Eine alte Geschichte von den Lagerfeuern der Nomaden
11,1 Nun hatte aber alle Welt einerlei Sprache und einerlei Worte. 2 Als sie nun von Osten her aufbrachen, fanden sie im Lande Sinear eine Ebene und ließen sich dort nieder. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlan, laßt uns Ziegel streichen und hart brennen. Und es diente ihnen der Ziegel als Stein und der Asphalt diente ihnen als Mörtel. 4 Dann sprachen sie: Wohlan, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, und uns einen Namen machen, daß wir nicht über die ganze Erde verstreut werden. 5 Da fuhr Jahwe herab, um sich die Stadt und den Turm, den sich die Menschen gemacht hatten, zu besehen. 6 Und Jahwe sprach: Siehe, sie sind ein Volk und haben alle eine Sprache, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Nun wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen. 7 Wohlan, laßt uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, daß keiner mehr des anderen Sprache verstehe. 8 So zerstreute sie Jahwe von dort über die ganze Erde und sie mußten aufhören, die Stadt zu bauen. 9 Darum heißt sie Babel, weil Jahwe daselbst die Sprache der ganzen Erde verwirrt hat, und von dort hat sie Jahwe über die ganze Erde verstreut. (1. Mose 11,1-9 in der Übersetzung von Gerhard von Rad, 1949)
von Eberhard le Coutre
Nicht ohne Grund gehört die Geschichte vom Turmbau zu Babel zu den bekanntesten Texten der Bibel. Sicherung der "corporate identity" durch ehrgeiziges Zusammenwirken an einem gigantischen Projekt. So aktuell ist die Sache, die hier verhandelt wird. Auf eindringliche und bildhafte, geradezu ironisierend groteske Weise ist hier vom Gegenüber zwischen den Plänen und Absichten der Menschen und dem Handeln Gottes die Rede. Die Menschen wollten bis an den Himmel bauen, aber Jahwe mußte erst einmal herabfahren - nicht weil Er kurzsichtig wäre, sondern weil Er so weit oben wohnt - um diesen Annäherungsversuch zur Kenntnis nehmen zu können. Sodann handelt diese Geschichte von Widersprüchen, welche die Menschen bis heute bewegen, ja - die sie erregen und aufregen, Widersprüche, die zu Ursachen von Terror, Gewalt und Kriegen werden. Krass und unversöhnt miteinander begegnen sich die Sehnsucht nach der verlorenen einen Welt mit gemeinsamer Sprache und die Erfahrung der Zerstreuung mit der verwirrenden Sprachlosigkeit unter den Menschen.
Warum erleben wir Menschen uns als Angehörige verschiedener Völker mit unterschiedlichen Sprachen? Warum können einige Völker eigene Territorien behaupten und andere nicht? Wie sollte es aussehen auf der Welt? So, wie es gemäß dieser Geschichte offenbar einmal war, geeint und ohne Grenzen? Sollen wir für dieses Ziel tätig werden? Die Bibel gibt auf Fragen wie diese keine eindeutigen Antworten. Damit müssen wir leben. Das heißt, wir sind gefordert, die Verhältnisse auf der Welt nach unseren vernünftigen Erkenntnissen und nach bestem Gewissen zu regeln. Für das Gewissen allerdings gibt es Orientierungen, die wir aufspüren und sorgfältig studieren sollen. Genau dafür ist die Turmbaugeschichte ein wichtiger Text.
Fragen wir also weiter: Hätte der Schöpfer nicht eigentlich ganz zufrieden sein können mit seinen Geschöpfen, die sich so einfallsreich und erfinderisch entwickelt hatten? Die Ziegel brennen konnten und Türme bauen und große Projekte wie den Bau ganzer Städte zu organisieren in der Lage waren? Was war Ihm daran so unerträglich? ... Ach ja, wenn es alles das allein nur gewesen wäre. Aber sie wollten ja mehr. Worum es wirklich ging, das wird ausdrücklich benannt: Wohlan, laßt uns einen Namen machen. Jede Firma braucht ihr Logo. Erfolgreich inszenierte Globalität braucht ein aus der eigenen Kraft gestaltetes, unübersehbares Symbol für eben diese Selbstdarstellungsfähigkeit.
Wenn es um die ganze Menschheitsfamilie geht, ist das ein gefährlicher Selbstbetrug. Eine Menschheit, die ihre kollektiven Motivationen allein aus den selbst inszenierten Aufbrüchen bezieht - "Wohlan, laßt uns ..." - wird fähig zu jeder jedes Maß übersteigenden Hybris und Inhumanität, gefährdet sich selbst und mißachtet den Schöpfer und Bewahrer, der sie doch gerade erst noch erfolgreich über die Sintflut hinweggerettet hatte. Das war die Ursache für Jahwes schnelles Eingreifen, - wobei sowohl an strafendes als auch an vorbeugendes Handeln Gottes gedacht werden darf. Der Mensch wird geschützt vor seinen eigenen gigantomanischen und titanischen Versuchungen.
Aber mußte den Menschen darum ihre gemeinsame Sprache genommen werden? War das nicht geradezu kontraproduktiv, wenn es um humanisierende und zivilisierende Korrekturen gehen sollte, darum also, das Selbstverständnis des homo sapiens wieder auf das realistische Normalmaß zu bringen? Man darf aus der Bibel keine sozusagen eindimensionale Geschichtsphilosophie herauslesen wollen. Biblische Sachverhalte sind oft nur zu begreifen, indem versucht wird, zwei oder mehr Aspekte nebeneinander und gleichgewichtig zu erfassen, auch und gerade widersprüchlich erscheinende Gleichzeitigkeiten.
Konkret also: Neben der Voraussetzung, von der die Turmbaugeschichte ausgeht - eine Menschheit, eine Sprache - muß eine andere Befindlichkeit wahrgenommen werden, die im unmittelbar vorangegangenen 10. Kapitel des 1.Mosebuches mit der sogenannten Völkertafel abgehandelt wird. Die von den Menschen gelebte und erlebte Vielfalt der Völkerwelt kann nämlich auch als vielfältig Leben schenkender Ausdruck der Schöpferkraft Jahwes verstanden werden. Natürlich sind wir nicht die ersten, denen dieser Gegensatz auffällt. Für die ursprünglichen Zuhörer und Leser dieser Geschichten gab es hier aber offensichtlich kein Problem. Sie verstanden spontan den Sinn dieser widersprüchlich erscheinenden Zusammenschau. Die Vielfalt der Völkerwelt trägt auch die Möglichkeit selbst verschuldeter Misere in sich. Das Zusammenleben der Menschen ist verletzbar, - eine Gefährdung, die leichtfertig übersehen werden und zu Katastrophen führen kann. Das ist im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer wieder geschehen, und es ist zu befürchten, daß es auch weiterhin immer wieder geschehen wird.
Eine grandios inszenierte Warnung also - ist das alles? Eine Einengung auf kulturkritisch oder gar kulturpessimistisch eingefärbten politischen Moralismus ... wenn das die Botschaft wäre, dafür allein hätten wir jedenfalls keine Heilige Schrift nötig.
Versuchen wir also, den alten Texten noch ein wenig genauer nachzuspüren. Vor allem eine Beobachtung ist wichtig: In der Komposition der sogenannten Urgeschichte der Menschheit auf den ersten Seiten der Bibel bildet die Turmbaugeschichte mit ihrer wenig ermutigenden Pointe nicht den Schlussakkord. Die Geschichte hat vielmehr noch eine überraschende Fortsetzung. Der jüdische Theologe, der vor etwa knapp 3000 Jahren die Überlieferungen der Texte von den Anfängen der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte entscheidend überarbeitet hat, den wir zwar namentlich nicht kennen und den wir deshalb mit einem literaturwissenschaftlichen Kunstnamen den "Jahwisten" nennen, der mutet seinen Leserinnen und Lesern noch einiges zu.
Bis zum Ende der Turmbaugeschichte lesen wir - angefangen bei Adam und Eva über Noah und die Sintflut - was den Menschen, oder auch: was die Menschen insgesamt angeht. Nach dem Sündenfall im Paradies, nach dem Zorn Gottes, der zur Sintflut führte, hatte Jahwe seine Strafandrohungen immer wieder gemildert und immer wieder dafür gesorgt, daß einige gerettet wurden, daß also die Schöpfung, daß das Leben erhalten wurde.
Und nach dem Turmbau? Die Menschen wurden über die ganze Erde zerstreut und mußten aufhören, ihre Stadt zu bauen. Wir haben schon festgestellt, daß dies kein guter Abschluss eines wichtigen Textes ist. Nun also die Fortsetzung in 1.Mose 12,1-3: "Und Jahwe sprach zu Abram: Gehe doch aus deiner Heimat und aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhause in ein Land, das ich dir zeigen will. / 2 Und ich will dich zum großen Volke machen und dich segnen und deinen Namen groß machen; sei ein Segen! / 3 Segnen will ich, die dich segnen, und wer dir flucht, den will ich verfluchen, und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde."
Das Aufregende und Originelle an dieser Fortsetzung ist zunächst, daß die Geschichten über die Anfänge der Menschheit fortgesetzt werden mit der Geschichte eines einzelnen Individuums namens Abraham. Und dieser Abraham ist so wichtig, weil Gott mit ihm begonnen hat, was er für die ganze Menschheit vorgesehen hat. In Abraham, so lesen wir, "sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde". Hier hat sich etwas wiederholt. Die Zerstreuung der Völker nach dem Turmbau soll ebensowenig das letzte Wort Gottes nach der gigantomanischen Hybris der Menschen sein wie die Sintflut Jahwes letztes Wort war, nachdem die Bosheit der Menschen so groß geworden war.
Segnung, das ist Zuspruch von fortbestehendem Leben. Ein christlicher Ausleger der Hebräischen Bibel hat eine interessante Formulierung gefunden, die zu weiterem Nachdenken ermutigt: Was Abraham hier bei seinem Eintritt in die Menschheitsgeschichte zugesprochen wurde, das ist "wie ein Befehl an die Geschichte". Das ist wichtig, denn es geht um die Geschichte, die auch wir leben und erleben. Das soll eine Geschichte mit Zukunft und mit einem guten Ende sein: Verheißung von Gottes Nähe für alle Menschen zu allen Zeiten. Mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte, so nennen das die Theologen. Wenn es aber nun so ist, daß mit Abraham ein neues Kapitel der Geschichte Gottes mit der ganzen Menschheit aufgeblättert wird, dann können wir die nicht zu übersehenden Widersprüche der Turmbaugeschichte sehr viel gelassener verarbeiten.
Skizzieren wir also kurz die wichtigsten Punkte einer realistischen Betrachtung: Auch wenn die Macher und Apparatschiks fast auf der ganzen Welt inzwischen überall mehr oder weniger gekonnt Englisch sprechen, - die biblische Ursprünglichkeit der problemlos leichten Verständigung wurde verspielt. Wenn wir uns ansehen, was heute unter der Überschrift Kommunikation weltweit etabliert und propagiert wird, drängt sich sogar die Frage auf, ob nicht eben die Vorstellung immer weiter ausufernder globaler Kommunikationsstrukturen genau unsere Variante des Turmbaus von Babel sein könnte. Weltweite Hightechkommunikation kann ein nützliches Instrument für wirtschaftliche, ökologische, politische und kulturelle Kooperation sein.
Aber einen großen Namen machen, so wie die Leute von Babel es versuchten, können sich die Menschen mit ihren globalen Kommunikationsstrategien auch heute nicht, denn auch kriminelle Vereinigungen, militärischer Machtmissbrauch, Ausbeutung, Korruption, Menschenrechtsverletzungen, internationaler Drogenhandel, Geldwäsche, Volksverhetzung können die neuen Kommunikationstechniken für ihre Zwecke nützen und haben damit bereits begonnen. Das heißt, ob und wie es mehr soziale Gerechtigkeit unter den Menschen geben wird, ob es größeren Schutz für Minderheiten sowie für Kinder, Frauen, alte, kranke und behinderte Menschen geben wird, - das alles sind Fragen, die primär nicht durch neue Techniken entschieden werden können, sondern nur in den Köpfen der Menschen. Vornehmlich in den Köpfen derer, die wohlhabender sind als die ärmere Mehrheit der Weltbevölkerung. Was wir mit unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten tun wollen, das ist und bleibt eine Frage des Gewissens.
Wenn wir realistisch bleiben wollen, tun wir also gut daran, die Zerstreuung der Menschheit zu akzeptieren und als Herausforderung eigener Art zu begreifen. Träume von der einen Welt verführen und gefährden uns möglicherweise mehr als daß sie uns voranbringen. Wir können nicht alle Grenzen überwinden und abbauen. Wir können nicht einmal sicher sein, ob es gut und wünschenswert wäre, das zu können. Deshalb müssen wir es auch nicht immer wieder neu versuchen und uns auch nicht immer wieder aufs Neue frustriert und frustrierend an dem Thema "Eine Welt - eine Menschheit" abarbeiten.
Was wir aber aus der Turmbaugeschichte lernen können und deshalb auch lernen sollen, das ist, die Einsicht festzuhalten: Auch auf der anderen Seite einer jeden Grenze wohnen Mitmenschen, die das Schicksal der Zerstreuung teilen, Menschen deren schöpfungsgemäße Bestimmung ganz genau die gleiche ist wie die, der jede und jeder von uns unser Leben und unsere Hoffnungen verdanken. Und vor allem: Auf der anderen Seite jeder Grenze wohnen Mitmenschen, denen wie uns die Verheißung Abrahams einer gesegneten Zukunft gilt.
Global Players spielen ein Spiel, bei dem - im besten Falle - immer nur einige wenige gewinnen können. Wer jedoch die Geschichten über Gott und die Welt von den Lagerfeuern der nomadisierenden Mütter und Väter des Jahweglaubens weiterhin ernst nimmt, erkennt auch die Rückseiten unserer Spielregeln. Wer aus den Traditionen lebt, die zuerst erzählt, dann gesammelt und - zum Beispiel durch den Jahwisten - für uns Spätgeborene redigiert und aufgeschrieben wurden, danach immer wieder abgeschrieben und viel später auch gedruckt worden sind, weiß: Wir Menschen spielen alle miteinander immer wieder auch Spiele, bei denen keiner allein gewinnen, bei denen wir aber alle miteinander verlieren können. Nämlich dann, wenn wir immer wieder neue Spielregeln erfinden, die wir für wichtiger halten als Solidarität und Barmherzigkeit.
Die zugleich naive wie tiefgründige Turmbaugeschichte kann uns die Ehrfurcht vor Gott lehren, dem wir zuweilen, in unseren besten Stunden, ein paar Ahnungen von den tieferen Zusammenhängen des Weltgeschehens verdanken sowie die Hoffnung auf Zukunft für alles Leben.
aus: der überblick 04/2000, Seite 106
AUTOR(EN):
Eberhard le Coutre:
Eberhard le Coutre ist ehemaliger Chefredakteur des "überblicks" und lebt jetzt im Ruhestand.