Vietnam leidet unter Überschwemmungen und den Spätfolgen des Krieges
Wer vom Süden Vietnams in den Norden reist, dem wird bewusst, dass das Land auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung noch ein geteiltes Land ist. Während in Ho Chi Minh Stadt das Leben pulsiert, Hochhäuser und teure Hotels großer internationaler Ketten das Stadtbild prägen und unvorstellbar dichter Verkehr sich durch die Straßen wälzt, ist Hanoi, die Hauptstadt des Landes im Norden, fast eine Oase der Ruhe.
von Klaus Rieth
Das kleine Boot schaukelt gefährlich, als wir an Bord gehen. Wir, das sind zehn Frauen der Universität Can Tho und unsere kleine Reisegruppe. Es ist schwierig, in das schmale Boot einzusteigen, denn der Wasserstand des Mekong ist fast einen halben Meter höher als zu dieser Jahreszeit üblich. Das Delta im Süden Vietnams ist über große Flächen hinweg überschwemmt.
Unsere Reisebegleiterinnen haben uns morgens mit ihrem Kleinbus am Hotel in der Hauptstadt Can Tho der gleichnamigen Provinz in Südvietnam abgeholt. Eigentlich war der Bus mit acht Frauen schon fast voll besetzt, als er frühmorgens kurz nach fünf Uhr vor dem Hoteleingang hielt. Da galt es zusammenzurücken. Auf der Fahrt zum Bootsanlegeplatz holten wir noch zwei weitere Mitreisende ab. Die Stimmung im Bus und anschließend im Boot ist ausgelassen, denn unsere Mitreisenden haben einander viel zu erzählen.
Alle zehn kommen von verschiedenen Fachbereichen der Universität. Vor sechs Jahren hatten sie zusammengefunden. Sie wollten etwas tun gegen die Armut in weiten Teilen des Mekong-Deltas. Obwohl - oder gerade weil - sie für Landesverhältnisse gut dotierte und sichere Arbeitsplätze hatten, wollten sie den Menschen im Delta helfen. Die Hilfe sollte besonders Frauen gelten, die entweder allein in ihrer kleinen Landwirtschaft arbeiten müssen oder so wenig Land besitzen, dass das Einkommen nicht zum Leben reicht.
Nach zwei Stunden Busfahrt und weiteren Stunden zu Wasser auf den engen Seitenarmen des Mekong gibt es ein kleines Frühstück auf dem Boot. Ein paar Früchte, etwas Weißbrot und als Delikatesse ein paar Scheiben französischen Käse, den eine der Professorinnen von einer Auslandsreise mitgebracht hat.
Wir fahren vorbei an überschwemmten Bauernhäusern. Manche Frauen versuchen von ihrem Hauseingang aus, mit der Angel ein Mittagessen zu ergattern. Andere Häuser sind noch völlig überflutet und unbewohnbar. Eine von den drei Ernten im Jahr wird komplett ausfallen. Das Gebiet, das wir besuchen, liegt etwas höher. So gelangen wir trockenen Fußes in das Haus von Nam Nguem im Dorf Truong Xuan. Die Professorinnen werden überschwänglich begrüßt. Sie besuchen "ihr" Projekt. Die Hausfrau sitzt mit zehn anderen Frauen aus dem Dorf beisammen, um darüber zu beraten, wie die Schweinezucht weitergeführt werden kann und wie sie mit neuen Gemüsesorten auf der kleinen Anbaufläche bessere Erfolge erzielen können.
Wenige Seitenarme des Deltas entfernt hat Dr. Khai in der Provinzhauptstadt sein Büro. Zusammen mit fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern arbeitet der Mediziner seit vielen Jahren an Gesundheitsprojekten für die ganze Region. Dr. Khai ist besessen von der Idee, dass die Menschen im Delta mit etwas Unterstützung sich selbst helfen und bessere hygienische Bedingungen im Haushalt schaffen können. Er hat deshalb ein kleines Heft mit Bildern zusammengestellt, in dem etwa hundert erfolgreich getestete Ideen aufgeführt sind: vom verschließbaren Schrank für Düngemittel und Pestizide über das selbst gemachte Arzneimittelschränkchen bis hin zur kleinen Luke im Dach, die es den Frauen erlaubt, bei Tageslicht zu kochen. Voller Stolz zeigen uns Familien die kleinen Verbesserungen, die sie verwirklicht haben.
Regelmäßig laden solche Familien andere aus der Umgebung oder den Nachbardörfern ein. So sprechen sich die Ideen immer mehr herum. Mittlerweile kann Dr. Khai auf ganz unterschiedliche Mithelferinnen zurückgreifen, auf Frauengruppen beispielsweise, aber auch auf die Seniorenvereinigung, die sich Dr. Khais Programm zur Hauptaufgabe für ihren Ruhestand gemacht hat. Das erfolgreiche Programm findet immer mehr Nachahmer, und es liegen bereits Anfragen aus anderen Teilen Vietnams vor.
Wer vom Süden Vietnams in den Norden reist, dem wird bewusst, dass das Land auch 25 Jahre nach der Wiedervereinigung noch ein geteiltes Land ist. Während in Ho Chi Minh Stadt das Leben pulsiert, Hochhäuser und teure Hotels großer internationaler Ketten das Stadtbild prägen und unvorstellbar dichter Verkehr sich durch die Straßen wälzt, ist Hanoi, die Hauptstadt des Landes im Norden, fast eine Oase der Ruhe. Übrigens hält sich kaum ein Vietnamese an die offizielle Lesart, das frühere Saigon zu Ho Chi Minh Stadt umzubenennen. Es gibt Saigon-Hotels, Saigon-Taxis und oft kommt der frühere Name eben leichter über die Lippen, als der Name des Befreiers und Revolutionärs.
Die Stadt im Süden ist vergleichbar mit westlichen Metropolen. Größere Industrieansiedlungen vor den Toren Saigons prägen hier das Bild, während im Norden die Landwirtschaft vorherrscht. Im Süden wird gehandelt; dort legen die großen Schiffe an; dort landen viele internationale Airlines auf dem Flughafen von Ho Chi Minh Stadt. Im Norden dagegen bedienen gerade mal drei ausländische Fluglinien den Flugplatz von Hanoi. Der Süden ist Umschlagplatz von großen und kleinen Gütern, dort werden Waren für die westliche Welt produziert, die im asiatischen Raum kostengünstig hergestellt werden können. Im Süden ist auf den Speisekarten der Restaurants die ganze Vielfalt der örtlichen Küche zu finden - mit Gemüse und Meerestieren, schmackhaften Reissorten und würzigen Kreationen. Dagegen geht es im Norden wesentlich bescheidener zu. Dort ist Hausmannskost angesagt. Was die Felder in der Umgebung hergeben - und das ist nicht immer viel -, kommt auf den Tisch.
Im Norden wie im Süden trifft man aber immer wieder Kriegsveteranen aus den USA. Spätabends noch sitzen sie in den Bars und versuchen eine Antwort darauf zu finden, was da vor 25 und mehr Jahren geschehen ist, warum sie in diesem für sie so unergründlichen Land waren und welche Wirkungen ihr Tun damals hatte. Viele haben bis heute nicht ihre traumatischen Kriegserlebnisse verarbeitet. Und viele werden auch auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit erinnert. Denn bis heute werden in Vietnam als Folge der Entlaubungsaktionen, bei denen die USA dioxinhaltige Pflanzengifte versprühten, missgebildete Kinder geboren. Und zahlreiche Jugendliche, deren Haut unnatürlich verfärbt ist oder andere Schädigungen aufweist, sind lebendige Mahnmale für die Verbrechen des Krieges.
Je weiter wir in den Norden fahren, umso deutlicher werden die Folgen einer anderen Sünde des Krieges. Die Berge und Hügel, an denen wir vorbeikommen, sind kahl, abgeholzt. Nur langsam erobert sich die Vegetation das Land zurück. Diese Umweltsünde ist auch die Ursache für zahlreiche Überschwemmungen, denn das Wasser hält sich nicht in den Böden und gelangt bei heftigen Regenfällen fast ungebremst in die Bäche und Flüsse.
Wir haben den äußersten Norden Vietnams erreicht. Dort, an der Grenze zu China, in der Provinz Lao Cai, leben Bergvölker, die zu den Minderheiten in Vietnam gehören, Bergvölker, die zwar schon lange dort leben, aber auf Grund ihrer Geschichte nur ganz langsam mit dem vietnamesischen Volk in näheren Kontakt kommen. Die Hmong beispielsweise bilden in den Bergen unterschiedliche Gruppen. Da gibt es die schwarzen Hmong, die ihre Kleider selbst mit Blättern eines Strauches färben, der dort wächst und der die unverwechselbare dunkelblaue Farbe hergibt. Durch den Silberschmuck, den Männer und Frauen tragen, vervollkommnen sie noch das Bild des Exotischen in dieser Bergregion. Nur wenige Kilometer weiter leben die "bunten" Hmong, die eine ähnliche Herkunft haben, aber gerne weiße und rote Töne in ihrer kunstvoll bestickten Kleidung haben.
Die meisten Hmong können kaum lesen und schreiben. Deshalb wurden spezielle Alphabetisierungsprogramme für sie aufgelegt. Weil der Bildungsstand so niedrig ist, gibt es auch noch keine Lehrerinnen oder Lehrer ihrer eigenen Sprache. Deshalb wird der Unterricht für die Kinder in Vietnamesisch abgehalten.
Auf die Hmong wird die ansonsten recht strenge Zwei-Kinder-Politik des vietnamesischen Staates nicht angewendet. Offiziell sind nur zwei Kinder pro Familie erlaubt. Wer mehr Kinder hat, wird mit Arbeitsplatzentzug oder finanziellen Nachteilen bestraft. Die Hmong haben in der Regel drei oder vier Kinder. Einmal monatlich kommen die Jugendlichen im heiratsfähigen Alter zu einem sogenannten Hochzeitsmarkt zusammen. Nur dort können sie einander über die Grenzen ihres Dorfes hinaus kennenlernen. Die Hmong leben vom Reisanbau. Mehrere von "Brot für die Welt" geförderte Projekte sollen helfen, ihre Produktionspalette auszuweiten. So werden etwa der Aufbau einer kleinen Viehzucht mit Schweinen und Ziegen gefördert oder die Einrichtung eines Gemüsegartens, damit der tägliche Speisezettel neben Reis noch anderes aufweist. Zusätzliche Einnahmen erzielen die Bauern durch den Anbau eines seltenen Gewürzes, ähnlich der Muskatnuss, das nur in der hohen Bergregion gedeiht.
Die erfolgreichsten Projekte werden gemeinsam mit den von der Partei organisierten Frauengruppen durchgeführt. Die Funktionärinnen dieser Gruppen sind demokratisch gewählt worden und bringen viel Einsatz und Fantasie ein, um die Lebensqualität in ihren Dörfern zu verbessern. Für "Brot für die Welt" sind diese Frauen mit ihrem Engagement verlässliche Partnerinnen, die in der Erwachsenenbildung und bei der Verbesserung der Produktivität in der Landwirtschaft bereits viel erreicht haben.
aus: der überblick 04/2000, Seite 100
AUTOR(EN):
Klaus Rieth :
Klaus Rieth ist Pressesprecher und Leiter des Amts für Information der Evangelischen Landeskirche in Württemberg in Stuttgart.
Er war langjährig Pressesprecher von "Brot für die Welt".