Nach wie vor streben die Staaten danach, ihr Hoheitsgebiet abzugrenzen
Viele Grenzen in Europa kann man heute überqueren, fast ohne sie zu bemerken. Daraus auf einen Trend zum Verschwinden der Staatsgrenzen zu schließen, wäre jedoch verfehlt. Praktisch alle Staaten sind nach wie vor bestrebt, ihr Hoheitsgebiet klar abzugrenzen - sogar auf See und im Luftraum. Zwar verlieren manche Funktionen der Grenzen an Bedeutung. Aber während viele Grenzen offener werden, nehmen die Kontrollen und die Hemmnisse für den Grenzübertritt an anderen zu.
von Gerald Blake
Heute gibt es auf der Welt 191 unabhängige Staaten. Davon sind 41 Inselstaaten ohne Landgrenze. Wie viele auf dem Land verlaufende Staatsgrenzen es zwischen den übrigen 150 Staaten gibt und wie lang sie zusammen sind, ist - und das mag überraschen - nicht genau bekannt. Gideon Bigers Schätzung ist ein guter Anhaltspunkt: Er kommt auf 308 Landgrenzen von zusammen 266.000 Kilometern Länge. Das bedeutet, dass Staaten auf dem Festland im Durchschnitt zwei Landgrenzen zu anderen Staaten haben.
Wo formelle Grenzabkommen in Kraft sind, machen die Staaten die Kontrolle über die Grenzen und die Grenzregionen zu einem ihrer Hauptanliegen. Wo aber konkurrierende Ansprüche auf ein Territorium bestehen, werden diese auch heute noch sehr ernsthaft verfochten - zuweilen bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Übereinstimmung über die territorialen Grenzen zu erzielen, hat eine hohe Priorität im außenpolitischen Programm der meisten Staaten. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass je ein Staat beschlossen hätte, auf Grund der Annahme, dass die Tage der festen Grenzen gezählt seien, die Verteidigung seiner Grenzen zu Lande, zu Wasser oder in der Luft zu vernachlässigen.
Grenzstreitigkeiten zu zählen, ist schwierig. Es gibt unterschiedliche Definitionen dafür, wann ein solcher Streitfall vorliegt, und natürlich brechen sie oft neu aus oder werden beigelegt. Über viele lokale Grenzstreitigkeiten wird nie berichtet. Aber man kann grob schätzen, dass es heute rund 60 ungelöste Konflikte um Grenzen und Territorien gibt, davon ein Drittel in Europa und der ehemaligen Sowjetunion. Somit ist jede fünfte Landgrenze umstritten. Dieser Anteil entspricht etwa dem, den Paul Huth in seiner hervorragenden Untersuchung über die internationalen Grenzstreitigkeiten zwischen 1949 und 1995 ermittelt hat. Etwa ein Fünftel der 343 dort untersuchten Streitfälle hat früher oder später zu ernsten bewaffneten Konflikten geführt. Fragen der territorialen Abgrenzung können selbst unter einfachen Bürgern noch ein emotional aufgeladenes Thema sein. Die Zeit der Kriege um Territorien ist noch nicht zu Ende.
Allerdings lösen viele Staaten ihre Konflikte inzwischen oft durch Verhandlungen, Vermittlungsmissionen, Schiedssprüche oder Prozesse vor dem Internationalen Gerichtshof (International Court of Justice) in Den Haag, ohne dass es zu einem Krieg kommt. Die bei weitem häufigste Art der Lösung von Grenzkonflikten ist die direkte Verhandlung zwischen den beteiligten Parteien. Ein klassischer Fall aus jüngster Zeit war der Abschluss eines Abkommens über den Verlauf der 3645 Kilometer langen Grenze zwischen Russland und China im Jahre 1996. Dieses Abkommen beendete eine jahrzehntelange, gefährliche und erbitterte Konfrontation. Mittlerweile wenden sich trotz des großen Aufwands an Zeit und Kosten immer mehr Staaten mit Grenzkonflikten an den Internationalen Gerichtshof.
Es wächst auch das Interesse, die Landgrenzen, über die bereits Übereinkunft besteht, klar zu markieren und zu kontrollieren. Diese Tendenz hat sich dadurch verstärkt, dass es das Global Positioning System (GPS, ein satellitengestütztes Verfahren zur genauen Positionsbestimmung) heute möglich macht, Grenzverläufe mit einer nie zuvor gekannten Präzision zu bestimmen und zu kennzeichnen. Grenzen zu markieren, kann jedoch teuer sein - in manchem Umfeld sogar sehr teuer. Ein gutes Beispiel dafür ist die Demarkation der 657 Kilometer langen Grenze zwischen Oman und Saudi-Arabien von April 1991 bis März 1996. Die deutsche Firma Hansa Luftbild übernahm dabei die Vermessung und den Bau von 341 Grenzmarkierungen in einem äußerst unwirtlichen Wüstengebiet. Die Markierungen sind aus Beton und jede an fünf Stahlrohren befestigt, die bis zu 30 Meter tief in den Boden getrieben wurden.
Auch das Abstecken der Grenzlinie zwischen dem Irak und Kuwait von Mai 1991 bis September 1993 war mit großem Aufwand und hohen Kosten verbunden. Eine Kommission der Vereinten Nationen setzte mit Unterstützung von Vermessern aus Schweden und Neuseeland die Grenze fest und kennzeichnete sie mit 161 Grenzsäulen. Inoffizielle Schätzungen beziffern die Kosten auf eine Million Dollar pro Säule. Mindestens ein Dutzend weiterer Grenzen zwischen 20 verschiedenen Staaten werden zur Zeit gekennzeichnet, und viele weitere Projekte werden diskutiert. China ist zum Beispiel an der Kennzeichnung von gleich vier verschiedenen Grenzabschnitten beteiligt - zu Kirgisien, Tadschikistan und Kasachstan.
Im Großen und Ganzen ist das Bestreben nach einer klaren Kennzeichnung der Staatsgrenzen erfreulich. Es fördert das Vertrauen zwischen den Staaten und schafft eine vernünftige Basis für die geregelte Nutzung der Ressourcen im Grenzgebiet. Klar abgesteckte Grenzen sind nicht unbedingt weniger durchlässig als andere; allerdings ist dort die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Grenzverkehr genauer überwacht und reguliert wird. Aber markierte Grenzen können natürlich genau so durchlässig oder geschlossen sein, wie Staaten es wollen.
Bei den Grenzen zu Wasser verhalten die Staaten sich ganz ähnlich. Die Gesamtzahl der Grenzen auf dem Meer wird weltweit auf etwa 430 geschätzt; die Zahl wächst allerdings mit der Entstehung neuer Staaten. Für die 41 Inselstaaten ist die Kontrolle über ihre Seegrenzen äußerst wichtig, zumal viele von ihnen vom Fischfang abhängen und einige mit der Entdeckung von Bodenschätzen in ihren Meeresterritorien rechnen. Von den Festlandstaaten haben 41 keinerlei Zugang zum Meer; alle übrigen - die Küstenstaaten - zeigen ein starkes Interesse, ihre Grenzen zur See festzulegen, und betreiben das auch konsequent. Die Nutzung von Ressourcen am Meeresgrund, Sicherheitsfragen und der Schutz der Küstengebiete sind die Gründe für dieses Interesse.
Bisher ist über etwa 170 Grenzlinien zur See Übereinkunft erzielt worden, das entspricht etwa zwei Fünftel aller eventuell zu bestimmenden Grenzen. Vor 1950 gab es kaum ersthafte Versuche, Seegrenzen festzulegen. Zahlreiche Abkommen darüber wurden dann in den siebziger Jahren geschlossen, während die UN-Seerechtskonvention ausgearbeitet wurde. Gegenwärtig werden jährlich zwischen drei und fünf Abkommen über Seegrenzen unterzeichnet.
Die Grenzziehung zur See gestaltet sich unter anderem deshalb so langwierig, weil die Küstenstaaten um jeden Quadratmeter Meeresgrund kämpfen und die Probleme sehr kompliziert sind. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass irgendein Staat willens wäre, den Anspruch auf eigene Seeterritorien aufzugeben. Zudem haben jene Staaten, die über die Mittel dazu verfügen, Schritte eingeleitet, um ihre ausschließliche Wirtschaftszone vor unberechtigten Eindringlingen zu schützen. Diese sogenannten Exclusive Economic Zones (EEZ) erstrecken sich bis zu einer Entfernung von 200 Seemeilen von der Küste aus (vgl. "Wie verteilt man ein gemeinsames Erbe?" in diesem Heft). Der weltumspannende Handel mit Geräten für den Schutz und die Überwachung dieser Zonen ist bereits beträchtlich - etwa mit Patrouillenbooten, Radarüberwachungssystemen und Anlagen, die Schiffe aufspüren, um die Fischgründe zu schützen.
Nach der 1982 verabschiedeten UN-Seerechtskonvention sind Küstenstaaten berechtigt, auch jenseits der ausschließlichen Wirtschaftszone von maximal 200 Seemeilen Hoheitsansprüche zu erheben, falls sie beweisen können, dass sich der Kontinentalsockel unter dem Meer über diese Zone hinaus fortsetzt. Die Ansprüche einzelner Staaten müssen der Kommission zu den Grenzen des Festlandsockels (Commission on the Limits of the Continental Shelf), die ihre Arbeit 1997 aufgenommen hat, bis zum Jahr 2004 vorgelegt werden (gemäß einer anderen Interpretation bis 2007). Sie müssen mit detaillierten wissenschaftlichen Daten über die jeweilige Landmasse untermauert werden; das ist für die Staaten ein kostenintensives und unsicheres Unterfangen, denn ihre Ansprüche können zurückgewiesen werden. Trotzdem untersuchen 60 Staaten, ob sie einen solchen Anspruch erheben können. Einige, darunter Frankreich und Australien, erwägen sogar mehrere solche Ansprüche (fünf bzw. sieben). Die Kommission hat bis jetzt noch keine Anträge erhalten; es ist aber bekannt, dass Kanadas Vorbreitungen weit fortgeschritten sind.
Laut Victor Prescott erstrecken sich 29 Kontinentalsockel über mehr als 200 Seemeilen von der Küste weg. 23 davon müssen zwischen zwei oder mehr Küstenstaaten aufgeteilt werden. Manche dürften zwischen mehr als vier Staaten aufgeteilt werden, und auf einen - im südöstlichen Atlantik - erheben sieben Staaten Anspruch: Südafrika, Äquatorialguinea, Gabun, Kongo, Zaire, Angola und Namibia. Seit Prescotts Studie sind noch weitere Kontinentalsockel identifiziert worden, die mehr als 200 Seemeilen von der Küste weg hinausragen. Das Gesamtterritorium, das zwischen den Küstenstaaten aufzuteilen sein wird, ist erstaunlicherweise größer als die Antarktis. Kein Staat hat bisher auf sein Recht verzichtet, Ansprüche auf den Rand des Kontinentalsockels zu erheben, obwohl das Rechtsverfahren teuer und seine Resultate ungewiss sind und die Wahrscheinlichkeit, an den Kontinentalrändern Erdöl oder Erdgas zu finden, gering ist. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass die territorialen Instinkte des modernen Staates noch quicklebendig sind.
Von den 260 noch nicht festgelegten Grenzen zur See innerhalb der 200-Meilen-Zone - die auf dem Kontinentalsockel außerhalb dieser Zone sind in dieser Zahl nicht enthalten - ist mindestens jede vierte umstritten. Ein oder zwei Fälle, etwa die Streitigkeiten zwischen Griechenland und der Türkei über Teile der Ägäis, sind mögliche Krisenherde. Doch die meisten dürften sich ohne größere Konflikte bereinigen lassen. Grenzen zur See haben sich bislang als wenig konfliktträchtig erwiesen.
Besondere Probleme der Grenzziehung zur See ergeben sich daraus, dass die Hoheitsansprüche über mindestens 32 Inseln umstritten sind; an solchen Disputen, von denen einige mehr als nur eine Grenze betreffen, sind 44 Staaten beteiligt. Streitigkeiten um Inseln, selbst um sehr kleine, rufen oft starke Emotionen hervor, und einige - etwa der Disput um die Spratly-Inseln - sind eindeutig ein Krisenherd. Die meisten Inseln sind den Staaten deshalb so wichtig, weil sich mit ihrem Besitz ein Anrecht auf zusätzliche Meeresbodenfläche verbindet.
Und wie steht es mit den Grenzen im Luftraum? Die Konventionen von Paris 1919 (1922 in Kraft getreten) und von Chicago 1944 (seit 1947 in Kraft) haben den Grundsatz festgelegt, dass jeder Staat vollständige und ausschließliche Souveränität über den Luftraum oberhalb seines Territoriums genießt. Der nationale Luftraum wird vertikal aufwärts über den Landgrenzen abgegrenzt und umfasst auch den Luftraum innerhalb der Seegrenzen bis zu einer Distanz von 12 Seemeilen vom Ufer. Die Chicagoer Konvention wollte zwar eine weitgehende Freiheit des Luftraums erreichen, aber tatsächlich kann kein Überflug ohne die Erlaubnis der Staaten stattfinden, deren Souveränität betroffen ist. Unter anderem den staatlichen Luftfahrtgesellschaften Israels und Südafrikas ist in den vergangenen Jahrzehnten der Überflug über bestimmte Staaten verweigert worden.
Die Staaten erlassen im Interesse der Flugsicherheit über ihrem Territorium strikte Regeln für die Flugstrecken, Zeitpläne und Eintrittspunkte. Die Fluginformationsgebiete (Flight Information Regions, FIR), die von der Internationalen Organisation für zivile Luftfahrt (International Civil Aviation Organisation, ICAO) festgelegt worden sind, halten sich eng an die Staatsgrenzen. Obwohl der Luftverkehr effizienter von internationalen Organisationen kontrolliert werden könnte, haben die meisten Staaten ein starkes Interesse daran, die Kontrolle über ihre Fluginformationsgebiete zu behalten. Im Luftraum sind die Grenzen zwar unsichtbar, aber er ist ein Mosaik von eng regulierten Zonen, das weitgehend die Souveränitätsrechte der Einzelstaaten widerspiegelt. Bisher gibt es im Völkerrecht keine Gesetze, die der staatlichen Souveränität im Luftraum nach oben eine Höhengrenze setzen.
Die Engpässe und Verspätungen im europäischen Luftraum im Sommer 1999 hatten unter anderem damit zu tun, dass die Staaten nicht zu internationalen Kontrollen des Luftraums übergegangen waren. Ein Reporter der BBC, der darüber aus einem Flugzeug berichtete, überraschte die Zuschauer mit der Bemerkung: "Die Grenzen zwischen den europäischen Staaten bemerken wir am Boden fast gar nicht mehr, aber hier oben sind sie sehr deutlich zu spüren."
Dass zivile wie militärische Flugzeuge tatsächlich oder angeblich den Luftraum von Staaten verletzen, tritt mittlerweile mit alarmierender Regelmäßigkeit auf. Eine Datensammlung verzeichnet zum Beispiel zwischen März 1991 und Dezember 1994 72 Verletzungen des Luftraums. Nationalstaaten reagieren darauf äußerst sensibel.
Welche Funktionen erfüllen Grenzen? Traditionell werden den Grenzen von Staaten, die dem mit dem Westfälischen Frieden (1648) begründeten Staatsmodell entsprechen, vier Hauptfunktionen zugeschrieben. Erstens definieren Grenzlinien die Grenzen der staatlich-territorialen Souveränität. Zweitens ermöglichen sie es den Regierungen, Bewegungen über die Grenzen zu überwachen und das Eindringen unerwünschter Personen, Güter und Informationen so weit wie möglich zu verhindern. Drittens stellen sie einen Schutzwall dar, den das Militär zu verteidigen hat. Viertens - und dies ist weitgehend das Resultat der zuvor angeführten Funktionen - sind Grenzen Instrumente des Aufbaus einer nationalen Identität. Der Staat versucht also, Territorialität, innere Sicherheit und Identität mit Hilfe der Aufrechterhaltung sichtbarer Grenzlinien und der Kontrolle über die Grenzgebiete zu erreichen.
Die meisten Staaten verfolgen diese vier grundlegenden Ziele weiterhin. Doch dabei sind sie offensichtlich nicht mehr so erfolgreich wie zuvor. Die Rolle der Grenzen ist schon seit einiger Zeit im Niedergang begriffen. Leider gibt es dafür aber nur wenige empirische Belege. Kein Forschungsinstitut hat je versucht, die Durchlässigkeit der internationalen Grenzen wissenschaftlich zu erfassen; die Aufgabe ist offensichtlich zu aufwändig. In vielen Staaten werden solche Informationen nicht gesammelt, oder sie sind nicht zugänglich. Von einigen Ländern gibt es zwar verlässliche Daten zum grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr, doch riesige Bereiche bleiben im Dunkeln oder erscheinen mehrdeutig. Die Durchlässigkeit von Grenzen verändert sich zudem in manchen Teilen der Welt im Laufe der Zeit ganz abrupt. Hinzu kommt das Problem der statistisch nicht erfassbaren Bereiche wie Schmuggel, illegale Migration und so weiter. Das Ausmaß dieser illegalen Bewegungen ist nicht bekannt, aber wahrscheinlich größer, als die Behörden zugeben.
Kurz, für die Durchlässigkeit der meisten Grenzen gibt es kein objektives Maß. Die groben Zahlen über die steigende Flut der internationalen Reisen und das wachsende Volumen des Welthandels sind aber eindeutig. Doch leider verraten diese Zahlen wenig über den Grad der Offenheit oder Geschlossenheit einzelner Grenzen und gar nichts über den wechselnden Grad ihrer Durchlässigkeit über längere Zeiträume.
Inwiefern haben sich die vier Funktionen von Grenzen geändert? Was die erste Funktion angeht, so machen Staaten weiterhin große Anstrengungen, um ihre territoriale Souveränität zu behaupten - zu Land, zur See und in der Luft. Während die Macht der Staaten in anderen Bereichen abnimmt, bleibt dies eine der Grundfunktionen von Grenzen. So schreibt Marcel Kohen: "Die Ausübung von Macht, ob 'national' oder 'supra-national', bleibt weiterhin eng ans Territorium gebunden. Gesetze werden immer für die Anwendung innerhalb eines bestimmten Territoriums erlassen, die Entscheidungen der Exekutive gelten weiterhin in den Grenzen von deren territorialer Hoheit, und auch Richter haben nur in diesem Rahmen die Kompetenz, sich mit Rechtsstreitigkeiten zu befassen. Selbst die 'supranationalen' Entscheidungen, die von den Organen der Europäischen Union gefällt werden, sind nur innerhalb der territorialen Grenzen ihrer Mitgliedstaaten anwendbar."
Die territoriale Souveränität des Staates ist allerdings nicht überall gewährleistet. Erstens gibt es Alternativen zur staatlichen Hoheit - etwa neutrale Zonen, gemeinsame Entwicklungsgebiete, Kondominien (hier wird die Gebietshoheit gemeinsam ausgeübt), Zonen mit Überflugverbot, Pufferzonen und gemeinsame Zonen auf dem Meer. Diese verdienen mehr Aufmerksamkeit, als sie erhalten. In all diesen Zonen ist die Hoheit des Staates in bestimmten Punkten eingeschränkt. Zweitens haben viele Staaten die Kontrolle über Teile ihres Territoriums an regierungsfeindliche Gruppierungen oder Warlords verloren. Würde man diese auf einer Weltkarte eintragen, dann hätten wir sichtbare Belege dafür, dass das alte System rissig geworden ist.
Die zweite Funktion der Grenzen ist die als Barriere. Sie hat sich, wie oben erwähnt, stark abgeschwächt. Im Mittelpunkt der Debatte darüber stehen die Auswirkungen der neuen Informationstechnologien, die den schnellen Austausch von Ideen, Wissen und Kapital über internationale Grenzen hinweg ermöglichen. Die Europäische Union hat Grenzkontrollen praktisch abgeschafft, und die europäischen Staaten, die 1997 das Abkommen von Schengen unterschrieben haben, haben ihre Grenzen untereinander geöffnet. Es ist kaum überraschend, dass die Revolution im Kommunikationswesen zusammen mit den politischen Plänen, die Grenzen zu öffnen, manche Beobachter veranlasst hat, eine Welt ohne jede Grenze vorauszusagen.
Doch so spektakulär die Veränderungen im Barrierencharakter von Staatsgrenzen auch sind, so sind sie doch auch äußerst uneinheitlich. Wie die Zeitschrift The Economist bemerkt, scheint sich für jede Grenze, die aufgeht, eine andere zu schließen. Die Außengrenzen der Europäischen Union sind heute weniger durchlässig als früher, weil dort der Übertritt von Personen und Gütern in die EU für alle 15 Mitgliedstaaten kontrolliert wird. Das ist eine komplizierte Operation, die durch die neuen Kommunikationstechnologien ermöglicht wird. In vielen anderen Teilen der Welt dienen Staatsgrenzen noch immer der Überwachung von illegaler Zuwanderung, der Kontrolle des Schmuggels (einschließlich des Drogenschmuggels) sowie zur Überwachung des organisierten Verbrechens. Eine Hauptaufgabe der Grenzkontrollen mancher islamischer Staaten ist es, Alkohol zu konfiszieren.
Viele Staaten, die eine Politik der offenen Grenzen praktizieren, haben mittlerweile erfahren, wie schwierig es ist, die Freiheit des wirtschaftlichen Austauschs mit der Kontrolle über unerwünschte grenzüberschreitende Bewegungen zu vereinbaren. Es ist möglich, dass eine Reihe "weicher" Grenzen in Zukunft wieder "härter" werden, wenn Regierungen gegen den Missbrauch von offenen Grenzen vorgehen. Und eine Reihe von Grenzen bleibt weiterhin praktisch vollkommen geschlossen - etwa die zwischen Israel und Syrien, Indien und Pakistan und den beiden Koreas.
Und die dritte Funktion von Grenzen, die Sicherheitsfunktion? Für die Verteidigung der Staaten gegen eine Invasion stellen Grenzen heute kaum mehr dar als eine Art symbolischer Fallstricke. Moderne Waffen wie die Artillerie mit großer Reichweite, Raketen und Flugzeuge haben die Verteidigung des Grenzgebietes zu einem Anachronismus gemacht. Dennoch sind nur wenige Grenzen auf der Welt entmilitarisiert. Viele Staaten konzentrieren noch immer beträchtliche Streitkräfte in ihren Grenzgebieten, um denkbare Bedrohungen vonseiten verschiedener bewaffneter Gruppen abzuwehren - von Drogenbaronen in Südamerika über regierungsfeindliche Rebellen in Afrika bis hin zu politisch motivierten Terroristen im Nahen Osten. Manche Grenzgebiete wie das zwischen Burma und Thailand sind seit Jahrzehnten von solchen Konflikten geprägt. Einige der hartnäckigsten grenzüberschreitenden Kriege werden geschürt und verlängert, weil eine Nachbarregierung dem betroffenen Land feindlich gegenübersteht.
Das Auftreten des Militärs an den Grenzen ist in manchen Fällen kaum nennenswert, etwa innerhalb der Europäischen Union oder entlang der Grenze zwischen den USA und Kanada. In Krisengebieten wie an der Grenze zwischen Nord- und Südkorea oder zwischen Indien und Pakistan ist das Militär dagegen weiterhin äußerst aktiv.
Erweitern wir den Begriff der staatlichen Sicherheit um das Kriterium Schutz der Umwelt, so erscheinen Staatsgrenzen immer weniger relevant. Saubere Luft, sauberes Wasser und saubere Strände kann heutzutage keine Regierung ihren Bürgern mehr ohne internationale Zusammenarbeit garantieren. Auf lokaler Ebene gibt es viele Beispiele der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Umweltschutz. Die Zusammenarbeit zwischen benachbarten Naturschutzgebieten ist ein gutes Beispiel dafür. Forschungen am Globalen Zentrum für die Beobachtung von Naturschutzgebieten in Cambridge haben ergeben, dass in 136 Fällen weltweit zwei oder mehr benachbarte Naturschutzgebiete über eine Staatsgrenze hinwegreichen; betroffen sind insgesamt 112 Staatsgrenzen.
Die Rolle von Grenzen für die nationale Identität ist ein höchst aktuelles Thema. Es wird zunehmend darüber gestritten, was eine nationale Identität begründet und die Basis der Staatsbürgerschaft ist. Über 80 Millionen Menschen leben mittlerweile längere Zeit oder dauerhaft außerhalb ihres Geburtslandes. In einigen Ölstaaten des Nahen Ostens sind Gastarbeiter gegenüber den Bürgern des Landes in der Mehrheit, doch haben sie nur selten die Möglichkeit, sich einbürgern zu lassen. Weltweit gibt es mindestens 12 Millionen Flüchtlinge, 1,2 Millionen davon allein in Europa. Der Tourismus führt jährlich schätzungsweise 600 Millionen Menschen in andere Länder - diese Zahl liegt nicht weit unter der der gesamten Weltbevölkerung im Jahre 1800, und innerhalb der nächsten 20 Jahre soll sich das Tourismusaufkommen noch einmal verdoppeln. Vor diesem Hintergrund scheint es absurd, sich Staatsgrenzen als eine Art Gehäuse vorzustellen, das Menschengruppen von gleicher Nationalität und Identität vereint.
Zu diesen Mobilitätsfaktoren kommen noch die Anfänge einer globalen Zivilgesellschaft hinzu. Sie bildet sich durch die Entstehung internationaler Netzwerke auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene. John Agnew und andere haben argumentiert, dass solche Netzwerke neue politische Räume außerhalb der Grenzen des Staatssystems schaffen werden.
Die Funktion der Grenzen und das Maß, in dem sie als "offen" oder "geschlossen" gelten können, hängt stark davon ab, ob die jeweiligen Staaten Mitglieder in einem der großen wirtschaftlichen Blöcke sind oder nicht. Zwar besteht oft eine beträchtliche Diskrepanz zwischen den Zielen von Staatengruppen, wie sie in deren Verfassungen festgelegt sind, und der Praxis. Aber die Existenz solcher Blöcke ist trotzdem heute der wahrscheinlich wichtigste einzelne Faktor, der Unterschiede in der praktischen Bedeutung von Grenzen hervorruft. Da diese Staatenblöcke im Schnitt erst seit etwa 25 Jahren bestehen, sind ihre Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen noch nicht vollständig absehbar. Das Modell Europas legt aber die Vermutung nahe, dass die Außengrenzen dieser regionalen Blöcke härter werden und eine Reihe von Barrierenfunktionen erfüllen werden. Die Notwendigkeit, die internationale Kriminalität zu bekämpfen und illegale Wanderungsbewegungen zu kontrollieren, könnte auch in Zukunft dafür sorgen, dass einige internationale Grenzen ein Hindernis für die Bewegungsfreiheit von Personen und Gütern bleiben.
Heute wirken starke transnationale Kräfte über politische Grenzen hinweg, und das Gewicht regionaler Staatengruppen wächst. Trotzdem erfüllt aber ein Großteil der Staatsgrenzen weiterhin ihre traditionellen Funktionen. Der kleine Teil der Grenzen, die an Bedeutung verlieren, darunter die innerhalb der Europäischen Union und die Grenze zwischen den USA und Kanada, sind eher die Ausnahme als die Regel. Größere Staaten wie China oder Indien lassen noch keinerlei Begeisterung für offene Grenzen erkennen.
Allen Staaten der Welt ist weiterhin ein starkes Interesse an ihrer territorialen Souveränität gemeinsam. Ungeachtet aller Zweifel an der nationalen Identität kann die Bedrohung der territorialen Integrität eines Staates noch immer gewaltsame Reaktionen auslösen. Die Regierungen sind erpicht, ihre Staatsgrenzen zu befestigen, zu kontrollieren und zu erweitern - sogar auf See bis an die Ränder der Kontinentalsockel. Obwohl viele der früheren Staatsfunktionen im Verschwinden begriffen sind, ist der Schutz des Territoriums weiterhin ein legitimer und merkwürdig populärer Bereich des Regierungshandelns.
Neben dem Trend zu wirtschaftlich motivierten Staatengruppen gibt es auch einen zu militärisch, politisch, oder religiös motivierten Gruppierungen. Eine Art islamischer Koalition, die sich bis nach Zentralasien erstrecken könnte, scheint durchaus denkbar. Nach den vorliegenden Daten ist es wahrscheinlich, dass verschiedene regionale Staatengruppen entstehen werden, denen die Mehrheit aller Staaten angehören wird; dass alte Staaten überleben und neue entstehen werden; und dass Regionen unterhalb der staatlichen Ebene beträchtliche Bedeutung erhalten werden - so wie bereits heute im Falle Europas. Grenzen werden auf diesen unterschiedlichen Ebenen verschiedene Rollen spielen. Aber sie werden keineswegs alle ihre Funktionen verlieren. Man mag das bedauern, aber die Zahl der offenen Grenzen wird auf absehbare Zeit nicht so stark wachsen, wie wir häufig annehmen.
Literatur
Agnew, John: Mapping political power beyond state boundaries: territory, identity and movement in world politics; in: Millennium 28 (3), 1999.
Biger, Gideon: Encyclopedia of international boundaries; Facts on File, New York 1995.
Huth, Paul K., Standing your ground: territorial disputes and international conflict; University of Michigan, Ann Arbour 1996.
Prescott, Victor: National rights to hydrocarbon resources on the continental margin beyond 200 nautical miles; in: G. Blake u.a. (Hrsg.), Boundaries and Energy, Den Haag 1998.
Kohen, Marcel: Is the notion of territorial sovereignity obsolete?; in: M. Pratt/J.Brown (Hrsg.), Borderlands under stress, Den Haag 2000.
aus: der überblick 04/2000, Seite 16
AUTOR(EN):
Gerald Blake :
Gerald Blake ist Professor am Fachbereich Geografie und Leiter der "International Boundaries Research Group" an der Universität Durham (Großbritannien). Sein Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der Anfang 2001 in der Zeitschrift "Geopolitics" erscheinen wird; wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung von "Geopolitics".