Städte wie Tijuana im Norden Mexikos leben von ihrer Lage im Grenzgebiet zu den USA
Die Wirtschaft in der Grenzregion Mexikos zu den Vereinigten Staaten hat von der Wechselwirkung mit dem reichen Nachbarn profitiert. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts bot sie den Amerikanern Vergnügungen an, die bei ihnen zu Hause verboten waren - etwa den Alkoholkonsum und die Prostitution. Der Handel, der Tourismus und nun auch die Endfertigung von Industriegütern für US-Konzerne schaffen in Mexikos Grenzregion Arbeitsplätze und machen sie zu einem attraktiven Ziel für Zuwanderer aus dem Süden des Landes. Zugleich pendeln täglich Zehntausende zur Arbeit in die USA - über eine Grenze, die doch zu den bestbewachten der Welt zählt.
von Laura Velasco Ortíz und Oscar F. Contreras
Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten ist mehr als 3000 Kilometer lang. Es handelt sich im Grunde um ein ausgedehntes geografisches Gebiet, in dem die Linie, die die beiden Länder trennt, gleichzeitig das wichtigste Mittel für Kontakte und Kommunikation darstellt. Im Unterschied zu den meisten anderen Grenzregionen der Welt treffen hier zwei ganz ungleiche Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme aufeinander: Der entwickelte Norden trifft auf den armen Süden.
Die heutige Grenze zwischen den USA und Mexiko wurde 1848 nach einem verheerenden Krieg festgelegt, in dem Mexiko mehr als die Hälfte seines ursprünglichen Territoriums an die USA verlor. Die Grenzlinie wurde durch nahezu unbewohntes Gebiet gezogen, und bis Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten Grenzsiedlungen auf mexikanischer Seite lediglich Durchgangsstationen zwischen den beiden Ländern.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann im Norden Mexikos ein wirtschaftlicher Entwicklungsprozess; er wurde hervorgerufen von ausländischen Kapitalanlagen in Eisenbahnen, Minen, Landwirtschaft und Tourismus. Die Freihandelspolitik der mexikanischen Regierung für das Grenzgebiet sowie die sozialen und geschäftlichen Verbindungen, die sich de facto bereits zwischen den Ortschaften beiderseits der Grenze entwickelt hatten, führten auf der mexikanischen Seite der Grenze zu einem Besiedlungs- und Verstädterungsprozess.
Grundlage der Wirtschaftspolitik war die 1885 eingeführte Regel der "freien Zone" im Steuerrecht, die mit gewissen Veränderungen bis heute Bestand hat. Sie sollte die Einfuhr von Waren in bestimmte Gebiete erleichtern. Ursprünglich war diese Politik eine Reaktion auf die Notwendigkeit, die Grenzregion zu besiedeln, um die nationale Souveränität zu sichern. Später wurde dann die von Abgaben befreite Wareneinfuhr zu einer Art Gewohnheitsrecht der Händler und Bewohner in dieser Region.
In der ersten Phase des Wirtschaftswachstums spielten auf der mexikanischen Seite der Grenze Einrichtungen, die dem Alkoholkonsum, dem Glücksspiel und der Prostitution dienten, eine große Rolle, da dies alles in den Vereinigten Staaten von 1919 bis 1933 verboten war. Nach dem Zweiten Weltkrieg festigten die mexikanischen Grenzstädte ihre Stellung als Dienstleistungs- und Handelszentren. Orte entlang der Grenze wie Tijuana, Mexicali, Nogales, Ciudad Juárez, Nuevo Laredo und Matamoros wuchsen und nahmen stetig an Bevölkerung zu. Den Anstoß für diesen zweiten Aufschwung gaben dieselben Faktoren wie für den ersten - ausländische Investitionen, die "freie Zone" und der Tourismus -, diesmal aber verstärkt von einem ständigen Strom von Zuwanderern aus der Mitte und dem Süden Mexikos. Dieser Zustrom nahm seit den vierziger Jahren große Ausmaße an; die Grenzstädte waren sowohl Ziel der Zuwanderung als auch Durchgangsstation auf dem Weg in die Vereinigten Staaten. Eine wichtige Rolle spielte dabei das sogenannte Tagelöhnerprogramm, ein Programm zur Anwerbung von Arbeitskräften für die landwirtschaftlichen Gebiete der Vereinigten Staaten, vor allem in Kalifornien.
Die bisher letzte Etappe in der Entwicklung der Grenzregion begann Ende der sechziger Jahre, als das Programm zur Industrialisierung der Grenzgebiete ins Leben gerufen wurde. Das erleichterte die Gründung von maquiladoras, ausgelagerten Fertigungsstätten von US-amerikanischen Unternehmen, mit Kapital aus den USA. Das Programm hatte das Ziel, Tausenden von Mexikanern Arbeit zu geben, die freiwillig oder gezwungenermaßen aus den USA zurückkehrten, sobald das Tagelöhnerprogramm beendet war, mit dem mexikanische Arbeiter für die kalifornische Landwirtschaft angeworben worden waren. Diese Fabriken, die bald zu wichtigen Arbeitgebern wurden, übernahmen die Endfertigung von elektronischen Apparaten und Bekleidung. Seit den siebziger Jahren ist die Grenze nicht mehr nur Durchgangsgebiet auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, sondern selbst ein Anziehungspunkt als alternativer Arbeitsplatz für viele Arbeiter aus der Mitte und dem Süden des Landes. Die maquiladora-Unternehmen sowie die exportorientierte Landwirtschaft, die ebenfalls in der dritten Entwicklungsphase von internationalem Kapital vorangetrieben wurde, boten Beschäftigungsmöglichkeiten für die am meisten. verarmten Gebiete des Landes.
Kurz: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Handel und Dienstleistungen, die eng mit der Grenzlage dieser Städte verbunden waren, das Bevölkerungswachstum und die Verstädterung im Grenzgebiet ermöglicht. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kam eine industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung dazu, die auf Investitionen ausländischen Kapitals beruhte. In beiden Fällen war die Entwicklung in erster Linie von der wirtschaftlichen Wechselwirkung mit den Vereinigten Staaten geprägt.
Die Stadt Tijuana liegt auf der Grenze zwischen zwei Welten. Sie ist mit fast zwei Millionen Einwohnern das größte städtische Ballungsgebiet an der Nordgrenze Mexikos. Manche haben sie die "lateinamerikanische Grenze" genannt, da diese Stelle das Ende der lateinamerikanischen Region markiert: Im Westen grenzt die Stadt an den Pazifischen Ozean und im Norden an Kalifornien, den blühendsten Bundesstaat des reichsten Landes der Welt.
Die aufstrebende kalifornische Wirtschaft hat während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Tijuana zum wichtigsten Drehpunkt des Austauschs an der gesamten Grenze gemacht. In dieser Stadt lassen sich die großen Widersprüche der Unterentwicklung und viele Phänomene, die den Jahrhundertwechsel kennzeichnen, gut beobachten. Hervorzuheben sind die Arbeitsmigration aus den ärmsten Gebieten im Süden Mexikos sowie die Konzentration ausländischen Kapitals, das billige Arbeitskräfte nutzen will. Unterhalb von diesen Phänomenen entstehen Formen des Zusammenlebens, zeigen sich alltäglicher Widerstand und kulturelle Ausdrucksformen, die einer dynamischen und vielfältigen Gesellschaft Form geben. Die intensiven wirtschaftlichen und sozialen Wechselwirkungen überspannen die Grenze und geben Millionen von Menschen Unterhalt, die dieses Grenzgebiet zu ihrem Heim und zur Grundlage für ihre Lebensentwürfe gemacht haben.
In dem Gebiet sterben jedes Jahr Hunderte von Migranten bei dem Versuch, auf der Suche nach Arbeit die Grenze zu den Vereinigten Staaten zu überqueren. Aber Zehntausende bleiben auch jedes Jahr, um hier zu leben. Sie finden Arbeit, gründen Familien, erziehen ihre Kinder und führen ein Leben, wie sie es an ihren Herkunftsorten offensichtlich nicht gekonnt hätten.
Tijuana hat die unauslöschlichen Spuren seines quirligen Ursprungs bewahrt. Jedes Wochenende ähnelt das Stadtzentrum einem beleuchteten Schaufenster voller Bars, Kneipen, Tanzsälen und Erotik-Shows. Wie vor achtzig Jahren ziehen sie Tausende von Touristen an, die auf der Suche nach nächtlicher Unterhaltung über die Grenze kommen.
Doch diese Geschäftszweige, die in den zwanziger Jahren praktisch die einzigen in Tijuana waren, sind heute nur noch ein kleiner Teil des städtischen Lebens. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die Straßen des Stadtzentrums (das in Wirklichkeit nicht im Zentrum, sondern direkt an der Grenze liegt) in die Hügel und Täler und bis zu den Bächen ausgebreitet, die das sehr unebene Gelände prägen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Fertigstellung der Eisenbahn und der Beendigung des Tagelöhnerprogramms begann die Stadt immer neue Wellen von Zuwanderern aufzunehmen, die sich in konzentrischen Kreisen um den Stadtkern an der Grenze ansiedelten. Die Eigenart des Geländes hat die Bildung eines durchgehenden Stadtkerns verhindert und zu einem Stadtbild geführt, das von einem angenehm urbanen Zentrum neben Armutsvierteln in den Tälern und an den Berghängen geprägt ist. Die Stadt ist in so gefährlich chaotischer Weise und so schnell gewachsen, dass nur wenige Viertel unverzichtbare Dienste wie Trinkwasserversorgung, Stromanschlüsse und Kanalisation schaffen konnten. Wie viele andere Grenzstädte hat Tijuana Tausenden von Familien Unterschlupf geboten, die in den maquiladora-Unternehmen, im Dienstleistungssektor oder in Bereichen der Schattenwirtschaft arbeiten.
Heute bieten die Straßen im Zentrum Tijuanas ein buntes Bild. Man trifft Arbeiter der Maquiladora; Migranten, die ohne Papiere über die Grenze in die USA gehen wollen, und andere, die das versucht haben und deportiert worden sind; übernächtigte Touristen nach einem Kneipenbummel; Indios, die Kunsthandwerk verkaufen; und vielleicht auch einmal einen in der Stadt Geborenen. In den Randgebieten sieht man häufig Berghänge, die von gebrauchten Reifen überdeckt sind - ein merkwürdiges und untypisches Bild in diesem Land. Es ist ein Zeichen für die Geschicklichkeit der Bewohner Tijuanas bei der Aufgabe, ihre Häuser auf dem hügeligen und weichen Boden zu errichten und sich gleichzeitig die Möglichkeiten zu Nutze zu machen, die sich aus der Lage an der Grenze zu einem Land ergeben, das eine enorme Menge von Abfall wie gebrauchte Reifen produziert. Mit diesen Reifen werden Terrassen gebaut, die die Bodenerosion an den Hügeln aufhalten, Treppen, die die Täler mit der Stadt verbinden, und Dämme, die die Holzhütten schützen.
In diesen Vierteln leben Tausende von Arbeiterfamilien, die Tag für Tag mit unzureichenden Transportmitteln zu den maquiladoras oder den Dienstleistungszentren fahren. Dort bieten viele Unternehmen Dienste für Konsumenten aus den Vereinigten Staaten an - touristische oder auch medizinische und zahnmedizinische Betreuung und Kraftfahrzeugmechanik. Bezahlt wird sofort in mexikanischen Pesos oder auch in US-Dollar; auch unter der ortsansässigen Bevölkerung ist dies schon seit langem üblich.
Eine der Folgen der Grenzziehung zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten war, dass ganze Familien räumlich getrennt wurden. Nur vor dem Hintergrund dieser Aufspaltung von familiären und sozialen Bindungen kann man die heutigen Gegebenheiten in der Grenzregion verstehen. Die auseinander gerissenen Familien haben ihren Nachfahren diese Bindungen weitergegeben, sodass sie über die politisch-administrative Grenze hinweg erhalten geblieben sind. Dazu kommen die familiären und sozialen Bande der Migranten, die sich während des 20. Jahrhunderts dort angesiedelt haben und deren Familienmitglieder in vielen Fällen über Mexiko und die Vereinigten Staaten verteilt sind. Diese Verbindungen erzeugen starke Wechselwirkungen zwischen den beiden Seiten der Grenze; zugleich gibt es ausgeprägte Familienbande bis ins Landesinnere Mexikos. Die Hälfte der Bewohner Tijuanas setzt sich aus Migranten zusammen, die nach wie vor enge Beziehungen zu ihren Ursprungsorten im Süden oder im Zentrum Mexikos unterhalten. Das Familienleben an der Grenze ist somit von sozialen Bindungen bestimmt, die in zwei verschiedene Richtungen reichen und Bedürfnisse und Interessen mitbringen, die über die eigene Region hinausgehen.
1965 gab es entlang der Grenze etwa 50 maquiladoras. Heute sind es 3500, die eineinhalb Millionen Menschen Arbeit geben. Von Anfang an stellten die Unternehmen in erster Linie junge Frauen ein, doch mit der Zeit sind wegen des Mangels an Arbeitskräften auch eine größere Zahl von Männern eingestellt worden. Das Angebot an Arbeitsplätzen ist groß, und die Fabriken haben enorme Schwierigkeiten, ihre Mitarbeiter zu halten. Die Mitarbeiterfluktuation ist hoch und liegt in Tijuana bei 12 Prozent monatlich. Heute sind etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten Frauen mit einem Durchschnittsalter von 24 Jahren. Der durchschnittliche Lohn für ungelernte Arbeitskräfte liegt bei 1,20 US-Dollar pro Stunde. 60 Prozent der Industriearbeiter in Tijuana sind in einer der 800 maquiladoras dort beschäftigt.
In Mexiko mit seiner hohen Arbeitslosigkeit und den geringen Löhnen üben Grenzstädte wie Tijuana eine starke Anziehungskraft auf Migranten aus armen Regionen aus. Dazu kommt, dass große japanische und koreanische Elektronikkonzerne die Stadt in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Zentren der industriellen Fabrikation in Nordamerika gemacht haben. Dies geht so weit, dass in manchen Veröffentlichungen Tijuana als "die Welthauptstadt des Fernsehers" dargestellt wird: 75 Prozent aller auf dem amerikanischen Kontinent verkauften Fernseher - etwa 25 Millionen Apparate - werden hier hergestellt. Dies bedeutet auch, dass immer mehr Arbeitsplätze für Ingenieure, Techniker und qualifizierte Arbeiter entstehen, deren Löhne weit über dem Durchschnitt liegen.
Auch der Tourismus schafft eine große Zahl von Arbeitsplätzen - zum Beispiel im Hotel- und Gaststättenbereich, aber auch im Verkauf von Kunsthandwerk und Souvenirs. Dieser Markt ist sehr dynamisch; jedes Jahr kommen über 20 Millionen Personen über die Grenze nach Tijuana. Die Touristen kommen in erster Linie aus Kalifornien, wobei es sich bei den meisten um Mexikaner handelt, die in den Vereinigten Staaten leben. Die Besucher bleiben im Allgemeinen nur kurze Zeit, manchmal sogar nur ein paar Stunden, doch das Geld, das sie ausgeben, ist für die Stadt lebenswichtig.
Deutlich auszumachen sind unter denjenigen, die ihr Geld im Tourismusbereich verdienen, die mehr als 5000 Straßenhändler, die den Besuchern verschiedene kunsthandwerkliche Produkte anbieten. Viele von ihnen, vielleicht 15 Prozent, sind Migranten aus Oaxaca, Michoacán, Puebla oder anderen Bundesstaaten mit einem hohen Anteil indigener Bevölkerung. Sie gehören ethnischen Gruppen wie den Zapoteken, Tlapaneken, Mazahuas, Purépechas, Nahuas, Triquis und vor allem den Mixteken an. Doch die Arbeit im Tourismussektor ist gegenüber den Schwankungen der Wirtschaft in den Vereinigten Staaten sehr empfindlich. Denn die Touristen richten ihre Freizeit und Erholung nicht nur nach den Feiertagen, sondern auch nach der Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage in den USA.
Um die Grenzstädte zu beschreiben, kann man auf das Bild des Kontrollhäuschen für den Grenzübertritt zurückgreifen. Tijuana nimmt sicherlich einen der vordersten Plätze ein, was die Sicherung und Überwachung der Grenze angeht. Aber auch das entgegengesetzte Bild drängt sich auf. Bei Tagesanbruch überqueren Tausende von Arbeitern, die in Tijuana leben und legal in einer der nahe gelegenen Städte in den Vereinigten Staaten arbeiten, die Grenze. Mehr als 20.000 Arbeiter gehen jeden Tag im Morgengrauen - damit sie pünktlich zu ihrer Arbeit gelangen - in die USA und kommen spät abends zurück. Diese Mühsal lohnt sich, da sie in US-Dollar bezahlt werden und mexikanische Pesos ausgeben. Dadurch erhöht sich ihre Kaufkraft enorm, und Tijuana profitiert wiederum von diesen Einkünften. Auch Tausende von Händlern, Angestellten und Konsumenten überqueren täglich die Grenze. Ihrer aller Leben und Arbeiten ist von der Grenze stark geprägt.
aus: der überblick 04/2000, Seite 48
AUTOR(EN):
Laura Velasco Ortíz :
Laura Velasco Ortíz ist Professorin an der Abteilung Kulturwissenschaften des Colegio de la Frontera Norte in Chula Vista (Kalifornien, USA). Sie hat über Migration aus Mexiko in die USA zuletzt das Buch veröffentlicht: "The Return of the community: ethnicity and transnational processes in the Mexico-USA border region".
Oscar F. Contreras :
Oscar F. Contreras ist Professor am Colegio de la Sonora, einem Forschungsinstitut zu Sozialwissenschaften und Regionalentwicklung. Er ist Leiter der Zeitschrift "Region y Sociedad" und Autor des Buches "Global corporations, local actors".