Zum Lobe Gottes! - Eine Ökumenische Spiritualität
Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. Apg 2,17-18
von Musimbi Kanyoro
Brigitte starb am 23. Februar 2003. Nachdem sie 1992 erfahren hatte, dass sie HIV-positiv ist, begann Brigitte nach dem Ausschau zu halten, was sie als "Quellen des Lebens" bezeichnete: Achtung vor dem Leben, Schutz und Nährkraft. Ihre Botschaft an alle lautete: Dein Leben ist jedermanns Leben, es ist nicht allein Dein Leben." Sie lehrte uns, dass Treue mehr ist als Treue gegenüber dem Ehe- oder Lebenspartner. Treue ist ein Ausdruck von Fürsorge und Achtung vor sich selbst und vor anderen. Brigitte wurde eine aktive Streiterin. Sie sprach von den Ungerechtigkeiten und vom Kranksein und schöpfte dabei aus den Quellen der afrikanischen Spiritualität und der katholischen Lehre. "Ich bin keine Statistik, ich bin eine Frau, die mit HIV/Aids lebt. Als Afrikanerin bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass ich ein geistliches Sein und eine menschliche Erfahrung habe." Brigitte Syamalevwe sprach diese Worte am 5. August 2002 in Addis Abeba, Äthiopien, vor führenden religiösen Vertretern, Ministern, Diplomaten, Journalisten, geladenen Würdenträgern, Theologinnen und Forschern. Der Anlass war die Eröffnung der vom Christlichen Verein junger Menschen (CVJM) einberufenen Konferenz für den Kreis engagierter afrikanischer Theologinnen zum Thema "Sex, Stigma und HIV/Aids - afrikanische Frauen stellen kritische Fragen an Religion, Kultur und soziale Praktiken".
Was ist diese Spiritualität? Spiritualität ist das, was es uns ermöglicht, dem Leben einen Sinn abzugewinnen. Ich habe die Geschichte der verstorbenen Brigitte so ausführlich erzählt, um zwei Dinge deutlich zu machen. Erstens, ökumenische Spiritualität ist nichts anderes als die Summe der Spiritualitäten verschiedener Menschen, die sich gemeinsam engagieren oder einander verpflichten aus der Überzeugung heraus, dass das, was sie tun, dem Gemeinwohl dient. Zum zweiten ist "Spiritualität" ein Modewort, in gewisser Hinsicht ein Euphemismus geworden. Einige setzen ein solches Vertrauen in ihre spirituellen Überzeugungen, dass sie es sogar wagen, jemanden als böse zu definieren und ihn dem Tode zu verschreiben. Für andere ist Spiritualität ein volkstümlicher Begriff für "den Widerstand feiern". Die Menschen finden keinen Sinn mehr in der organisierten Religion und sind bereit, ihre Spiritualität anderswo zu suchen. Solche Menschen sind hungrig nach einer größeren Vision, nach Freiheit vom engen Denominationalismus (dem Prinzip des konfessionellen Unterschieds). Viele gläubige Menschen sträuben sich gegen die unausgewogene Kost, die sie von ihren Ortskirchen angeboten bekommen. Die ökumenische Gastbereitschaft ist der Raum, in dem sie ein Zugehörigkeitsgefühl haben, das sie stärkt und nährt. Dorthin können sie so kommen, wie sie sind - an den Tisch, wo die eigene Verwundbarkeit der göttlichen Barmherzigkeit begegnet. Es ist der Ort, um zu feiern und unser Versagen zu bekennen. Es ist der Raum, in dem Nachfolge eher als Suchen denn als Glauben erfahren wird. Gottesdienst und Gotteslob gründen sich auf Vertrauen und nicht auf Gehorsam gegenüber der Tradition.
Vertrauen ist das ökumenische Gemeinschaftskapital. Im ökumenischen Raum werden Geschichten in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Liebe ausgetauscht. Die verstorbene Dorothee Sölle war das Beispiel eines Menschen, der aus der ökumenischen Spiritualität lebt. In ihrem Denken und ihren Schriften spiegelt sich die klare Entschlossenheit wider, den Glauben in Verbindung mit den politischen und sozialen Realitäten zu sehen. In ihrem Buch "Gott im Müll. Eine andere Entdeckung Lateinamerikas" erzählt Dorothee Sölle von den Erfahrungen, die sie 1992 auf einer mehrmonatigen Lateinamerikareise gemacht hat. Es sind wunderschöne Geschichten. Sie berichtet, wie Menschen in Basisgemeinschaften all ihre Kraft zusammennehmen, um der Armut zu widerstehen; wie Frauen Mut fassen, dem machismo zu widerstehen; wie die Befreiungstheologie sich denen widmet, die nichts haben; und wie Menschen in der Kirche darum ringen, ein Gleichgewicht zwischen Evangelisation und Diakonie zu finden. Ohne Vertrauen in den guten Willen der anderen ziehen wir uns zurück in Bürokratie, Programmrichtlinien, Satzungen und Forderungen nach mehr Recht und mehr Ordnung.
Ökumenische Spiritualität bedeutet, solidarisch zu sein und denen eine Stimme zu verleihen, die sonst vielleicht keine Plattform haben, um sich Gehör zu verschaffen. Frauen in der Kirche haben im ökumenischen Raum sehr viel mehr Solidarität unter einander aufgebaut und gefunden als in unseren Einzelkirchen. Frauen, die in der Bibel und in der Tradition nach spirituellen Ressourcen für die verschiedenen Lebenszyklen der Frau gesucht haben, haben ihre Zuflucht zu ökumenischen Frauenforen genommen, um ihr Verlangen zu stillen. Die Tatsache, dass in kirchlichen Liturgien so wichtige Stationen wie Menstruation oder Wechseljahre, Schwangerschaft, Schwangerschaftsabbruch/Fehlgeburt oder Kindsgeburt keine geistliche Beachtung finden, hat zur Entstehung neuer ökumenischer Gruppen geführt, um diesem Mangel abzuhelfen. Die gegenseitige Stärkung, die wir voneinander erfahren, ermöglicht es uns und anderen, die ausgeschlossen sind, Rechenschaft von den Kirchen zu fordern.
Ökumenische Spiritualität verändert das Wesen der Kirche. Neue Liturgien versuchen oft, die erkannten Mängel zu beheben. Urvölker haben die Bindung an das Land als ein geistliches Anliegen in kirchliche Liturgien eingebracht. Es ist ein unschätzbares Geschenk an die Kirche, daran erinnert zu werden, dass die Liebe Gottes eingewoben ist in Gottes Schöpfung, die die Natur und die Erde umfasst.
Ökumenische Spiritualität ist eine Aussage über den Glauben der Kirche. Die Mission Jesu steht im Mittelpunkt der Ökumene. Christus ist gekommen, "zu verkündigen das Evangelium den Armen, ... zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen ... und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen" (Lk 4,18). Eine ökumenische Spiritualität ist glaubwürdig, wenn sie diesem missionarischen Auftrag gerecht wird. Zu diesem Auftrag gehört wesentlich das Eintreten für die volle Menschenwürde und die Einbeziehung aller - insbesondere derer, die unter Krankheit und allen Formen der Ungerechtigkeit leiden. Das ist keine Erklärung über die soziale Agenda der Kirche. Es ist eine Aussage über den Glauben der Kirche. Gastfreundschaft ist Ausdruck der Freude, die Liebe zu anderen miteinander zu teilen und über die unerwarteten Gaben, die uns durch die Begegnung mit denen, die anders sind als wir, zuteil werden. Die Privatisierung der Frömmigkeit gehört nicht zur christlichen Tradition; sie untergräbt das christliche Leben.
Ich habe mich einer ökumenischen Gemeinde in Genf angeschlossen. Es ist teils die englische Sprache und vor allem die Art des Gottesdienstes in dieser Kirche, die so viele von uns aus sehr unterschiedlichen Kulturen, Ländern, Kirchen, Wirtschaftssystemen, Philosophien und Berufen dazu bewogen hat, diese englischsprachige Gemeinde evangelisch-lutherischen Kirche als geistliche Heimat zu wählen. Die ökumenischen Gottesdienste in dieser Kirche haben mich die Freude des Gebens und Nehmens gelehrt. Wenn wir vom afrikanischen Kontinent unsere Musik und unseren Tanz einbringen und eine Frau aus Japan nimmt das an, dann hat sie einen Dienst an mir getan. Wenn ich mich bemühe, das koreanische Versöhnungslied auf koreanisch zu singen, dann kann ich über den Schmerz der Trennung zwischen Nord- und Südkorea nachdenken. Aus der Erfahrung des Gottesdienstes heraus kann ich die Nachrichten über die Entwicklung von Atomkraft in Nordkorea anders hören.
Ich habe 1998 an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare, Simbabwe, teilgenommen. Die Gottesdienste fanden jeden Morgen und jeden Abend vor und nach den Sitzungen in einem großen blauen Zirkuszelt statt. Wer früh kam, konnte einen Strom von etwa 4000 Menschen beobachten, die sich auf den verschiedenen Wegen des Universitätscampus zum Zelt begaben. Die wunderbare Vielfalt von Hautfarben und Bekleidungen - von den Blue Jeans und T-Shirts der jugendlichen Stewards bis hin zu den schwarzen, weißen und dunkelroten Gewändern der Geistlichen gab dem Platz ein festliches Aussehen. Doch es war der Gottesdienst, der dem Geschehen sein Gepräge gab. Die Musik aus vielen Ländern in verschiedenen Sprachen bezeugte, dass hier Menschen versammelt waren, die ihre Wurzeln in einer Ortsgemeinde hatten. Wir sangen, beteten und lasen die Bibel in vielen Sprachen, und dann bekannten wir unseren Glauben und beteten das Vaterunser jeder in seiner eigenen Sprache, wohl wissend, was der andere sprach. Für eine kurze Zeit erlebten wir das Wunder der Urgemeinde (Apg 2,1-13), als der Geist Gottes über sie kam und ihnen Worte in den Mund legte: "Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen" (Apg 2,17-18).
Dieses unwiderstehliche Bild des Neuen Testamentes wurde in uns lebendig. Es war als seien wir diejenigen, die den Geist Gottes erlebten, der wie ein gewaltiger Wind durch die Menschenmenge blies, um trennende Schranken niederzureißen, der wie Feuerflammen über den Köpfen schwebte, um die Unterschiede zu verbrennen, die die Kinder Gottes voneinander trennen.
Die Kirche wächst, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass die Kirche in Zeiten der Not ein geschützter Raum für sie ist und dass die Kirche ein Instrument für sie ist, den Nöten der Welt zu begegnen. Ein ökumenischer Gottesdienst ist ein Fest, er geht einher mit vielen irdischen Anforderungen, welche die Gespaltenheit der menschlichen Natur widerspiegeln; doch er ist auch ein Zeichen dafür, dass die Kirche noch nicht eine ist, selbst nicht in einem ökumenischen Kontext.
Es wird immer Menschen geben, die sich ausgeschlossen fühlen, selbst wenn es die Absicht ist, alle einzubeziehen. Hier geht es nicht um die historische Debatte über Laien und Ordinierte oder über Männer und Frauen. Es geht um den Einsatz für Menschen, die lange aus den Kirchen ausgeschlossen waren oder es immer noch sind - wie Menschen, die mit HIV/Aids oder mit Behinderungen leben, Homosexuelle, Migranten oder Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Man kann damit beginnen, die freundliche Aufnahme und die Bestätigung, die wir den anderen erweisen, als unsere Weise der Teilhabe an der Gastbereitschaft zu bezeugen. Christliche Gastfreundschaft ist ein Ausdruck der Einheit ohne Uniformität; denn die Einheit in Christus hat das Ziel, die Gastbereitschaft Gottes gegenüber dem Fremden zu teilen, gegenüber dem, der anders ist - wie Jesus es im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter deutlich macht: Der Nächste den wir lieben sollen ist der Mensch in Not und nicht einfach jemand, der so ist wie wir (Lk 10, 25-37).
aus: der überblick 03/2003, Seite 110
AUTOR(EN):
Musimbi Kanyoro:
Dr. Musimbi Kanyoro ist Generalsekretärin des Weltbundes Christlicher junger Frauen (YWCA) in Genf, Schweiz. Sie hielt diese Rede im Rahmen des ersten Ökumenischen Kirchentages Ende Mai 2003 in Berlin.