Die Kulturkarawane der Straßenkinder
Marcelo Bazan Rodriguez ist Schauspieler. Die rund zehnminütige Szene vom "Pinkler" wird er an diesem Nachmittag, am Weltkindertag, noch öfter im Christus-Pavillon aufführen. Marcelos Gruppe heißt "El Agujon", was nicht nur Nähnadel bedeutet, sondern auch Stachel. Sie kommt aus El Alto, einem armen Viertel am Rand der bolivianischen Hauptstadt La Paz.
von Detlev Brockes
Im Innenhof des Christus-Pavillons auf der Expo hat der elfjährige Marcelo ein dringendes Bedürfnis. Wo es denn eine Toilette gebe, fragt er einen der Umstehenden auf Spanisch, wartet die Antwort kaum ab, eilt weiter und verzieht gefährlich das Gesicht. Kein Zweifel, der Junge muss. Da keine Toilette in Sicht ist, ein letzter Blick über die Schulter, und dann stellt sich in hohem Bogen Erleichterung ein. Aber die währt nicht lange: Ein Polizist entdeckt den Jungen und bestraft ihn mit einem Bußgeld. Weil Marcelos Taschen leer sind, muss er mit zur Wache, und nachdem ihn auch dort sein Bedürfnis ereilt (ausgerechnet während der Polizeioffizier das Lob des Gesetzes schwingt), wird die Gangart noch härter. Der Elfjährige kommt ins Heim Drill, Schikane, Disziplin. Noch zwei Wochen, dann werde er entlassen, heißt es immer wieder aber das wird dem Jungen so oft versprochen, dass darüber Jahre vergehen.
Marcelo Bazan Rodriguez ist Schauspieler. Die rund zehnminütige Szene vom "Pinkler" wird er an diesem Nachmittag, am Weltkindertag, noch öfter im Christus-Pavillon aufführen. Marcelos Gruppe heißt "El Agujon", was nicht nur Nähnadel bedeutet, sondern auch Stachel. Sie kommt aus El Alto, einem armen Viertel am Rand der bolivianischen Hauptstadt La Paz.
"El Agujon" nahm an der "KinderKulturKarawane" teil: sieben Straßenkinder-Kulturgruppen, die zwischen Ende August und Anfang Oktober durch Deutschland tourten (siehe Kasten). Organisiert wurde die "Karawane" von der Fachstelle für Kultur des Kirchlichen Entwicklungsdienstes (KED Kultur) in Hildesheim und dem Büro für Kultur- und Medienprojekte in Hamburg, zwei Partner, die bereits anlässlich der Bildungsmesse "INTERSCHUL/didacta" Anfang des Jahres in Köln zusammen gearbeitet hatten: Sie hatten dort die Sonderschau "Globales Lernen" koordiniert. Zum Etat der "KinderKulturKarawane" (rund 400.000 Mark) trugen der Ausschuss für Entwicklungsbezogene Bildung und Publizistik (ABP) und die Hannoversche Landeskirche bei, außerdem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die Kindernothilfe sowie die Städte Hildesheim und Montevideo.
Rund 230 Aufführungen und Workshops zwischen München und Lübeck, Aachen und Cottbus absolvierte die "Karawane", berichtet Ralf Classen vom Büro für Kultur- und Medienprojekte. Die Kinder und Jugendlichen traten in Schulen, Kirchengemeinden und Stadtteilzentren auf, und für alle stand auch die Expo auf dem Tourneeplan. "Theater und Musik ermöglichen eine intensive Kommunikation über Sprachgrenzen hinweg", betont Classen. "Die Kids wollen keine Almosen. Sie wollen als Kulturschaffende akzeptiert werden, die ihr Land und ihre Arbeit vorstellen." Es gehe nicht darum, Betroffenheit zu erzeugen, sondern einen "Austausch auf Augenhöhe" zu ermöglichen. "Kulturarbeit stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder", so Classens Erfahrung. Sie sei ein Schlüssel, um Straßenkinder in ein Leben zu integrieren, "das ihnen wirklich gefällt".
Immer an den Knotenpunkten des Karawanenweges, also dort, wo Gruppen aufeinander trafen, sei es am spannendsten gewesen, resümiert Clementine Herzog von KED Kultur. Einer dieser Knotenpunkte war Hildesheim, wo das südafrikanische M.U.K.A.-Projekt und die philippinische Gruppe PETA zwei Wochen lang ein Stück erarbeiteten, das dann auch auf der Expo zu sehen war. Titel: "Die Zukunft sind wir!". Ausgangspunkt waren Schöpfungsmythen aus beiden Ländern, daran knüpften die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler ihre eigenen Erfahrungen. Mit Worten, Musik und Bewegung erzählten sie von ihrem Leben auf der Straße, von materieller und emotionaler Armut, von Ausbeutung und Gewalt. Aber auch von ihren Träumen, von Sehnsucht, Hoffnung und Solidarität.
"Der Workshop mit den beiden Gruppen, die sich vorher nicht kannten, war ein Experiment", sagt Clementine Herzog. Und es lief gut: Von Anfang an mischten sich die Teams. Verständigungsschwierigkeiten: keine. Regie führte der Kulturpädagoge und Schauspieler Frank Matzke, der nach eigenen Worten "seit 15 Jahren mit Menschen arbeitet, die ihre Sichtweisen aus besonderen gesellschaftlichen Blickwinkeln artikulieren".
Für Marcelo, den jungen Schauspieler von "El Agujon", war die "KinderKulturKarawane" bereits der dritte Deutschland-Besuch. Neben dem "Pinkler" spielt er in einem weiteren Stück namens "Malvadin und Malvadon" einen Müllarbeiter. Es ist eine der Produktionen, die "El Agujon" zusammen mit der Firma "Clima" entwickelt hat, die in La Paz für die Müllentsorgung zuständig ist. Die Stücke handeln von Sauberkeit und Recycling und werden regelmäßig in Schulen aufgeführt. Der Elfjährige, der gerne Fußball spielt und Pommes Frites isst, ist übrigens selbst schon zum Lehrenden geworden: Er unterrichtet in El Alto eine Gruppe von Kindern, die gerade erst anfangen, Theater zu spielen.
Kontakt: KED Kultur,
Tel. (0 51 21) 93 74-33,
e-mail: kultur.ked@t-online.de
Büro für Kultur- und Medienprojekte, Tel. (0 40) 39 90 00 60,
e-mail: buero@kultur-und-medien.com,
Homepage: www.kultur-und-medien.com
Die Gruppen der "KinderKulturKarawane"Straßenkinder gründeten 1995 im südafrikanischen Johannesburg das M.U.K.A.-Theaterprojekt. Musik und Tanz sind wichtige Teile der Arbeit. Im Stück "Überleben Weinen hilft nicht" kommen Menschen zu Wort, die von den Deportationsaktionen der Regierung betroffen sind. El Agujon entstand 1980 als Reaktion auf die damalige Militärdiktatur in Bolivien und formierte sich 1996 neu. Regelmäßig werden Theater-Workshops für Kinder und Jugendliche veranstaltet. Das Zirkustheater PARADA kommt aus dem rumänischen Bukarest, wo ein französischer Clown seit 1995 mit Straßenkindern vom Bahnhof arbeitet. Parterre-Akrobatik und Jonglage auf Stelzen wechseln sich ab mit Musiknummern und Clowntheater in fantasievollen Kostümen. Die Zirkusarbeit ist in ein umfassendes Streetwork-Programm eingegliedert. PETA ist eine theaterpädagogische Vereinigung auf den Philippinen und arbeitet seit 1981 mit Straßenkindern, vor allem im Großraum Manila. Das Stück "Es war einmal ein Traum" wirft das Schicksal von Mädchen auf, die Menschenhändlern in die Hände fallen. Ndere Kids aus Uganda hat zum Ziel, benachteiligten Kindern durch Theaterarbeit neues Selbstvertrauen zu geben. Das Programm ist eine fantastische Mischung aus Tanz, Gesang und instrumenteller Musik. Für einige Kinder kann eine Schulausbildung finanziert werden. Movimiento Tacurú aus Montevideo hat sich der Murga verschrieben, einer speziell in Uruguay entstandenen Mischung aus Theater, Musik, Satire und Parodie. Mit wenigen Instrumenten, viel Rhythmus und vor allem dem mehrstimmigen Gesang erzählen die Kinder vom täglichen Kampf um ein menschenwürdiges Leben, von Träumen und Hoffnungen. Soziale Fragen spielen eine zentrale Rolle bei der Experimental Theatre Foundation aus dem indischen Mumbai. Nach dem Grundsatz "Gesellschaft für das Theater und Theater für die Gesellschaft" hat die Gruppe schon mehr als 50 Stücke auf die Bühne gebracht. |
aus: der überblick 04/2000, Seite 135
AUTOR(EN):
Detlev Brockes:
Detlev Brockes ist freier Journalist.