Brasilien im Monte-Fieber
Am Abend eines heißen Dezembertages trat am Strand von Ipanema in Rio de Janeiro die Sambagruppe "Velha Guarda da Portela" auf. Manche Zuschauer haben sich Klappstühle mitgebracht, andere setzen sich in den noch warmen Sand, viele trinken die fruchtige Kokosnussmilch, die an der Uferpromenade verkauft wird. Auf der Bühne stehen zehn ältere, dunkelhäutige Frauen und Männer und musizieren singend, spielend und rhythmisch klatschend. Normalerweise treffen sie sich nach Feierabend in kleinen, ärmlichen Hinterhöfen, um ihr entbehrungsreiches Leben ein wenig zu verschönern. Und gewöhnlich treten sie nur einmal im Jahr ins Rampenlicht: zu Karneval, bei den großen Samba-Umzügen der Stadt.
von Anja-Rosa Thöming
Wie kommen sie, die ehemaligen Handwerker und Schneiderinnen, an diesen Strand der Reichen und Schönen? Marisa Monte, genannt MM, hat sie zu dem Konzert eingeladen. Die Sängerin ist eine der bedeutendsten Figuren der zeitgenössischen populären Musik Brasiliens, der música popular brasileira (MPB) (vergl. "der überblick" 1/2003). Zwischen der jungen, aparten Marisa Monte und der Velha Guarda, der Alten Garde, funktioniert die musikalische Kommunikation auf der Bühne mit schlafwandlerischer Sicherheit, denn Marisa hat die Lieder der Gruppe quasi mit der Muttermilch eingesogen. Wie sie neben dem 80-jährigen Argemiro kniet und mit ihm zusammen ein Liebeslied aus seiner Jugend singt, ist ein Anblick, den man nicht vergisst.
Auch als Produzentin widmet MM einen Großteil ihrer Arbeit dem musikalischen Erbe Rios. Sie hat eine Samba-Anthologie von Mitgliedern der Velha Guarda herausgebracht und bewahrt auf diese Weise mündlich überlieferte Lieder vor dem Verschwinden - in diesem Frühjahr ist der betagte Sambakomponist und Sänger Argemiro Patrocínio von der Sambaschule Portela gestorben. Marisa könnte sich die luxuriöse Plattenproduktion nicht ohne ihre zweite Identität leisten: Sie ist eine der beliebtesten Popsängerinnen Brasiliens. Der riesige Erfolg ihrer neuesten CD, Tribalistas, beweist ihr untrügliches Gespür für den Nerv der Zeit. In der Fanpost, die sie bekommt, schreiben häufig junge Frauen Te adoro - "Ich liebe dich". Immer wieder finden sich aber auch Bemerkungen zu Marisas Unabhängigkeit vom Mainstream: "Ich habe keine Lust mehr, den anderen Müll zu hören!"
Worin liegt nun das Geheimnis ihrer künstlerischen Karriere, die in diesem Jahr seit fünfzehn Jahren anhält? Wie ist es ihr gelungen, auf den Olymp der MPB zu gelangen? Marisa Monte, 1967 in Rio geboren und aus einer weißen, wohlhabenden Familie stammend, hat seit ihrer Kindheit eine besondere Vorliebe für die traditionelle Musik der unteren Schichten ihrer Heimatstadt. Ihr Vater engagierte sich bei der Sambaschule Portela und nahm die fünfjährige Marisa mit, wenn die Sambistas sangen und spielten. Nachdem sie für sich den Gesang entdeckt hatte, fühlte sie sich zur europäischen Oper hingezogen und fand ein Vorbild in Maria Callas - von ihr hat sie auch die unbedingte Leidenschaft für Musik und die eiserne Arbeitsdisziplin geerbt. Dank ihres privilegierten Hintergrunds konnte Marisa in Italien klassischen Gesang studieren. Doch im Land der Oper geschah etwas Sonderbares: Marisa entdeckte ihre eigene, die brasilianische Musik. Wie viele Brasilianer im Ausland zog es sie nach wenigen Monaten mit Macht zurück in die Heimat.
Seit ihrer ersten Platte 1988 - einem gemischten Programm aus brasilianischen Popsongs und traditionellen, regional gefärbten Liedern - zeigt Marisa Monte ihre unverwechselbare Handschrift. Deren Hauptmerkmale sind eine schöne, eher feine als große Stimme und ein sicherer Geschmack bei der Auswahl von Musik und Musikern. Große Namen sind an ihren Projekten beteiligt: Gilberto Gil etwa, der Tausendsassa der MPB und jetzige Kulturminister, oder der sensible Altmeister des Samba, Paulinho da Viola. Wenn Marisa Monte dessen melancholischen, bitteren Song Dança da Solidno (Tanz der Einsamkeit) interpretiert, tut sie das mit ganz anderen stilistischen Mitteln, spricht aber das Publikum genauso direkt an wie er. Mit zurückhaltender Traurigkeit in der Stimme, ohne Schluchzer und falsche Tränen, bringt sie eine starke Saite zum Klingen, so dass viele Konzertbesucher den allseits bekannten Text mitsingen. Hier spürt man eine lebendige Tradition, die über die gesellschaftlichen Schranken hinweg geht.
Nach drei Jahren produktiver Pause hat MM wieder eine Platte herausgebracht: den schon erwähnten Titel Tribalistas - "Stammesangehörige". Auf den ersten Blick ist die abwechslungsreiche Liedfolge ein Feuerwerk an Fröhlichkeit und Ungezwungenheit. Ganz Brasilien ist wie elektrisiert von dem Popsong Já sei namorar (Ich weiß schon, wie man Liebe macht); der Refrain erschallt am Strand, im Taxi, in der Bäckerei, auf Feten, beim Churrasco-Grill. Und wieder hat Marisa Monte charismatische Musiker mit ins Boot geholt: Ihre Partner sind der impulsive Percussion-Künstler Carlinhos Brown aus Bahia und der intellektuelle Songwriter und Sänger Arnaldo Antunes. Beide sind autarke und zueinander gegensätzliche Persönlichkeiten, die Marisa Monte für das gemeinsame Werk gewinnen konnte.
Die technische Qualität der CD ist sehr hoch. Plastisch kommen Stimmen und Instrumente heraus, kein Klangeffekt scheint dem Zufall überlassen. Diese Sorgfalt und Professionalität, mit der Marisa Monte immer arbeitet, bieten die Plattform für individuelle Gestaltung. Faszinierend sind etwa die Stimmen der beiden Männer: Arnaldo Antunes singt auf unsentimentale, stilisierte Weise, und sein Bass ist manchmal fast schneidend geführt, während Browns höhere Stimme weich, flexibel und sympathisch klingt. Wenn Marisa gemeinsam mit Antunes im doppelten Oktavabstand singt, treten aufregende Klangreibungen hervor, die trotz ihrer Schnörkellosigkeit eine Sogwirkung entwickeln. Sie werden umwoben von durchaus verspielten Klangeffekten verschiedenster traditioneller Instrumente, in denen besonders Carlinhos Brown ein Meister ist. Marisa Monte, obwohl unumstrittener Mittelpunkt der Produktion, nimmt sich selbst häufig zurück und spielt die akustische Gitarre so frisch und direkt, als säße sie neben einem auf der Küchenbank.
Der Titelsong von Tribalistas verkündet die Philosophie der "Stammesangehörigen". Doch es ist eher ein Anti-Manifest ohne Ideologie: "Die Tribalistas wollen nicht mehr Recht haben / Sie wollen nicht sicher sein, / Sie wollen keinen gesunden Menschenverstand und keine Religion haben." Im hypnotischen Refrain Pé em Deus / E fé na Taba (Fuß auf Gott / Und Glaube an das Indiozelt) liegt ein Doppelsinn. Was in Europa schwer vorstellbar wäre, ist im Schmelztiegel Brasilien fast schon üblich: Afrikanischer Glaube an Naturgötter wird in den Staatskatholizismus hineingemischt, und heraus kommt eine religiöse Grundhaltung, je nach Temperament und Stimmung.
Der große Lyriker Vinicius de Moraes, der seine internationale Diplomatenlaufbahn aufgab, um in Rio Theaterstücke und Liedtexte zu schreiben, Whiskey zu trinken und Frauen zu lieben, setzte sich in seinen Versen immer wieder mit brasilianisch-afrikanisch- indianischen Mythen auseinander. Sie gehörten zu seiner Identität als Brasilianer. Auch Marisa Monte betreibt mit ihren Liedern eine Art künstlerische Kulturforschung. Gleich der erste Song der neuen CD, Carnavália, ist eine Hommage an den Karneval von Rio. Ein Lied über dieses überbeanspruchte Brasilien-Klischee, das kommerziell restlos ausgeschlachtet und deshalb völlig uninteressant ist.
Carnavália bringt die Vorfreude am Vorabend des Karnevals. Vorfreude auf die Parade "unserer Schule", auf den "Tag des Ruhms" und die Umzüge der traditionsreichen Samba-Schulen Portela, Mangueira, Imperatriz oder Beija-Flor. Der Song ist aber kein schmissiger Gruppenhit, wie man ihn von den nächtlichen Ekstasen und glitzernden Körpern kennt. Die charakteristischen Instrumente des Umzugs werden besungen, die helle Repique-Trommel, der dunkle Surdo, die seufzende Cuíca. Den drei Musikern gelingt das Kunststück, einen Karnevalsong zu komponieren, in dem alte Bestandteile zitiert, aber nicht persifliert werden.
Brasilianische Journalisten wollten bei Veröffentlichung der CD Bezüge zu Tropicália entdeckt haben, der scharfzüngigen 68er Bewegung eines Gilberto Gil und Caetano Veloso. Im Unterschied zu den Tropicalistas sprechen aber die Tribalistas die himmelschreienden gesellschaftlichen Zustände nicht direkt an. In den Liebesliedern werden jedoch Abgründe und Verletzungen sichtbar, wie sie nicht nur Erwachsenen, sondern auch Teenagern bekannt sind. Der große Hit Já sei namorar spricht an, was einen jungen, liebebedürftigen Menschen umtreibt: "Ich weiß schon, wie man Liebe macht / Ich weiß schon, wie man mit Zunge küsst." Die Verse sind direkt dem Leben abgelauscht, wenn man bedenkt, mit welchem Eifer brasilianische Jugendliche, und besonders Mädchen, dem nächtlichen Ausgehen huldigen.
Während die Tropicalisten sich an intellektuellen Wortspielereien ergötzten, benutzen die Tribalistas Alltagssprache. Durch den direkten Zugang zu den "Herzen" ihrer Hörer hat sie dann die Möglichkeit zu überraschen, aufzurütteln, etwa mit dem Lied O amor é feio (Die Liebe ist hässlich). Zusammen mit Arnaldo Antunes singt sie einstimmig und in fremdartigen Intervallen von der "schmutzigen, stinkenden Liebe, die meinen Liebling auf den Müll geworfen hat, und die Angst macht". Auch das Schlussresümee "Die Liebe ist frei" ist nicht tröstlich, denn die Musik ändert sich nicht, sondern bleibt dunkel und rätselhaft.
Zum Glück singt Marisa Monte danach eine wunderbare Schnulze: É vocé - "Nur du", der sie ihre verführerische Stimme verleiht. Und dass sie den einzigen echten Samba auch für sich reserviert hat, ist Ehrensache für eine Sängerin, die sich offen zur musikalischen Tradition bekennt. Es gibt noch einen Grund, weshalb Marisa Monte in einer so ungefährdeten Karriere steht: Die Journalisten beißen sich an Marisas Zurückgezogenheit die Zähne aus. Jetzt ist ohnehin eine karge Zeit angebrochen, denn kurz nach Erscheinen der Tribalistas-CD kam mit dem kleinen Mano ein weiterer Stammesangehöriger zur Welt. Ihm haben wir höchstwahrscheinlich das Weihnachtslied Mary Cristo zu verdanken.
aus: der überblick 03/2003, Seite 102
AUTOR(EN):
Anja-Rosa Thöming:
Anja-Rosa Thöming ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Musik, Kultur und Leben. 2000/01 hat sie in Porto Alegre gelebt und für deutsche Tageszeitungen aus Brasilien berichtet.