Erinnerungsarbeit von Kambodschanern
Vann Nath, der während des knapp vierjährigen Terrorregimes der Roten Khmer in Kambodscha (1975-79) Gefangener in S-21 war, dem Folter- und Vernichtungszentrum in der Hauptstadt Phnom Penh, trifft auf seinen Peiniger Him Hou. Dieser war leitender Sicherheitsbeamter in S-21 und verantwortlich für die Gefängniswärter und den Transport der Häftlinge zu den Hinrichtungsstätten. Nach dem Sturz der Roten Khmer wären sie einander wohl nicht mehr begegnet, hätte nicht der kambodschanische Filmemacher Rithy Panh sie zusammengeführt.
von Brigitte Voykowitsch
Auszug aus einem Gespräche zwischen Folterer und Opfer:
Nath: In der Vergangenheit hat es Millionen Tote gegeben, und manche sagen heute, dass man vergessen muss, stimmst Du dem zu?
Houy: Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Manche sagen, das waren die Befehle. Und dann hatten alle vor einander Angst. Daher haben wir getötet.
Nath: Also soll man das alles vergessen. Du kannst das alles vergessen?
Houy: Ich vergesse das alles. Ich will nicht an diese Geschichte denken.
Nath: Und du verlangst von den anderen, ebenfalls zu vergessen?
Houy: Nein, aber ich denke nicht mehr an diese Geschichte.
Nath: Mir gelingt das nicht. Ich wache auf. Letzte Nacht zu Beispiel habe ich nur eine Stunde geschlafen. Jedesmal, wenn ich aufwache, sehe ich die Gesichter im Gefängnis. Ich will es nicht, aber das kommt von alleine. ... und heute abend, in meinen Träumen, werde ich dich vor mir sehen, wie du damals warst, wie du gegangen bist, wie du geredet hast, deine Handlungen und deine Gesten. ... Alles wird wieder da sein.
Houy: Wenn ich daran denke, ertrage ich es nicht, ich bekomme Kopfschmerzen, das ist der Grund, warum ich viel Wein trinke, um nicht mehr daran zu denken.
Nath will an diesem Tag nichts mehr hören. Erschöpft von diesem Treffen, hofft er dennoch, den Schlüssel zu finden, um das Verhalten des Folterers verstehen zu können. "Es genügt nicht", betont Rithy Panh, "dass nur die Opfer sich erinnern, auch die Täter müssen sich erinnern, und nicht an irgendetwas, sondern an die gleichen Dinge wie wir. Wir machen gemeinsam den Schritt und versuchen zu sehen, wie jeder sich erinnert."
Während eines Zeitraums von drei Jahren hat Panh immer wieder Gespräche von einstigen Häftlingen mit "Beschäftigten von S-21" arrangiert - mit Wachen, Folterern, einem Fotographen, Verwaltern der von den Roten Khmer penibel angelegten Akten über alle Gefangenen von S-21, sowie Leitern von Verhören und medizinischem Personal, das die infolge von Folter, Misshandlung und Unterernährung dem Tode nahen Opfer so lange am Leben erhalten sollte, bis man glaubte, in Verhören alle nur mögliche Information aus ihnen herausgeholt zu haben. Panh hat die Begegnungen in der erstmals bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes gezeigten Dokumentation S-21, la machine de mort khmère rouge (S-21, die Todesmaschine der Roten Khmer) und dem parallel dazu im April erschienenen Buch La machine khmère rouge aufgezeichnet.
Nach den Filmen Bophana, une tragédie cambodgienne und Site 2 sind der neue Film und das Buch die jüngsten Arbeiten Panhs zu jener Vergangenheitsbewältigung, der sich seine Heimat weiterhin verschließt. "Ich mache das alles, weil ich will, dass es eines Tages einen Prozess gibt. Das Unerträglichste für uns ist die Straflosigkeit", sagt Panh, der, 1964 geboren, die Jahre 1975-79 in einem Lager verbracht hat. Sein Bruder gilt als verschollen, seine Eltern wurden ermordet, zwei von geschätzten ein bis zwei Millionen Kambodschanern, die unter den Roten Khmer an den Folgen von Gewalt, Hunger und Krankheit ums Leben kamen. Offiziell ist diese Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet, bisher hat es kein Tribunal gegen die noch lebenden einstigen Führer der Roten Khmer gegeben. Pol Pot starb 1998 im Dschungel im Westen von Kambodscha. Andere ehemalige Führer hatten für sich schon Anfang der neunziger Jahre mit der damaligen Regierung eine Amnestie ausgehandelt. Nur wenige sitzen heute in Haft.
Es geht Panh darum, dass die Überlebenden sich erinnern und die Erinnerung wachgehalten wird. Zugleich ringt er, wie Nath im eingangs zitierten Dialog, darum zu verstehen: Wie haben die Mechanismen dieses Massenverbrechens funktioniert? Wie konnten so viele Menschen zu Folterern werden? Wie ist es möglich, dass ein Mann von sich behauptet "Ich war einmal ein sehr sanfter Junge" und die Beschreibung seines Werdegangs unter den Roten Khmer mit den Worten beendet: "Die Grausamkeit grub sich immer tiefer in mich. ... Wir töteten, wir hatten nicht Unrecht. Denn der, den wir töteten, hatte kein Recht. ... Ich dachte nie daran, dass der, den ich schlug, einen Bruder oder eine Schwester hatte. Ich schlug die Menschen einfach, und als ich nach Hause zurückkehrte, hatten andere Personen meine Eltern so geschlagen wie ich andere geschlagen hatte."
Panh hat die ehemaligen Henker immer wieder nach S-21, das 1980 in ein Genozidmuseum umgewandelt wurde, zurück geführt, sie mit Fotos und Dokumenten konfrontiert, "die jene Realität bezeugen, die sie leugnen wollen." Manche leugneten zunächst dennoch und blieben abweisend, um dann bei einem der folgenden Treffen ihre ursprüngliche Version zu korrigieren und mehr zu erzählen. Die universelle Rechtfertigung, unter Lebensgefahr nur den Befehlen gehorcht zu haben, will Panh ebensowenig hinnehmen wie Nath. "Hast du nicht ein wenig nachgedacht? Überhaupt nicht?" "Wie haben sie dich indoktriniert?" "Wart ihr euch nicht bewusst, welche grausame Arbeit ihr da verrichtet?" Mit solchen und ähnlichen Fragen tritt Nath immer wieder an die Henker heran. Zwischen 14.000 und 17.000 Menschen kamen in S-21 oder Tuol Sleng, wie es auch genannt wird, zu Tode. Nath war einer von nur sieben Überlebenden, von denen vier inzwischen eines natürlichen Todes gestorben sind. Nicht Kamtech (Vernichtung), sondern "Behalten und benutzen" steht in Nath's Akte in S-21 zu lesen. Nath war Maler, und die Roten Khmer brauchten Leute, die nach Vorlagen Porträts von Pol Pot anfertigten.
Vielleicht, meint Panh, der heute seinen Wohnsitz in Frankreich hat, kann seine Arbeit einen Beitrag zum Verständnis dessen leisten, was sich in den Köpfen der Täter abspielte, während sie ihre Verbrechen begingen. Was ging vor in einem Mann, der Menschen schlug und folterte? Und was geht heute, Jahrzehnte danach, in ihm vor? Wie lebt ein Mann, der den Tod tausender Menschen zu verantworten hat, mit seiner Vergangenheit? Auch für Francois Bizot sind dies keine abstrakten, theoretischen Überlegungen. Der französische Buddhismus-Experte hat einen sehr persönlichen Grund, sich derartige Fragen zu stellen, und eine ganz bestimmte Person, an die er sie richten möchte: Duch oder Kaing Guek Eav mit zivilem Namen, Führungsmitglied der Roten Khmer und zugleich jener Mann, dem er sein Leben verdankt.
Bizot ist, so weit heute bekannt ist, der einzige Angehörige eines westlichen Staates, der je aus der Gefangenschaft bei den Roten Khmer wieder frei kam. Er wurde freigelassen, weil sich Duch, der Kommandant seines Lagers, der später S-21 leiten würde, dafür stark gemacht hatte. Die Erinnerung an diese Zeit hätte Bizot wohl für immer für sich behalten, wäre Duch nicht 1999, zwei Jahrzehnte nach dem Sturz der Roten Khmer, im Westen von Kambodscha identifiziert und festgenommen worden. "Die Tatsache, dass er noch am Leben war, hat in mir dieses Bedürfnis geweckt, etwas zu schreiben, das den großen Kontrast aufzeigt zwischen dem schlimmsten Henker eines kollektiven Verbrechens und jenem Menschen, der am Anfang seiner revolutionären Laufbahn eine äußerst große Sensibilität und den Wunsch an den Tag legte, die Welt, in der er lebte, zu verbessern", sagt der Forscher im Interview in Paris. Sein Buch Le Portail, das 2000 in Frankreich erschienen ist, liegt seit kurzem auch auf Englisch (The Gate) vor; im Piper-Verlag wird voraussichtlich im kommenden Jahr die deutsche Version herauskommen.
Wenn Bizot heute den Wunsch äußert, Duch noch einmal persönlich treffen zu können, dann ist er von demselben Bedürfnis geleitet wie Rithy Panh: in das Innere der einstigen Täter zumindest ein wenig hineinsehen zu können. "Was ich gerne möchte, ist nicht bloß, Duch zu treffen; das wäre ja kein Problem", sagt Bizot, "ich möchte an einem Ort mit ihm sein, in seiner Zelle, irgendwo, und zunächst einmal eine ganze Zeit lang nichts reden. Denn zwischenmenschliche Beziehungen entstehen nicht über die Worte, sondern über den Körper, über die Präsenz. ... Was ich möchte, ist ihn treffen, um in ihn hineinzusehen, ihn zu öffnen. Wie geht er mit seiner Vergangenheit um? Der Mensch definiert sich doch ab einem gewissen Alter durch das, was er getan hat, und diese Definition seiner selbst ist entsetzlich. Wie geht er damit um, dass das Geschehene nicht mehr rückgängig zu machen ist? Was geht vor im Inneren dieses Menschen, der selbst direkt an monströsen Taten beteiligt war?"
Panhs und Bizots Werke fügen sich in eine Reihe von Büchern ein, in denen seit einigen Jahren Kambodschaner ihre persönlichen Erfahrungen unter dem Regime der Roten Khmer aufarbeiten. Einige schreiben ganz bewusst gegen das Vergessen an, das über Jahre hinweg ihr größtes Anliegen war. "Ich habe mir die Haare schneiden und eindrehen lassen. Ich habe meine Augen dunkel umrandet, damit sie runder und westlicher wirken. Ich hatte gehofft, wenn ich Amerikanerin würde, könnte das meine Erinnerungen an den Krieg auslöschen", gesteht Loung Ung in "Der weite Weg der Hoffnung". Fünf Jahre war sie alt, als die Machtübernahme der Roten Khmer ihrem bis dahin unbeschwerten Leben als Tochter einer Mittelklassefamilie in Phnom Penh ein Ende bereitete. In den folgenden vier Jahren verlor sie Vater, Mutter und mehrere Schwestern. Ihr selbst gelang nach dem Sturz des Pol Pot-Regimes die Flucht aus der Heimat und über mehrere Lager schließlich in die USA, wo sie vor allem eines wollte - vergessen. Die Angst, den Hunger, die Zwangsarbeit und die Gewalt der Jahre unter den Roten Khmer vergessen. Vergessen, was ihrer Familie widerfahren war. Vergessen.
Erst Jahre später als Sprecherin der Kampagne für eine Welt ohne Landminen war Loung Ung schließlich bereit, über den Völkermord zwischen 1975 und 1979 zu sprechen. Sie brachte die Kraft auf, wieder in ihre Heimat zu reisen und den Kontakt mit den dort verbliebenen Mitgliedern ihrer Familie aufzunehmen. Schließlich fühlte sie sich auch stark genug, um in einem Buch die Pol Pot-Jahre aus ihrer eigenen Erinnerung heraus literarisch-dokumentarisch nachzuzeichnen.
Die heute ebenfalls in den USA lebende kambodschanische Tänzerin Sophiline Cheam Shapiro hat Texte von Liedern niedergeschrieben, die sie als Kind unter den Roten Khmer lernen musste. "Die Roten Khmer hofften, unsere Geschichte auszulöschen, dabei haben ihre Lieder nun selbst einen wichtigen Platz in dieser Geschichte eingenommen. Nie werde ich daher die Lieder vergessen, die meine Feinde mich lehrten", erklärt Cheam Shapiro in ihrem Beitrag für das von Dith Pran herausgegebene Buch Children of Cambodia's Killing Fields.
"Es ist verrückt, in die Zukunft zu blicken, ohne in einem Auge die Vergangenheit zu behalten", betont Chanrithy Him in ihrem Werk When Broken Glass Floats. Auch bei ihr brauchte es Jahre, bis sie die Dinge so sehen konnte und wollte. Zunächst waren bei ihr, wie bei so vielen anderen, "die Wunden tief verborgen, beiseite geschoben in unserem Ringen um akademischen Erfolg". Doch an der Cleveland High School in Portland im US-Bundesstaat Oregon, wohin in den achtziger Jahren eine große Anzahl kambodschanischer Flüchtlinge gekommen waren, erkannte ein Lehrer, wie schwer viele Kinder traumatisiert waren. Ein Khmer-Jugendprojekt wurde lanciert, und Chanrithy Him begann bald selbst für diese Initiative Personen über ihre Erfahrungen unter dem Pol Pot-Regime zu interviewen.
Schließlich beschloss die Forscherin zum Thema Vergangenheitsbewältigung, ihre eigene Geschichte als Opfer der Roten Khmer niederzuschreiben. Die Zeit war gekommen, wo sie ihre "Stimme jenen Kindern verleihen wollte, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, den toten Eltern, Schwestern, Brüdern und Verwandten und auch jenen eine Stimme geben wollte, deren Überreste in nicht markierten Gräbern in ganz Kambodscha verstreut sind."
Knapp vor der Millenniumswende dokumentierte derselbe Vann Nath, der mit Rithy Panh zusammenarbeitet, seine eigene Gefangenschaft in dem Buch A Cambodian Prison Portrait: One Year in the Khmer Rouge's S-21. Das Werk ist bis heute nur auf Englisch erhältlich, weil sich, wie Panh im Epilog zu La machine khmère rouge schreibt, noch kein kambodschanischer Verlag gefunden hat, der eine Version in Khmer herausbringen wollte. Nath verwehrt sich in dem Buch gegen die seit den neunziger Jahren immer wieder diskutierte Schließung des Tuol Sleng-Museums, die nach Ansicht mancher Kambodschaner den Heilungsprozess im Land fördern und die gespaltene Nation wieder zusammen wachsen lassen würde. "Wenn Tuol Sleng geschlossen oder für einen anderen Zweck umgewidmet wird, bedeutet das, dass jene Männer, Frauen und Kinder, die dort umgekommen sind, einfach eliminiert werden; dass ihr Tod ohne Bedeutung war. Ich möchte die Erinnerung wachhalten."
Nath will sich auch seinen Glauben an Gerechtigkeit nicht nehmen lassen. "Pol Pot starb ungestraft, ohne dass er sich je für seine Taten hatte verantworten müssen. Und möglicherweise werden auch die überlebenden Führer der Roten Khmer nie bestraft werden. Aber irgendwie, glaube ich, wird es Gerechtigkeit geben. Laut der buddhistischen Religion, ziehen gute Taten gute Ergebnisse nach sich, schlechte Taten führen zu schlechten Ergebnissen. ... Pol Pot und seine Henker ... werden ernten, was sie gesät haben", schreibt er.
Rithy Panh aber warnt im Epilog von La machine khmère rouge davor, Karma als billigen Ausweg aus der Verantwortung heranzuziehen. "Heute wird sehr wenig Erinnerungsarbeit an den Genozid geleistet, nur das Dokumentationszentrum spielt eine wichtige Rolle gegen das Vergessen. Man nimmt dem Land die Geschichte, keine Frage darf darüber gestellt werden, was geschehen ist. ... Man verlangt auch, die Vergangenheit zu begraben, indem man sich auf den Buddhismus bezieht, demzufolge jene, die schlechte Taten zu verantworten haben, in ihrem Karma bestraft werden. ... Heißt das nicht erneut, den Opfern gegenüber eine echte Verachtung zu zeigen?"
aus: der überblick 03/2003, Seite 104
AUTOR(EN):
Brigitte Voykowitsch:
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Themenschwerpunkt Asien und lebt in Wien.