Neue Grenzen allein würden das Horn von Afrika nicht friedlicher machen
Das Konzept, dass jeder Staat von einer kulturell einheitlichen Nation getragen wird, kann am Horn von Afrika nicht Grundlage einer friedlichen Ordnung sein. Die meisten Staaten dort begünstigen eine einzelne Bevölkerungsgruppe, und viele der benachteiligten Gruppen streben einen eigenen Staat an, der sich nur als kleine Kopie der bestehenden erweisen würde. Zum Frieden wird diese Region nur finden, wenn das Verhältnis von Staat und Volk grundlegend neu bestimmt wird.
von Leenco Lata
Der Nationalstaat als ein Konzept für die Organisation des menschlichen Zusammenlebens ist in Europa entstanden; in einem Prozess, in dem Nachahmung und Zwang eine Rolle spielten, hat er sich auf die ganze Welt ausgebreitet. Damit wurde eine neue Art von Staat eingeführt: Theoretisch besitzt der Nationalstaat die unbestrittene Kontrolle und Hoheit über ein klar definiertes Territorium, auf dem eine kulturell und sprachlich homogene Bevölkerung lebt, die Nation. Nation und Staat werden seitdem zunehmend als gleichbedeutend angesehen. Dies hat den unbezähmbaren Drang ausgelöst, alle existierenden Staaten zu Nationen zu machen oder einen Staat für jede Nation zu schaffen.
Zwei genau entgegengesetzte Leidenschaften sind dadurch entfesselt worden: Auf der einen Seite entwickelten Herrscher von Staaten mit kulturell heterogener Bevölkerung den leidenschaftlichen Wunsch, verschiedene Völker unter ihrer Herrschaft durch schnelle Zwangsassimilation zu einer Nation zu vereinen. Auf der anderen Seite lehnten viele der betroffenen Bevölkerungsgruppen eine Assimilation nicht nur ebenso leidenschaftlich ab, sondern begannen sich auch als Nation zu betrachten, die einen eigenen Staat verdient.
Da sich die zweite Tendenz insgesamt stärker durchgesetzt hat, beobachtet man seitdem eine ständige Zunahme der Zahl der Staaten. Zwischen 1814 und 1871 stieg die Zahl der bedeutenden unabhängigen Staaten Europas von sechs auf vierzehn. Das Ende des Ersten Weltkriegs führte zur Entstehung weiterer unabhängiger Staaten. 1919 waren 45 Staaten als Mitgliedstaaten des neu gegründeten Völkerbundes vorgesehen (einige, darunter die USA, haben den Beitritt dann nicht ratifiziert). Weitere Staaten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, und die Mitgliederzahl der Vereinten Nationen stieg kontinuierlich von anfänglich 50 auf über 150 in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Man hoffte damals, dass sich die Zahl der Mitgliedstaaten bei unter 160 stabilisieren werde, da sich der Entkolonisierungsprozess seinem Abschluss näherte. Das Ende des längsten Weltkriegs, des Kalten Kriegs, machte diese Hoffnung jäh zunichte. Die Auflösung der UdSSR, der Zusammenbruch Jugoslawiens und die gütliche Trennung von Tschechen und Slowaken ließen die Zahl der UN-Mitglieder bis 1992 auf 178 emporschnellen. Nach der Aufnahme von Eritrea und Osttimor ist heute die Zahl von 180 erreicht. Wenn es bei diesem Kurs bleibt, dann könnte die Zahl der Staaten auf der Erde nach Ansicht mancher Fachleute auf über 5000 steigen. Dieses Szenario birgt Aussichten auf ein lokales und globales Chaos, die schlicht erschütternd sind.
Die Konsumunterschiede zwischen reichen und armen Ländern haben bereits ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Einige arme Länder mögen der Meinung sein, dass diese Kluft nur verkleinert werden kann, wenn sie dem europäischen Beispiel folgen - also einen eigenen Nationalstaat gründen und ihn als exklusives Gebiet der wirtschaftlichen Akkumulation lenken. Realistischere Länder mögen sich vielleicht das Ziel setzen, zumindest besser als ihre Nachbarn wegzukommen. Aber in den meisten wäre das Ergebnis nur endloser Aufruhr. Und wenn es in Ausnahmefällen einigen Ländern gelingen sollte, aus ihrem Elend auszubrechen, können sie sich glücklich dem Lager anschließen, das ohne Rücksicht auf die Zukunft die Ressourcen der Welt verbraucht. Wenn die Erde ein gastlicher Ort für heutige und künftige Generationen werden soll, wird man über vieles neu nachdenken müssen.
Nirgendwo sonst ist es so dringend nötig, das Verhältnis zwischen Volk und Staat zu überdenken und neu zu gestalten wie am Horn von Afrika. Denn in dieser Region leben einige der ärmsten Gesellschaften der Welt. Dort sorgen die rasch fortschreitende Verschlechterung der Umweltbedingungen, zwischenstaatliche Konflikte, innerstaatliche bewaffnete Auseinandersetzungen und der Streit von Bevölkerungsgruppen um knapper werdende Ressourcen dafür, dass die Menschen einer trostlosen Zukunft entgegensehen.
Zahlreiche Faktoren sind allen Staaten am Horn von Afrika gemeinsam. Die Staatsorgane haben dort überall den Ruf, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen einzelner regionaler, ethnischer oder religiöser Gruppen zu fördern. In Dschibuti begünstigt der Staat nach Ansicht aller anderen Bevölkerungsgruppen die Issa-Somalis, die seit der Unabhängigkeit den Ton im Land angeben. Alle früheren äthiopischen Regime galten als Verfechter der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Vormachtstellung der Amharen, und der heutigen Regierung wird nachgesagt, dasselbe für die Tigre zu tun. Ein Teil der Muslime im eritreischen Tiefland neigt zu der Ansicht, der neue Staat Eritrea sei von Tigrinja sprechenden koptischen Christen aus dem Hochland dominiert. Im Sudan versucht der Staat, sich ein arabisches und muslimisches Gesicht zu geben, und das wird im überwiegend christlichen und animistischen Süden des Landes entschieden abgelehnt; die Folge ist ein katastrophaler Bürgerkrieg. Dass der Staat in Somalia schließlich zusammengebrochen ist, lag vor allem daran, dass seine Basis unter den Stammes- und Klangruppen immer mehr auf einzelne Gruppen eingeengt wurde. In keinem dieser Länder gelten die staatlichen Institutionen und ihre Politik als unparteiisch, legitim oder als die Interessen und Identitäten aller Bevölkerungsteile umfassend.
Als Folge werden die offiziell vorgegebene "nationale" Identität der Staaten und die Legitimität der Machthaber von innen untergraben. Die Forderungen reichen von einer Neudefinition der staatlich auferlegten nationalen Identität und der Teilhabe neuer Gruppen an der Macht bis hin zu Dezentralisierung und Verlagerung von Entscheidungen auf untere Ebenen des Staates. Gelegentlich werden Forderungen nach Selbstbestimmung laut, bis hin zur Sezession und Schaffung eines eigenen unabhängigen Staates. Wenn bescheidenere Forderungen nicht erfüllt werden, kann die Enttäuschung leicht zum Ruf nach einem eigenen Staat führen.
Gleichzeitig sind auch die Beziehungen zwischen diesen instabilen Staaten sehr gespannt. Deshalb unterstützen deren Regierungen regelmäßig bewaffnete Oppositionsgruppen in anderen Staaten aus der taktischen Überlegung heraus, diese Staaten zu schwächen. Zudem verfolgen alle die Politik, die Dissidentengruppen in anderen Ländern gegeneinander auszuspielen. Damit vergiften sie die Beziehungen zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen, für die die Dissidentengruppen zu kämpfen vorgeben. Es wird daher immer schwieriger, die Konflikte in den verschiedenen Ländern auseinander zu halten und voneinander zu trennen. Unter diesen Voraussetzungen scheint der Versuch, einen Konflikt beilegen zu wollen, ohne sich mit den anderen zu befassen, wenig aussichtsreich.
Wenn wir Konflikte lösen wollen, die sowohl eine örtliche Dimension haben (das heißt einzelne Gruppen der Bevölkerung betreffen) als auch eine innerstaatliche und eine zwischenstaatliche, dann sagt uns die Vernunft, dass wir gleichzeitig auf allen drei Ebenen ansetzen müssen. Tatsächlich wird ein solcher Ansatz bereits praktiziert, wenn auch eher zufällig. Die Intergovernmental Authority on Development (Zwischenstaatliche Behörde für Entwicklung, IGAD), die zwischen Nord- und Südsudan vermittelt, ist ein Beispiel für einen Ansatz auf regionaler Ebene. Gleichzeitig gibt es mehrere Versöhnungsinitiativen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen an der Basis. Die jahrelangen Gespräche zwischen Dinka und Nuer im Südsudan haben einen Frieden geschaffen, der noch immer hält. Ebenso langwierige Diskussionen zwischen den Führern mehrerer Volksgruppen haben zur Bildung einer Regierung in der Republik Somaliland geführt, die recht gut funktioniert, obwohl sie international und in der Region nicht anerkannt wird. Ihr jüngeres Gegenstück in Südsomalia gilt als aussichtsreiche Basis für eine neue Regierung dort. Gefragt ist nun, diese Entwicklungen als richtig anzuerkennen, die Lehren daraus zu ziehen und sie auf alle anderen Fälle von Konflikten im Horn anzuwenden, während die nebeneinander laufenden Friedensinitiativen aufeinander abgestimmt werden.
Damit dieser Ansatz zum Erfolg führt, müssen sowohl die Machthaber als auch ihre Gegner sich von überkommenen Ansichten lösen. Die Vertreter der Staatsgewalt müssen von der Meinung abgehen, ihr Staat sei eine unveränderliche Einheit, deren Grenzen es um jeden Preis zu verteidigen gelte. Das wünschenswerte Fernziel kann umschrieben werden als Kultivierung einer neuen nationalen Identität, die sich aus den Identitäten aller Bevölkerungsteile zusammensetzt. Das Ergebnis wäre eine grundlegende Neugestaltung des Verhältnisses von Bevölkerung und Staat an der Basis der Gesellschaft.
Die Oppositionsgruppen sollten ihrerseits aufhören, Selbstbestimmung und staatliche Unabhängigkeit als notwendigerweise das Gleiche anzusehen. Auch sie sollten auf ein qualitativ neues Verhältnis von Volk und Staat hinarbeiten, statt ein Abbild des bestehenden Staates schaffen zu wollen. Außerdem sollten sie sich klarmachen, dass Selbstbestimmung mehrere Aspekte aufweist und ein fortschreitender Prozess ist, der nicht mit dem Hissen der Nationalflagge und der Ausrufung eines neuen Staates beendet ist.
Mit diesem Ansatz würde ein neues Horn von Afrika angestrebt, das gemeinsame Heimatland aller seiner Völker. Wir sprechen von einer neuen Art von Staat, der die Identitäten und Interessen aller seiner Völker in sich schließt und diese in ihren jeweiligen nationalen Identitäten sichtbar macht. Wenn dies nach und nach auf lokaler, staatlicher und regionaler Ebene gelänge, dann wären die bestehenden Staatsgrenzen nicht länger Trennungslinien, sondern Brücken für Zusammenarbeit und Freundschaft. Ein Scheitern würde dagegen die Ausbreitung und Verschärfung von Konflikten bedeuten - gleich ob neue Grenzen gezogen würden oder nicht.
Äthiopien kann aus verschiedenen Gründen jedes dieser Szenarien entscheidend vorantreiben und daher eine Schlüsselrolle für die Zukunft am Horn von Afrika spielen. Zum einen ist Äthiopien dort das bevölkerungsreichste Land; es liegt in dessen Zentrum und hat gemeinsame Grenzen und Volksgruppen mit allen anderen Staaten der Region. Somit können günstige wie ungünstige Entwicklungen in Äthiopien Auswirkungen auf die restlichen Länder am Horn haben. Zum anderen haben die Kämpfe gegen die Assimilationspolitik der früheren Regierungen Äthiopiens nach 1991 eine neue Staatsstruktur hervorgebracht, die sich auf die Identitäten aller Bevölkerungsgruppen stützt. So ist der äthiopische Staat im Prinzip zu einer neuen multinationalen Einheit geworden, welche die Identitäten aller innerhalb ihrer Grenzen lebenden Völker anerkennt und widerspiegelt. Das Problem ist, dass die gegenwärtigen, zur Gruppe der Tigre gehörenden Machthaber entschlossen sind, diesen Staat nach stalinistischem Vorbild zu führen, um ihre Heimat Tigre zu einer Insel des Wohlstands in einer weiter verarmenden Region zu machen.
Dieser Missbrauch einer im Grunde erfreulichen Entwicklung hat zahlreiche Folgen: Wann immer sich in Äthiopien eine Stimme gegen die schreiende Ungerechtigkeit beim Einsatz von Macht und Ressourcen erhob, musste sie mit Gewalt zum Schweigen gebracht werden. Zudem werden gezielt Konflikte zwischen Äthiopiens verschiedenen Völkern geschürt mit dem Ziel, den Zorn der Bevölkerung von den Herrschenden abzulenken. Mit der Begründung, sie verfolgten bewaffnete Oppositionsgruppen, haben äthiopische Truppen mehrfach die Grenze zu Kenia und Somalia überschritten. In mehrerlei Hinsicht wird das von den Tigre dominierte Äthiopien dem Südafrika zur Zeit der Apartheid immer ähnlicher: Die Vorherrschaft im Inneren scheint auf Dauer nicht haltbar, wenn sie nicht auch eine regionale Dimension annimmt.
Der jüngste, verheerende Krieg mit Eritrea war zum Teil ein Versuch, Äthiopiens Vormachtstellung auf die ganze Region auszudehnen. Dieser Krieg ist nun entweder eine Chance, die Entwicklung umzukehren, oder er könnte im Gegenteil die Fixierung auf dieses Ziel bewirken. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass Äthiopien nicht in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann, solange es nicht mit sich selbst in Frieden lebt. Dasselbe gilt für die anderen Länder am Horn von Afrika. Die Aufgabe besteht nun darin, die Gelegenheit zur Beilegung des gegenwärtigen Krieges so zu nutzen, dass zumindest diese beiden Länder Frieden mit sich selbst und miteinander schließen. Dazu muss aber auch ihre Innenpolitik offen diskutiert und überprüft werden. Wenn es gelingt, Frieden und Stabilität zwischen und in diesen beiden eng verbundenen Staaten zu schaffen, dann steigen auch die Chancen auf Frieden und Stabilität in den anderen Ländern. Wenn es dagegen scheitert, kann das nur die Fortsetzung der Misere am Horn von Afrika bedeuten.
aus: der überblick 04/2000, Seite 58
AUTOR(EN):
Leenco Lata :
Leenco Lata war nach dem Sieg über das Militärregime (1991) Fraktionsführer der Oromo Liberation Front im Übergangsparlament Äthiopiens und an der Formulierung der Grundsätze beteiligt, die den Aufbau eines multi-ethnischen demokratischen Staates leiten sollten. Nach dem Ausscheiden der OLF aus der Regierung Ende 1992 wurde er verhaftet, auf internationalen Druck hin freigelassen und lebt heute im Exil in Kanada. Er ist unter anderem Autor von "The Ethiopian State at the Crossroads: Decolonisation and Democratisation or Disintegration", Lawrenceville/NJ 1999.