier bedeutet Border zunächst schlicht eine Demarkationslinie - entweder eine zwischen den teilsouveränen Bundesstaaten der USA oder die Staatsgrenze zu Kanada im Norden und Mexiko im Süden. Die mexikanisch-amerikanische Grenze spielt allerdings in jüngster Zeit eine wichtige Rolle für die Debatte um die kulturelle und ethnische Identität der Chicanos, der US-Amerikaner mexikanischen Ursprungs. Als Grenzgänger zwischen zwei Kulturen stellen sie Versuche in Frage, Nation und Identität eindeutig zu definieren. Sie verkörpern unbewältigte Widersprüche des amerikanischen Expansionismus, dienen aber auch als Vermittler im interkulturellen Dialog. Die Border als kulturwissenschaftlicher und kulturgeografischer Begriff verweist somit auf die ideologischen Prozesse des Aus- und Eingrenzens, die mit der Bildung der amerikanischen Nation und ihrer Identität einhergingen und -gehen - Prozesse, die der Mythos der Frontier gerade ausblendet. Tom Clark Thomas Clark ist Amerikanist und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für England- und Amerikastudien der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main |
aus: der überblick 04/2000, Seite 35
AUTOR(EN):
Werner Meyer-Larsen:
Werner Meyer-Larsen ist freier Autor in Kalifornien. Er war lange Redakteur und USA-Korrespondent des Spiegel.