Georgiens Elite täuscht den Gebern Reformen vor, während sie einen völlig korrupten Staat aufbaut
Georgiens politische Elite täuscht politische und wirtschaftliche Reformen vor, um westliche Geber hinters Licht zu führen. Tatsächlich befasst sie sich vor allem damit, der Bevölkerung Geld aus der Tasche zu ziehen. Diese protestiert nicht offen, sondern greift auf kulturell verwurzelte Gegenstrategien zurück: Sie unterläuft mit Hilfe von Familiennetzen, in die auch Staatsbedienstete eingebunden sind, die Ansprüche der Behörden. Das Ergebnis ist ein auf Klientelismus beruhendes Staatswesen, das von Hilfszahlungen gestützt wird und die demokratische wie die wirtschaftliche Entwicklung behindert.
von Barbara Christophe
Kürzlich hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Georgien zum Schwerpunktland seiner Arbeit erklärt. Doch die südkaukasische Republik, die aus der Konkursmasse der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangen ist, dürfte sich entwicklungspolitisch noch als Problemfall erweisen. Zwar besitzt sie auf den ersten Blick genau die Eigenschaften, die unter Entwicklungspolitikern als unverzichtbar für eine erfolgreiche Modernisierung gehandelt werden: Georgiens Gesellschaft ist kulturell integriert, der Grad der gesellschaftlichen Mobilisierung war zumindest zu Beginn der Transformation hoch, und das Land besitzt organisierte Gegeneliten.
Aber ein zweiter Blick auf die Grunddaten der Volkswirtschaft enthüllt die aus der Theorie abgeleiteten Erwartungen schnell als Illusion. Das Bruttosozialprodukt war 1994 auf 28 Prozent des Niveaus von 1990 gesunken; das war selbst im Vergleich mit anderen Nachfolgestaaten der UdSSR katastrophal. Die von Optimisten gern zitierten Wachstumsraten von 7 Prozent, die Georgien zwischen 1995 und 1998 erzielte, haben sich als Strohfeuer erwiesen: Bereits 1999 sanken sie wieder auf bescheidene 3 Prozent. Zudem zeichnet sich mittlerweile ab, dass auch der Erfolg der Vorjahre eher ausländischen Investitionen in die Transportinfrastruktur zu verdanken war als strukturpolitischen Weichenstellungen.
Auch auf politischer Ebene sind wichtige Fortschritte ausgeblieben, etwa was die Festigung demokratischer Institutionen angeht. Der Vertrauenskredit, den der Westen dem georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse in Anerkennung seiner früheren Verdienste als Außenminister der UdSSR gewährt hat, ist mittlerweile aufgebraucht. Nach den letzten Präsidentschaftswahlen im April 2000 übte die OSZE ungewöhnlich harsche Kritik wegen schwerer Wahlfälschungen zu Gunsten des Amtsinhabers und forderte nachhaltige Verbesserungen der Wahlgesetze.
Der Widerspruch zwischen theoretisch begründeten Erwartungen und der enttäuschenden Wirklichkeit hat zu völlig gegensätzlichen Beurteilungen des Transformationsverlaufes in Georgien geführt. Die amerikanische Entwicklungshilfeagentur USAID stilisierte das Land noch im vergangenen Jahr zum Vorreiter einer konsequenten Reformpolitik im postsowjetischen Raum. Solche optimistischen Einschätzungen werden unter anderem damit begründet, dass Georgien relativ früh einen gesetzlichen Rahmen für die Entwicklung privater Unternehmen geschaffen hat, der westlichen Standards entspricht.
Kritiker bezeichnen hingegen die Kaukasusrepublik als Beispiel für anarchische Auflösungsprozesse. Sie können darauf verweisen, dass die maßgeblichen Kräfte in Wirtschaft und Politik ihr Verhalten selten an den als vorbildlich gelobten Gesetzen ausrichten. So war der Privatisierungsprozess stark von illegalen Praktiken des klassischen Rent-seeking beeinflusst, des Strebens nach Renteneinkommen. (Als Renten werden Sondergewinne bezeichnet, die ohne größere Investition sozusagen umsonst entstehen oder die marktübliche Rendite weit übertreffen - zum Beispiel wenn vorgefundene Bodenschätze ausgebeutet werden, wenn eine marktbeherrschende Stellung ausgenutzt wird oder wenn man sich politisches Wohlverhalten bezahlen lässt; Anm. d. Red.)
Paradoxerweise finden sich Anklänge an beide Positionen teilweise in ein und derselben Publikation. Ein Beispiel ist der Entwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) von 1999. Dort wird der Widerspruch mit dem Hinweis aufgelöst, die politische Elite Georgiens sei nicht in der Lage, handlungs- und regulationsfähige staatliche Strukturen zu schaffen. So führt der UNDP-Bericht den illegalen zoll- und steuerfreien Import von Billigprodukten aus den Nachbarländern, der die Entwicklung der nationalen Produktion weitgehend blockiert, auf lückenhafte Grenzkontrollen zurück. Und dass in Georgien das Streben nach Renteneinkommen und nach kurzfristiger Ausplünderung staatlicher Ressourcen vorherrscht, wird als Anpassung an einen institutionellen Rahmen erklärt, der sich durch das Fehlen stabiler Regeln auszeichne. Damit sei keine Verhaltenssicherheit gewährleistet, und das untergrabe die Bereitschaft zu produktiven Investitionen.
In beiden Fällen wird als das zentrale Problem wahrgenommen, dass der Staat nur mangelhafte Möglichkeiten hat, Gesetze und Regeln durchzusetzen und ihre Einhaltung zu überwachen. Dabei wird aber leicht vergessen, dass die Wirtschaftssubjekte, die angeblich nur auf institutionelle Anreize reagieren, in der Regel mit den politischen Entscheidungsträgern identisch sind, die für die Beibehaltung dieser Anreizstrukturen sorgen.
Damit stellt sich die Herrschaftsstruktur in Georgien nicht als Ergebnis einer gescheiterten Durchsetzung von Staatlichkeit nach westlichem Muster dar, sondern als Produkt einer neopatrimonial geprägten Art des Staatsaufbaus. (Als patrimonial bezeichnet man eine politische Ordnung, die auf persönlichen Bindungen beruht - reiche oder mächtige Patrone erkaufen die Gefolgschaft ihrer Klienten mit Schutz oder materiellen Gunstleistungen. Neopatrimoniale Staaten verbinden dieses Prinzip mit der Form nach modernen Institutionen; Anm. d. Red.) Hierbei ist Korruption gleichzeitig das allen Institutionen zu Grunde liegende Rationalitätsprinzip und das entscheidende Mittel, die Stabilität der Institutionen zu sichern. In der Tat ist Korruption in Georgien nicht bloß auf bestimmte Sektoren des Staates oder der Gesellschaft beschränkt. Sie ist zum allgegenwärtigen Strukturprinzip aller sozialen Beziehungen geworden.
Das Ziel der Ausübung von Herrschaft ist nach dem Selbstverständnis der georgischen Eliten nicht, für Institutionen zu sorgen, die kollektives Handeln ermöglichen und Probleme der Kooperation beseitigen (dies leisten Institutionen, die verhindern, dass Einzelne aus Regelverstößen oder mittels "Trittbrettfahren" aus der Kooperation Dritter Gewinn ziehen). Vielmehr betrachten diese Eliten die Aneignung von Ressourcen für die privilegierte Versorgung der Mitglieder des Herrschaftsapparates als Ziel der Herrschaft.
Dies bestätigt schon ein oberflächlicher Blick auf die politischen Prioritäten bei der Verteilung knapper staatlicher Mittel. Eingespart wird vorrangig dort, wo die politisch handlungs- und artikulationsunfähige Bevölkerungsmehrheit betroffen ist. Während zum Beispiel im Haushaltsjahr 1998 die Staatsausgaben insgesamt um 14,3 Prozent gesenkt wurden, fielen die Aufwendungen für Erziehung und Gesundheit um 33,2 bzw. 35,7 Prozent. Eine Untersuchung der Ausgaben für Verteidigung und öffentliche Sicherheit bringt ein ähnliches Prinzip an den Tag: Drastische Kürzungen trafen in erster Linie Löhne und Verpflegungskosten für die Soldaten bzw. Polizisten. Die Ausgaben für Reisen und Autos leitender Ministerialbeamter lagen hingegen beträchtlich über den Planziffern.
Der Staat hat sich aus seinen Verpflichtungen gegenüber großen Teilen der Bevölkerung weitgehend zurückgezogen und beschränkt sich vorwiegend auf die Selbsterhaltung. Er stellt nur noch ein Minimum an öffentlichen Gütern und Diensten bereit. Die Bildungsausgaben pro Schüler etwa sind von 1990 bis 1995 von jährlich 804 auf 30 US-Dollar gefallen. Im Gegenzug verzichtet der Staat weitgehend darauf, Steuerforderungen gegenüber einer Gesellschaft geltend zu machen, mit der er kaum noch Berührungspunkte hat und die sich mehr und mehr in moderne Formen der Subsistenzproduktion zurückgezogen hat. Das Ergebnis ist ein Gleichgewichtszustand auf niedrigem Niveau. Der Anteil der Steuern am Bruttosozialprodukt bewegt sich seit Jahren mit weniger als zehn Prozent auf afrikanischem Niveau.
Seinen Versorgungspflichten gegenüber den Mitgliedern des Herrschaftsapparates kommt der Staat aber nicht nur durch Umverteilung der mageren öffentlichen Einnahmen nach. Durch eine Vielzahl regulativer Eingriffe, die zum Teil bizarre Formen annehmen, schafft er sich vielmehr zusätzliche Einkommensquellen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Jeder Minibusfahrer muss sich täglich von einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Behörde bestätigen lassen, dass er nicht alkoholisiert ist. Apotheken müssen laut Gesetz 500 Meter voneinander entfernt und Wechselstuben mindestens 30 Quadratmeter groß sein. Keine dieser Anordnungen hat irgendeine anhaltende Wirkung: Die Straßen wimmeln von betrunkenen Busfahrern, und überall schießen Geschäfte scheinbar unkontrolliert aus dem Boden, die oft nicht einmal minimale Hygienestandards einhalten.
Wer aber diesen Widerspruch zwischen rechtlicher Norm und alltäglicher Praxis als Scheitern eines schwachen Staates begreift, der sitzt einem geschickt inszenierten Täuschungsmanöver auf. Er übersieht hinter der Fassade eines fiktiven Regelungsanspruchs die eigentliche Rationalität staatlichen Handelns: Es zielt nicht auf die Gestaltung der Wirklichkeit, sondern auf die Schaffung von Abschöpfungsmöglichkeiten. Der Staat produziert eine unüberschaubare Fülle von Regeln und Verboten, um sich deren Übertretung bezahlen zu lassen. Die besondere Stärke des georgischen Staates kommt darin zum Ausdruck, dass kaum jemand sich traut, auch nur die absurdesten staatlichen Auflagen zu missachten, ohne sich das Recht dazu von staatlichen Agenten zu kaufen.
Das Ergebnis ist eine besonders perfide Form der Korruption, bei der es nicht um die Kommerzialisierung staatlicher Dienstleistungen, sondern um die Duldung krimineller Bereicherung geht. Klassische Beispiele sind der Handel mit Steuer- oder Zollprivilegien oder die Vergabe von öffentlichen Krediten zur Finanzierung von ökonomischen Scheintätigkeiten. In beiden Fällen kassieren die Mitglieder des Staatsapparates auf Kosten der Allgemeinheit sozusagen doppelt ab. Zum einen verkaufen sie den Verzicht auf staatliche Regulierung und entziehen damit dem Budget dringend benötigte Ressourcen. Zum anderen - und dies dürfte gesamtgesellschaftlich noch wesentlich schädlicher sein - partizipieren sie an den gewaltigen Rentengewinnen, die sie ihren Klienten durch die Gewährung enormer Wettbewerbsvorteile sichern. Damit werden die einseitig auf Umverteilung ausgerichteten ökonomischen Interessen immer neu bestärkt.
Eine zentrale Voraussetzung für diese Form der kriminellen Umverteilung ist, dass der Staat sich die Kontrolle über die Wirtschaftsressourcen des Landes sichert. In Georgien wird dies durch ein eng geknüpftes Netz persönlicher Beziehungen zwischen politischen und ökonomischen Eliten erreicht - ungeachtet formaler Bekenntnisse zur Marktwirtschaft, die vor allem an die westlichen Geber gerichtet sind. Nicht nur sind alle großen Unternehmer über enge, meist verwandtschaftliche Beziehungen an politische Funktionsträger gebunden. Entscheidend ist vielmehr, dass das Privateigentum nicht gegen staatliche Übergriffe geschützt ist. Zum Beispiel werden Unternehmen bürokratischer Gängelung ausgesetzt, wenn die politischen Patrone, denen sie verbunden sind, ins Lager der Opposition übergewechselt sind. Unzählige Beispiele zeigen, dass der Staat in Georgien offenbar stark genug ist, um Wirtschaftstätigkeiten zu verhindern, die sich nicht seiner Patronage unterstellen. Dieses Prinzip beschränkt sich nicht nur auf wenige profitable Branchen, in denen sich hohe Rentengewinne erzielen lassen, sondern erstreckt sich auch auf wenig lukrative Bereiche der Ökonomie. So haben Kleinhändler berichtet, dass ihre Waren willkürlich vom Staat beschlagnahmt wurden, weil sie sich nicht dem Preisdiktat von politischen Patronen unterwerfen wollten.
Wenn man darauf verzichtet, den georgischen Staat an westlichen Maßstäben zu messen, verliert das Bild des schwachen Staates viel von seiner Überzeugungskraft. Es erscheint als das Produkt einer geschickten Inszenierung. Ihr Publikum sind die internationalen Organisationen, die für die Lebensfähigkeit dieses auf den Geldzufluss von außen angewiesenen Systems eine zentrale Rolle spielen. Was sich auf den ersten Blick wie Schwäche ausnimmt - die scheinbar ungebremste Neigung der georgischen Staatsfunktionäre zu eigennützigem Verhalten -, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Ausdruck der Funktionslogik einer Ordnung, die auf der Verpachtung von Herrschaftsrechten beruht. Der bewusste Verzicht auf die Abgrenzung behördlicher Kompetenzen macht jedes Amt zur ausbeutbaren Ressource. Dies garantiert den Pächtern von Herrschaftsrechten einen enormen Handlungsspielraum, den sie für Vorteilsnahme nutzen können. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Gesetz über die Privatisierung von Land klammerte die Frage, wie der Verteilungsprozess verwaltungs-technisch zu organisieren sei, explizit aus und eröffnete damit Leitern der Bezirksabteilungen des Ministeriums für Landmanagement die Chance, bevorzugt die eigene Klientel zu bedienen.
Stabilität wird mit einem geradezu klassischen Repertoire von Machttechniken hergestellt. Diese kommen immer dann zum Einsatz, wenn die nicht bloß geduldeten, sondern dem System zu Grunde liegenden Eigennutzkalküle der Amtsträger die Reproduktionsfähigkeit des Systems infrage zu stellen drohen. Der Verkauf von öffentlichen Ämtern durch "Kartelle" dient dazu, Loyalität herzustellen. Sie hält die Funktionäre des Staates davon ab, die Handlungsfähigkeit des gesamten Apparates durch übertrieben habgieriges Verhalten zu untergraben. Denn jeder Beamte muss sich seinen Posten teuer erkaufen und entwickelt schon deshalb ein Interesse an der Aufrechterhaltung bestehender Hierarchien, da Stabilität die Voraussetzung dafür ist, dass er irgendwann das investierte Geld wieder herausbekommt.
Ein zweiter, überaus wirksamer Mechanismus der sozialen Kontrolle besteht in der Beschränkung des Zugangs zum Ämtermarkt, der in exklusive persönliche Beziehungsnetze eingebettet ist. Informationen über Preise und Chancen werden nur in einem engen Kreis von Personen gehandelt. Die Vetternwirtschaft wird dabei als Disziplinierungsmittel genutzt: Demjenigen, der seinen Klienten in das Amt einführt, fällt nicht nur die Rolle zu, den Kandidaten in die Techniken der Bereicherung einzuführen. Er setzt seine Autorität auch dafür ein, der wichtigsten informellen Regel Geltung zu verschaffen: Jeder Pächter von Herrschaftsrechten hat einen festgelegten Anteil seiner Korruptionseinnahmen an seinen jeweiligen Vorgesetzten abzuführen. Darüber hinaus werden die Autoritäts- und Hierarchiestrukturen des Apparats auch durch die gezielte Rekrutierung von Personen stabilisiert, die sich durch Verwicklung in Korruptionsaffären diskreditiert haben und somit bei der Verfolgung von Karriereinteressen vollständig auf das Wohlwollen ihrer Vorgesetzten angewiesen sind.
Die permanente Rotation von Führungskadern verhindert, dass sich Teile des Apparates verselbstständigen. Sie können damit weder eine eigene Identität noch alternative Loyalitäts- und Klientelstrukturen ausbilden. Darüber hinaus kann der Staat durch die Besetzung von Führungsposten jederzeit die Eskalation von Konflikten blockieren, deren Entstehung er nicht verhindern konnte oder wollte. So wurde in einem Bezirk, in dem der 1998 gewählte Lokalrat einen Misstrauensantrag gegen den Verwaltungsleiter gestellt hatte und dafür die Unterstützung des Bezirksgerichtes besaß, kurzerhand der Chef eines Nachbarbezirkes zum Nachfolger bestellt. Um sich wiederum die Loyalität derjenigen Funktionäre zu bewahren, die der Rotation zum Opfer gefallen sind, wird diesen in der Regel die Möglichkeit eingeräumt, die während ihrer Amtszeit angesammelten Korruptionsgewinne in den Kauf lukrativer neuer Posten zu investieren. Der erwähnte Verwaltungsleiter ist so zum Beispiel zum Abteilungsleiter im nationalen Ministerium für Bodenverwaltung aufgestiegen, sein Vorgänger ist zum Chef eines Transportdepots in der Hauptstadt ernannt worden und ein Kollege hat es so zum Leiter der nationalen Brotkorporation gebracht.
Auch die Provokation von Konflikten lässt sich im Bedarfsfall für die Disziplinierung unbotmäßiger Funktionäre nutzen. Konflikte führen zu einer latenten Verhaltensunsicherheit und geben dem Zentralstaat immer wieder die Möglichkeit, sich in der Rolle eines Vermittlers als unverzichtbarer und damit dominanter Partner zu profilieren. So schreibt zum Beispiel das 1997 verabschiedete Gesetz über Lokalverwaltung den Bezirksräten und Verwaltungsleitern zum Teil identische Kompetenzen zu, insbesondere in Bezug auf die Besetzung von Schlüsselposten. Dies führt regelmäßig zu Pattsituationen, die sich im Rahmen geltenden Rechts nicht lösen lassen und Eliten aus der Zentrale zur Intervention in lokale Angelegenheiten "zwingen". Bei der Entscheidung, welche Partei sie dabei unterstützen, können sich diese Eliten dann ungeniert von strategischen Kalkülen leiten lassen - das heißt davon, welche der rivalisierenden Fraktionen jeweils die besten Klienteldienste anbietet.
Abgesehen von diesen Herrschaftstechniken wird die skizzierte Ordnung auch durch die Einbettung in bestimmte Denkstrukturen stabilisiert. Zwar kann sich der georgische Plünderstaat nicht durch den Rückgriff auf traditionelle Normen einen Anschein von Legitimität geben. Aber die Bevölkerung nimmt ihn vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen mit dem Staat fatalistisch als das Selbstverständliche hin. Die kulturellen Kompetenzen, derer sich die georgische Nation rühmt, zeigten sich in erster Linie in der über Jahrhunderte eingeübten Fähigkeit, sich dem Staat durch den Rückzug in Verwandtschaftsnetzwerke zu entziehen. Daraus entsteht eine Komplizenschaft, in die in gewisser Weise auch die Mitglieder des Staatsapparates einbezogen werden. Eine ambivalente Form des Paternalismus wird zur vorherrschenden Art, zu einem Staat in Beziehung zu treten, der als Fremdkörper wahrgenommenen wird. Zwar ist die Vorstellung, einklagbare Rechtsansprüche gegenüber dem Staat zu erheben, in diesem kulturellen Kontext unvorstellbar. Das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht wird aber ausgeglichen durch die als typisch georgisch etikettierte Fähigkeit, dem Apparat durch Investitionen in persönliche Beziehungen zu seinen Funktionären ein Schnippchen zu schlagen.
Diese Auffassung von den Beziehungen zwischen Individuum und Staat spiegelt sich in einem Konzept nationaler Identität, in dem sich Nationalismus in eigentümlicher Weise mit Geringschätzung des Staates verbindet. Das kollektive Bewusstsein ist geprägt von der Erfahrung der Auflösung des Staates und dem Gefühl, den Rivalitäten konkurrierender äußerer Mächte hilflos ausgeliefert zu sein - nicht zuletzt der Krieg um die Unabhängigkeitsbestrebungen von Abchasien 1992-93 hat diese Wahrnehmung neu bestätigt. Beides hat Herrscher und Beherrschte gelehrt, dass man nur durch flexible Anpassung an Bedingungen, auf die man selber keinen Einfluss hat, überleben kann. Formale Abmachungen als Absicherung gegen eine unsichere Zukunft erscheinen als sinnlos.
Alle wissen, dass Georgien eine einzigartige, dreitausendjährige Kultur aufweist, aber niemand glaubt ernsthaft an die Chance, einen lebensfähigen, modernen georgischen Staat aufzubauen. Die zum Teil maßlos unrealistischen Hoffnungen konzentrieren sich ausschließlich darauf, in Gestalt des Westens einen Patron zu finden, der die notwendigen Investitionen für den Wiederaufbau der völlig zusammengebrochenen ökonomischen Infrastruktur finanziert. Schewardnadse spielt dabei die Rolle des aussichtsreichen Maklers. Ihm wird das Wunder zugetraut, sein persönliches Prestige zu nutzen und im Austausch für politische Klienteldienste Geldzuflüsse von außen zu erschließen - Renteneinkommen in Gestalt von Transitgebühren und westlichen Hilfsleistungen -, um den Traum von der Sicherung staatlicher Existenz wahr zu machen. In dieser Rolle genießt Schewardnadse tatsächlich so etwas wie Legitimität.
Entscheidend ist dabei, dass das Klientelverhältnis zwischen dem eigenen Staat und dem mächtigen westlichen Patron genauso in den Kategorien eines ambivalenten Paternalismus begriffen wird wie die Beziehung zwischen Individuum und Staat. Wir haben es wieder mit einer eigentümlichen Mischung von gegenseitig bindenden moralischen Normen und Nutzenkalkül zu tun: Einerseits ist der Westen Schewardnadse wegen seiner persönlichen Verdienste um die Beendigung des Kalten Krieges etwas schuldig. Andererseits erscheint es legitim, Reformen für die Verhandlungen mit internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vorzutäuschen, zumal diese ihre Kredite an Bedingungen knüpfen, die aus Sicht der politischen Elite und der Bevölkerung Georgiens ebenso unzumutbar wie unerfüllbar sind. Der einzelne korrupte Beamte ist auf Grund seiner ambivalenten Position gleichzeitig Täter und Opfer korrupter Geschäfte und geht niemals ganz in seiner Rolle als Vertreter eines feindlichen staatlichen Auspressungsapparates auf. Genauso bleibt auch der mit der Person des Präsidenten identifizierte Staat in seiner Rolle als unterlegener Klient mächtiger Finanzorganisationen eingebunden in eine auf Komplizenschaft beruhende Solidargemeinschaft mit den Beherrschten.
Wenn man diese Deutung des Transformationsprozesses in Georgien zugrundelegt, dann erscheint die großzügige Bereitschaft westlicher Staaten und insbesondere auch Deutschlands, dem Land Kredite und Entwicklungshilfe zu geben, doppelt kontraproduktiv. Zum einen verlängert diese Hilfe die Lebensfähigkeit eines Systems, dessen Institutionen das auf reiner Umverteilung beruhende Streben nach Renteneinkommen begünstigen und Produktionstätigkeiten blockieren. Zum anderen verleiht sie der gegenwärtigen Machtelite, die ungeniert die Rolle eines Maklers zwischen den georgischen Klienten und den westlichen Patronen spielt, zusätzliche Glaubwürdigkeit und erschwert damit die Herausbildung einer demokratischen Alternative.
Gerade im Falle Georgiens dürfte die Entscheidung, weitere internationale Hilfe zu verweigern, nicht schwer fallen. Dass die bislang gewährte Hilfe nahezu vollständig in dunklen Kanälen verschwunden ist, ist dort in jedem Dorf sattsam bekannt.
aus: der überblick 04/2000, Seite 71
AUTOR(EN):
Barbara Christophe :
Barbara Christophe ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen der Universität Frankfurt.