Was die Hydra füttert
Ein Waffenstillstand und eine Übergangsregierung in der Demokratischen Republik Kongo bedeuten noch nicht, dass die Kriegsherde auf Dauer gelöscht sind. Noch gibt es zu viele, die an der Fortsetzung der Konflikte gut verdienen. Selbst wenn man diese Raubwirtschaft austrocknen kann, sind die ursprünglichen Ursachen für den Krieg nicht beseitigt, darunter nicht zuletzt der Staatszerfall.
von Denis M. Tull
Als die Kongolesische Sammlungsbewegung für Demokratie (RCD, Rassemblement Congolais pour la Démocratie) im August 1998 ihre Rebellion gegen das Regime Laurent Kabilas in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, ausrief, ahnte vermutlich niemand, welche dramatischen Folgen der zweite Kongo-Krieg haben würde; auch nicht die Allianz zwischen Rebellen und der Armee Ruandas (RPA - Ruandische Patriotische Armee), die mit einem schnellen militärischen Sieg gerechnet hatte. Nach fünf Kriegsjahren, vermutlich mehr als drei Millionen Toten und zahlreichen internationalen Vermittlungsbemühungen ist die DR Kongo (ehemals Zaire) weit von einer Rückkehr zu "normalen" politischen Verhältnissen entfernt.
Leider spricht vieles dafür, dass der gegenwärtige Zustand mittlerweile für viele Kongolesen zur Normalität geworden ist. Bereits unter der Willkürherrschaft Mobutus waren die Grenzen verschwommen, die das scheinbar normale Leben von seinem Gegenteil unterschieden. Bereits Mitte der achtziger Jahre war darüber diskutiert worden, welchen Sinn die Verwendung des Wortes "Krise" zur Beschreibung der Situation Zaires noch habe; es sei doch offenkundig, dass der politische und sozioökonomisch Niedergang der ehemaligen belgischen Kolonie seit den frühen siebziger Jahren zu einem Dauerzustand geworden war. Doch dem Land und seiner Bevölkerung stand das Schlimmste noch bevor.
Während der zweiten Hälfte 2002 kam endlich Bewegung in den stagnierenden kongolesischen Friedensprozess. Internationaler Druck führte im Juli 2002 zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den Regierungen Kongos und Ruandas. Drei Monate später verließ der letzte ruandische Soldat offiziell den Kongo. Im September folgte ein entsprechendes Abkommen mit Uganda, woraufhin auch der Großteil der ugandischen Armee abzog. Das in Ituris Provinzhauptstadt Bunia stationierte Bataillon blieb jedoch, unter anderem auf Bitten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (UN), Kofi Annan. Es zog erst Anfang Mai 2003 ab. Damit schien der Weg für eine Verständigung unter den kongolesischen Kriegsparteien geebnet worden zu sein, deren politische Handlungsspielräume aufgrund ihrer militärischen Abhängigkeit von den ausländischen Partnern bis dahin stark eingeschränkt waren. Das Abkommen des innerkongolesischen Dialogs im Dezember 2002 zur politischen Neuordnung des Landes bestätigte diese Vermutung. Die fünf beteiligten Verhandlungslager (Kabila-Regierung, Oppositionsparteien, Zivilgesellschaft sowie die inzwischen drei Rebellenorganisationen RCD, RCD-ML und MLC) einigten sich darin in Pretoria auf eine Machtteilung. Vereinbart wurde eine Regierung der nationalen Einheit unter der Präsidentschaft Kabilas sowie die Gründung von Übergangsorganen wie verfassungsgebende Versammlung, Parlament und Senat. Sie sollten in den kommenden zwei bis drei Jahren den Weg für die ersten demokratischen Wahlen seit der Erlangung der Unabhängigkeit 1960 ebnen. Differenzen über die Kontrolle der Armee führten dazu, dass die neue Übergangsregierung erst Ende Juli ihre Arbeit aufnahm.
Trotz dieser Hoffnungsschimmer müssen die Ausgangsbedingungen für einen erfolgreichen Übergang zu Demokratie und Einheit mit Skepsis betrachtet werden. Die Verschränkung mehrerer lokaler, nationaler und regionaler Konflikte, die sich seit 1998 zu einem voneinander abhängenden Kriegsgeschehen verdichtet haben, ist zweifellos die größte politische Herausforderung. Fraglich bleibt, ob von der Entschärfung der nationalen Konfliktelemente weitergehende Impulse für eine Beilegung der lokalen und regionalen Konflikte in der Kivu-Provinz, der Ituri-Provinz sowie in Ruanda und Uganda ausgehen werden. Die UN und ihre 4575 Mann starke Mission in der Demokratischen Republik Kongo (MONUC) sowie Südafrika können das erhoffte Ende des Krieges zwischen Kabila und den Rebellen als diplomatische Vermittlungserfolge für sich reklamieren.
Die Kehrseite dieser Bemühungen bleibt die weitgehende Vernachlässigung der lokalen und regionalen Konfliktebenen, die nach wie vor den gesamten Friedensprozess im Kongo destabilisieren. Im Kongo zeigt sich, wie schon in Liberia und Somalia, dass Konfliktlösungen im Kontext staatlicher Zerfallsprozesse außerordentlich schwierig sind, öffnen sie doch die sprichwörtliche Büchse der Pandora, die alles Übel enthält, aus der im Kongo gewaltbereite Akteure wie Milizen oder Kriegsherren schlüpfen, die gar kein Interesse an einer Beilegung des Krieges haben, zumal wenn wirtschaftliche Interessen eine große Rolle spielen. Im Osten Kongos hat der Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols die relativ ungefährdete Herrschaft ausländischer Armeen und ihrer kongolesischen Partner ermöglicht. Der einzige Widerstand, der ihnen in Kivu entgegenschlägt, wird bezeichnenderweise nicht von der kongolesischen Armee sondern von lokalen Milizen (Mai Mai) ausgeübt. Diese Tatsache sollte nicht ignoriert werden, denn allzu häufig werden an den Abzug der ausländischen Armeen Erwartungen geknüpft, die sich nicht erfüllen lassen.
Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um angesichts der tiefgreifenden Krise von Staat und Gesellschaft im Kongo zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Abzug der ausländischen Armeen die Probleme des Landes nicht lösen wird. Man kann auch provozierend sagen, dass Rebellionen im Kongo - wie auch in ganz Zentralafrika - mittlerweile zu einem "legitimen" Instrument des Regierungswechsels geworden sind. Die Lähmung des politischen Systems in Kinshasa infolge des gescheiterten Demokratisierungsprozesses in den Jahren 1990 bis 1996 war der letzte Schritt, der gewaltbereiten Akteuren die Möglichkeit eröffnete, sich in staatsfreien Räumen jenseits des nicht mehr alle Landesteile kontrollierenden Gewaltherrschers Mobutu zu etablieren. Dazu zählen nicht nur kongolesische Gruppen wie die großräumig operierenden Rebellen und die Milizen, die kleinräumig Kontrolle ausüben, sondern auch eine große Zahl solcher, die aus dem Ausland kommen und mitmischen. Seit Anfang der 1990er Jahre wurde der Kongo zum Austragungsort "importierter" Bürgerkriege von Rebellen gegen Armeen aus Angola, Ruanda, Burundi und Uganda.
Während also die Ursachen der politischen Krise im Zerfall des Staates und seines Gewaltmonopols zu sehen sind, gestaltet sich die Analyse von Verlauf und Dynamik des Konflikts weitaus schwieriger. Insbesondere die vielschichtigen Interessen der stetig wachsenden Zahl von Konfliktparteien entziehen sich schnell gefassten Urteilen. Die Dynamik sich wandelnder Interessen und Bündnisse ist ein wesentliches Hindernis der Konfliktbearbeitung im Gebiet der Großen Seen.
Große Aufmerksamkeit haben in jüngster Zeit die Wirtschaftsinteressen im Rahmen des Kongo-Konflikts gefunden. Eine weit verbreitete Auffassung sieht in der Aneignung wertvoller Bodenschätze wie Gold, Diamanten und Coltan durch die Konfliktparteien die primäre Ursache des Krieges. Dieser Erklärungsansatz, zugespitzt in der so genannten Gier-These von WeltbankÖkonom Paul Collier, blendet jedoch eine Reihe von anderen Faktoren aus und verwechselt Ursache und Wirkung des Krieges. Der Ansatz sieht bei allen im Kongo ausgetragenen Konflikten - ob lokal, national oder regional - eine gemeinsame Logik am Werke, die jeden Bewaffneten auf einen rein wirtschaftlich rational handelnden Menschen ohne politische Zielsetzung reduziert. Bis ökonomische Gewinnmaximierung aber zum Selbstzweck gewaltsamer Konflikte wird, ist es ein langer Weg. Dies räumt mittlerweile auch Collier ein, der das Trachten nach Ausbeutung natürlicher Rohstoffe nicht mehr als Hauptursache betrachtet, sondern als eine Möglichkeit, die Rebellionen mit sich bringen.
Im Kongo hat die Verfügbarkeit von Rohstoffen die Organisation von Rebellion und Kriegsführung wesentlich erleichtert. Zahlreiche Studien belegen aber, dass eine ursächliche Verbindung zwischen dem Ausbruch der Konflikte und dem Rohstoffreichtum des Landes nicht nachweisbar ist. Gleichwohl steht unzweifelhaft fest - und dies haben unter anderem Untersuchungsberichte eines UN-Expertenpanels zur illegalen Rohstoffplünderung dokumentiert -, dass ökonomische Interessen die politischen Ursachen des Konflikts überlagert haben. Der Krieg finanziert sich nicht nur selbst, wie Ruandas Präsident Kagame in seltener Offenheit einräumte, sondern er ist zu einem lukrativen Geschäft geworden. Nach UN-Angaben beliefen sich allein 1999 Ruandas Einnahmen aus der Beschlagnahmung und dem Export kongolesischer Reichtümer auf umgerechnet 320 Millionen US-Dollar, die zu einem nicht unerheblichen Teil zur Abdeckung der Kosten der militärischen Intervention verwendet wurden.
In Uganda und Simbabwe flossen die Einkünfte aus der Kriegsökonomie in beiden Ländern vorrangig in die Taschen politisch-militärischer Eliten, während die finanziellen Kosten der Intervention durch staatliche Budgets getragen werden mussten. Nach offiziellen Angaben beliefen sich die militärischen Ausgaben für Simbabwes Engagement während der ersten 14 Monate des Krieges auf 204 Millionen US-Dollar. Im Gegenzug vergab Präsident Joseph Kabila an die von Simbabwes Generälen kontrollierte Firma SOCEBO Konzessionen zur Ausbeutung von Edelhölzern in Waldflächen, welche die eineinhalbfache Größe Großbritanniens umfassen, nämlich 15 des Staatsgebietes der Demokratischen Republik Kongo. Die UN schätzen zudem, dass die Eliten-Netzwerke von Generälen und Regierungsmitgliedern aus Simbabwe sowie Kongo im Zeitraum zwischen 1998 und 2002 staatliche Vermögenswerte im Bergbausektor, insbesondere Diamanten- und Kupferminen, im Wert von mehr als 5 Milliarden US-Dollar an eigene Privatfirmen transferiert haben - ohne jede Entschädigung für die kongolesische Staatskasse.
Aus diesen Beobachtungen geht erstens hervor, dass die "Kriminalisierung" des Staates in Kongo, Simbabwe, Ruanda und Uganda so weit vorangeschritten ist, dass die Grenzen zwischen den Machenschaften von privaten und staatlichen Akteuren bis zur Unkenntlichkeit verschwommen sind. Alle großen Konfliktparteien streichen erhebliche Profite aus den Renten der Kriegsökonomie ein, seien es Rebellen, "eingeladene" ausländische Armeen wie aus Simbabwe oder "nicht-eingeladene" wie aus Ruanda und Uganda.
Daraus folgt zweitens, dass die meisten Kriegsparteien wenig Interesse an der Beendigung des Konflikts haben. Der Erhalt des Kriegszustandes eröffnet vor allem den ausländischen Armeen und kleineren Milizen die Möglichkeit zur Bereicherung und damit zur Instrumentalisierung politischer Unordnung. Dagegen dürfte für die Rebellenbewegungen der Regierungseintritt weitaus lukrativer sein, ermöglicht er doch den Zugriff auf die versprochenen Zuwendungen der Geber an den Kongo - bis Jahresende 2002 waren das 2,5 Milliarden US-Dollar -, welche die Einkünfte aus der Kriegsökonomie bei weitem übersteigen.
Deshalb liegt auf der Hand, dass der Zugriff auf die Renten der Kriegsökonomie blockiert werden muss, um in- wie ausländischen Kriegsparteien die materiellen Anreize zur Fortsetzung des Krieges zu entziehen. Dies kann allerdings kein Allheilmittel sein. Die Herausbildung der Raubwirtschaft bedeutet nicht - und dies ist hinsichtlich der Friedensperspektiven nicht ganz unwichtig -, dass die ursprünglichen Konfliktursachen irrelevant geworden sind, wie an den lokalen und regionalen Dimensionen des Konflikts abzulesen ist. Denn wer die Kriegsökonomie austrocknet, schafft damit nicht automatisch alternative Einkommensquellen für jene Tausende von jungen Männern, die sich Rebellen angeschlossen haben, weil sie, wie etwa in Kivu, keinen Zugang zu Land gefunden haben, von dem sie leben können. Die kongolesische Bevölkerung ist Teil jenes ärmsten Sechstels der Weltbevölkerung, der vier Fünftel aller weltweiten bewaffneten Konflikte erdulden muss. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, dass mancher "Konfliktrohstoff" nicht mit internationaler Kontrolle zu erfassen ist und dies unter Umständen auch gar nicht wünschenswert wäre. Beispielsweise ist die geografische Herkunft von Coltan nicht nachweisbar. Hinzu kommt, dass von Coltan nicht nur die Kriegsparteien profitieren, sondern dass dessen Abbau aufgrund des Zusammenbruchs der regulären Wirtschaftskreisläufe mittlerweile für viele Menschen in Kivu zur einzigen Überlebensquelle geworden ist.
Zurück zu den Ursachen: Das größte regionale Hindernis für die Friedensbemühungen im Kongo bleibt die potenzielle Bedrohung, die von circa 15.000 ruandischen Hutu-Milizen im Ostkongo gegen das Regime in Ruanda ausgeht. Diese Milizen, unter denen zahlreiche Organisatoren und Täter des Völkermordes von 1994 vermutet werden, bleiben die Kernursache für Ruandas militärisches Eingreifen im Kongo in den Jahren 1996/97 und seit 1998. Daran änderte auch der von westlichen Gebern erzwungene ruandische Truppenabzug im Oktober 2002 wenig, zumal die MONUC bei ihren Bemühungen um eine freiwillige Entwaffnung der Milizen bislang kaum Fortschritte erzielt hat. Solange diese Problematik nicht gelöst wird bleibt vorhersehbar, dass die Milizen als Rechtfertigung und Legitimation für ruandische Interventionen im Kongo dienen werden. Ohnehin wurde deutlich, dass der ruandische Truppenabzug wenige bis keine Auswirkungen zugunsten des Friedensprozesses im Kongo hatte, weder aus politischer noch (kriegs)ökonomischer Sicht. Alle ausländischen Armeen haben im Verlauf des Krieges Netzwerke errichtet, die auch über den formellen Truppenabzug hinaus funktionieren. Während dies im Falle Simbabwes auf "legale" Weise durch den Abschluss formeller Joint Ventures (Gemeinschaftsunternehmen) mit der international anerkannten Kabila-Regierung geschah, ergriffen Ruanda und Uganda indirekte und verdeckte Maßnahmen. Sie schlossen Allianzen mit lokalen kongolesischen Stellvertretern, die in Ituri und Kivu als Brückenköpfe fungieren.
Was dies für den kongolesischen Friedensprozess bedeutet, soll kurz am Beispiel Ruandas erläutert werden: Parallel zu dem Bündnis mit der RCD hat Ruanda im Verlauf der vergangenen zwei Jahre den Gouverneur Nord-Kivus, Eugne Serufuli, zu seinem verlängerten Arm im Ostkongo aufgebaut. Zwar ist Serufuli Vize-Präsident der RCD, er verfolgt jedoch, gestützt auf seine private rund 10.000 Mann starke Miliz, eine eigene Agenda. Dies ist auch der Grund dafür, dass er nicht zu den RCD-Politikern gehört, die ein politisches Amt innerhalb der Allparteienregierung bekleiden werden. Als Statthalter in Kivu wird er Ruandas Interessen durchsetzen - unabhängig davon, ob die Übergangsregierung im weit entfernten Kinshasa Bestand haben wird oder nicht. Der ruandischen Regierung ermöglicht diese Allianz die Überwachung der Hutu-Rebellen in Nord-Kivu sowie die ungehinderte Ausbeutung von Coltan und Gold, ohne direkt präsent zu sein. Damit kann sie auch eventuellen Sanktionen der westlichen Geber entgehen. Angesichts dieser Verschränkung politischer und ökonomischer Interessen kann es wenig überraschen, dass Serufuli und seine ruandischen Mentoren den Erhalt des Status quo ihrer (in)formellen Herrschaft über Nord-Kivu anstreben. Sollte sich diese Taktik als erfolgreich erweisen, wird die Provinz mittelfristig autonom und damit außerhalb des Einflussbereichs der Zentralregierung in Kinshasa bleiben. Damit würde aber eine Überwindung der Teilung des Landes und eine Wiederherstellung staatlicher Ordnung de facto unmöglich gemacht.
Als nicht weniger bedenklich könnten sich nach diesem Szenario die politischen Folgen in Nord-Kivu selbst erweisen. Serufulis vorwiegend aus Hutu zusammengesetzte Miliz und sein Bündnis mit der unbeliebten ruandischen Besatzungsmacht könnte die ohnehin schon prekären Beziehungen zwischen Nord-Kivus verschiedenen ethnischen Gruppen destabilisieren. Eine Neuauflage der ethnischen Konflikte, wie sie dort bereits zwischen 1992 und 1996 stattfanden, wäre dann unter neuen Bündniszusammensetzungen sogar wahrscheinlich.
Auch die Ituri-Provinz im Nordosten Kongos ist ein Kriegsschauplatz, der durch die Verknüpfung lokaler und regionaler Konflikte gekennzeichnet ist. Hier hatte die chaotische Besatzungspolitik Ugandas besonders gravierende Folgen, wie sich an den zahlreichen Massakern zwischen den Milizen der Hema und Lendu seit 1999 ablesen lässt. Ethnische Spannungen wurden durch die Entscheidung des ugandischen Besatzungschefs verschärft (1999), eine Hema-Politikerin zur Gouverneurin Ituris zu machen, was sowohl von den Lendu als auch von den Hema als Parteinahme gedeutet wurde. Dies hielt das ugandische Militär nicht davon ab, im Verlauf des Krieges jeder kongolesischen Rebellengruppe und Miliz in Ituri zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt Unterstützung zukommen zu lassen. Diese Teile-und-Herrsche-Strategie und die daraus entstandene politische Anarchie ist zweifellos ein Hauptgrund für den Tod von mindestens 50.000 Menschen in der Provinz.
Dabei handelt es sich keineswegs um einen ethnischen Konflikt, wie etwa die Existenz konkurrierender Hema-Milizen zeigt. Vielmehr erfüllt der Appell an eine Gruppenzugehörigkeit (Hema oder Lendu, Hema-Nord oder Hema-Süd) im Kontext des zerfallenen staatlichen Gewaltmonopols mehrere Funktionen, unter denen Sicherheit im weitesten Sinne die wichtigste darstellt. Erst die Wahrnehmung physischer Bedrohung, verschärft durch die ständig wechselnde Bündnispolitik Ugandas in Ituri, ermöglichte die gewaltsame Eskalation und diente im Anschluss daran Kriegsherren wie Thomas Lubanga von der Union Kongolesischer Patrioten (UPC) als Legitimations- und Geschäftsgrundlage. Soldat einer Miliz zu werden, verspricht zwar keinen Reichtum, mag aber der Alternative vorzuziehen sein, zum Opfer von Soldaten einer Miliz zu werden. Ob die im Juni 2003 stationierte und von Frankreich angeführte europäische Interventionsmacht diese Konfliktspirale wird durchbrechen können, erscheint nicht nur aufgrund ihres räumlich (auf Bunia) wie zeitlich (bis zum 1. September) beschränkten Mandats fraglich.
Erschwerend kommt hinzu, dass es keine politischen Lösungsansätze gibt, denn weder Lubanga noch seine Gegner sind bislang in den nationalen Friedensprozess eingebunden. Dies bleibt auch unwahrscheinlich, denn Lubanga und andere Warlords führen im Namen Ruandas einerseits und Ugandas und Kabilas andererseits einen Stellvertreterkrieg um Ituri. Wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kürzlich treffend festgestellt hat, wird die Virulenz des Kongo-Kriegs ungebrochen bleiben, solange die Präsidenten Kabila, Museveni und Kagame ihre niedergelegten Waffen an lokale Marionetten weiterleiten. Unter diesen Bedingungen erscheint eine Stabilisierung des Ostkongo als notwendige Voraussetzung für ein Gelingen des gesamtkongolesischen Friedensprozesses illusorisch. Auch die zahlreichen ermutigenden Friedensinitiativen zivilgesellschaftlicher Gruppen im Ostkongo stehen diesem Gewaltzyklus ohnmächtig gegenüber.
Möglicherweise bietet aber das plötzliche internationale Interesse an der Region einen Ausweg. Die im Juni gestartete internationale Militärintervention in Ituri, so der EU-Beauftragte für die Großen Seen, Aldo Ajello, verfolge neben ihrem humanitären auch das politische Ziel der Wiederbelebung des gefährdeten kongolesischen Friedensprozesses. Obwohl es offenkundig keine gemeinsame europäische Position in der Region der Großen Seen gibt, ist also mit erhöhtem diplomatischen Druck auf die Regierungen in Kinshasa, Kampala und Kigali zu rechnen, um den opferreichsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg zu beenden. Auch die Bundesregierung muss sich fragen lassen, ob die Einstufung von Ruanda und Uganda als Schwerpunktländer deutscher Entwicklungszusammenarbeit angesichts von deren militärischen und raubwirtschaftlichen Aktivitäten im Kongo aufrecht zu erhalten ist. Das jüngst in den Leitlinien der Politik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit postulierte "vitale Interesse" an Stabilität und politischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung in Afrika ist mit dieser Politik schwerlich in Einklang zu bringen.
Sowohl die internationale Militärintervention in Ituri als auch die Austrocknung der Kriegsökonomie können als wichtige und notwendige Beiträge zur Konfliktbearbeitung im Kongo betrachtet werden. Sie werden aber nicht die Probleme lösen, welche zur politischen Anarchie in Ituri und zum Aufkommen von selbstragenden Kriegsökonomien überhaupt erst geführt haben, insbesondere das Hauptproblem des Zerfalls staatlicher Strukturen. Wenn Frieden mehr bedeuten soll als die Abwesenheit von Gewalt, dann werden Maßnahmen zur Bekämpfung der Kriegsökonomie zwar Bereicherungschancen reduzieren, sie werden aber mittel- und langfristig nicht die Notwendigkeit politischer Antworten auf die eigentlichen Konfliktursachen ersetzen können.
Literatur:
Michela Wrong: Auf den Spuren von Mr. Kurtz. Mobutus Aufstieg und Kongos Fall, Berlin 2002
aus: der überblick 03/2003, Seite 6
AUTOR(EN):
Denis M. Tull:
Denis M. Tull war von 2001 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Afrika-Kunde und des Sonderforschungsbereichs 520 der Universität Hamburg. Er promoviert derzeit zum Thema "Zerfall und Transformation des Staates im Ostkongo", wo er sechs Monate lang Feldforschung betrieben hat.