Die territoriale Ordnung der Dritten Welt beruht auf Grenzlinien aus der Kolonialzeit
Die meisten Staatsgrenzen außerhalb Europas sind von Kolonialmächten gezogen worden. Viele teilen Sprach- und Religionsgemeinschaften auf mehrere Territorien auf oder fassen verschiedene Gruppen im selben Staat zusammen. Und doch behandeln die Staaten der Dritten Welt seit ihrer Unabhängigkeit diese Grenzen als unverletzlich. Der Grund ist einfach: Sie sind das kleinere Übel. Denn der Versuch, es allen recht zu machen, würde zu endlosen Konflikten führen.
von Jörg Fisch
Die Grenzen der heutigen außereuropäischen Staaten sind mit wenigen Ausnahmen in Asien und Afrika von den europäischen Kolonialmächten gezogen oder zumindest mitgezogen worden. Dabei lassen sich von der Art ihres Zustandekommens her drei Typen von Grenzen unterscheiden.
Der erste sind ursprünglich innere Grenzen, von der Kolonialmacht für rein administrative Zwecke gezogen. Manchmal hielten sich die damit beauftragten Beamten an bestehende Abgrenzungen, manchmal zogen sie völlig neue Linien - zuweilen in Gebieten, die ihnen überhaupt noch nicht richtig bekannt waren. Zu diesem Typ gehören insbesondere die Staatsgrenzen in Spanisch-Amerika und innerhalb der frankophonen und anglophonen Gebiete Afrikas.
Der zweite, häufigste Typ ergab sich aus Abgrenzungen zwischen den Kolonien unterschiedlicher Kolonialmächte. Solche Grenzen waren manchmal das Ergebnis von Kriegen, manchmal von friedlichen Übereinkünften. Die Interessen der einheimischen Bevölkerung wurden eher weniger berücksichtigt als beim ersten Typ.
Der dritte Typ, die Abgrenzungen zwischen einer Kolonialmacht und einer einheimischen Macht, die ihre Unabhängigkeit nie ganz verlor, spielte lediglich in Asien eine etwas größere Rolle. Nur eine der so gezogenen Grenzen ist auch heute noch die Grenze eines vorwiegend europäischen Staates: die russisch-chinesische.
Die heutige Haltung gegenüber diesen Grenzen ist insbesondere in der Dritten Welt von einem geradezu schizophrenen Missverhältnis zwischen Theorie und Praxis gekennzeichnet. In der Theorie herrscht eine prinzipientreue antikolonialistische Rhetorik. Man ist sich darüber einig, dass die Grenzen in der Dritten Welt eine schlimme Erblast des Kolonialismus darstellen. Sie sind willkürlich und ungerecht. Sie zerschneiden, was zusammengehört, und zwingen zusammen, was auseinanderstrebt. Sie nehmen weder auf die topographischen noch auf die ethnischen, religiösen oder historischen Verhältnisse Rücksicht. Sie verursachen immer wieder Kriege und Bürgerkriege.
Diesem historischen Übel wird, wesentlich auf Betreiben der Dritten Welt, als großer demokratischer Gegenentwurf eines der erfolgreichsten politischen Schlagworte des 20. Jahrhunderts entgegengesetzt: die Parole vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es spielt im heute geltenden Völkerrecht eine ungemein wichtige Rolle. Im - jeweils identischen - ersten Artikel der beiden großen internationalen Menschenrechtspakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird es feierlich bekräftigt, obwohl diese Abkommen ansonsten. Rechte von Individuen und nicht von Völkern zum Gegenstand haben. In der Völkerrechtslehre herrscht Einigkeit darüber, dass das Selbstbestimmungsrecht einer der zentralen, absolut verpflichtenden internationalen Rechtssätze ist.
Die politische Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Sie wird von einem unscheinbaren und nur Spezialisten geläufigen Ausdruck aus dem römischen Recht beherrscht: uti possidetis. Seine wörtliche Übersetzung "wie ihr besitzt" sagt für sich betrachtet wenig aus. Gemeint ist damit die Heiligkeit und Unantastbarkeit aller von den Kolonialmächten hinterlassenen Grenzen. Dieses Prinzip hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika herausgebildet. Die ehemaligen spanischen Kolonien einigten sich nach ihrer Unabhängigkeit in ihren zahlreichen Grenzkonflikten zunehmend darauf, dass die von den Spaniern gezogenen kolonialen Verwaltungsgrenzen auch die Grenzen der neuen Staaten bilden sollten. Soweit praktikabel, hielt man sich im Verkehr mit dem ehemals portugiesischen Brasilien ebenfalls daran.
Während die Durchsetzung des uti possidetis in Lateinamerika ein langwieriger Prozess war, der erst um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einem gewissen Abschluss kam, wurde der Grundsatz in Afrika von Anfang an voll und ganz übernommen. Die Kolonialmächte wandten ihn bei der Schaffung neuer Staaten an - das heißt sie machten die Verwaltungsgrenzen in ihren Kolonien (Typ 1) und die Grenzen zwischen diesen und den Kolonien anderer Mächte (Typ 2) zur Grundlage der unabhängigen Staaten - und gaben ihn an diese weiter. Sie fanden gelehrige Schüler: Die Organisation der Afrikanischen Einheit verkündete 1964 die Unantastbarkeit der Kolonialgrenzen. Ausgerechnet die Organisation, deren erklärtes Ziel die Einheit Afrikas war, machte sich die dem Kontinent von außen auferlegten und ihn zerschneidenden Grenzen zu Eigen.
In Asien wurde nie eine vergleichbare Anerkennung des uti possidetis ausgesprochen. Doch es wurde stillschweigend übernommen. Heute bildet es die gewohnheitsrechtlich völlig unbestrittene Grundlage für alle Grenzen in der Dritten Welt, ja alle außerhalb Europas, denn auch etwa die Grenze zwischen den USA und Kanada ist auf kanadischer Seite von den Briten ausgehandelt worden.
Trifft die Behauptung, Selbstbestimmung sei die Theorie und uti possidetis die Praxis, auch wirklich zu? Die allermeisten Grenzen der Dritten Welt sind unbestreitbar das Ergebnis von Akten der Kolonialmächte, nicht von Volksabstimmungen oder sonstigen einigermaßen unmanipulierten Willensäußerungen der betroffenen Bevölkerungsgruppen. Selbst wo klare Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit fehlten, führte man in aller Regel keine Volksbefragungen durch. So war die Teilung Indiens 1947, die nicht von langer Hand geplant war, sondern angesichts unlösbar scheinender Konflikte als letztes Mittel in der Not erschien, das Werk der britischen Verwaltung; sie hielt sich einfach an untergeordnete Verwaltungsgrenzen.
Noch wichtiger ist uti possidetis für die nachkoloniale Zeit geworden. Die Staaten der Dritten Welt zeigen seltene Einmütigkeit bei der rigorosen Durchsetzung des Sezessionsverbots: Einem Staatsteil, der nie eine eigene koloniale Gebietseinheit war, wird unter keinen Umständen die Abspaltung und die Bildung eines eigenen Staates erlaubt, was auch immer die Wünsche der Bevölkerung sein mögen. Die einzige nennenswerte Ausnahme bestätigt lediglich die Regel: 1971 konnte sich Ostpakistan von Westpakistan lösen und als Bangladesch verselbstständigen. Die beiden Teile Pakistans waren durch die Landmasse Indiens getrennt - hier hätte sich die Aufrechterhaltung der Einheit einfach nicht durchsetzen lassen.
Andere Ausnahmen sind nur scheinbar. Osttimor zum Beispiel wird nicht deshalb unabhängig, weil seine Bevölkerung es wünscht oder weil sie, in Abgrenzung von den Westtimoresen und im Gegensatz etwa zu den Sumatranern, ein eigenes Volk bildet oder weil es von Indonesien besonders hart behandelt worden ist. Verschiedene indonesische Provinzen wollten sich in den letzten Jahrzehnten ebenfalls abspalten. Auch sie wurden mit harter Hand angefasst, doch für ihre Ziele setzten sich keine anderen Staaten ein. Der Südsudan wird vom Norden seit Jahrzehnten systematisch bekriegt, aber niemand ist bereit, ihm deswegen die Unabhängigkeit zu gewähren. Und die Kriegsgegner des Irak haben ihren totalen Sieg von 1991 nicht dazu benutzt, den Kurden zu einem Staat zu verhelfen. Osttimor hingegen ist eine ehemalige Kolonie und hat als solche nach der Logik des uti possidetis so lange das Recht, ja geradezu die Pflicht zur Unabhängigkeit, als es nicht in einer Volksabstimmung beschließt, sich mit einem anderen Staat zusammenzuschließen. Indonesien hat sich in Osttimor der Sünde wider das uti possidetis schuldig gemacht - dafür und nicht für Gräueltaten wird es mit dem Verlust des Gebiets bestraft. Angesichts der günstigen internationalen Konstellation glaubte Indonesien 1975-76, Osttimor besetzen und annektieren und damit das eherne Gesetz der Heiligkeit der Kolonialgrenzen ungestraft verletzen zu können. Das war unter dem Gesichtspunkt des Eigeninteresses eine geradezu frivole Haltung. Denn Indonesien hat von diesem Gesetz als Nachfolgestaat des äußerst heterogenen Vielvölkerreichs Niederländisch-Indien enorm profitiert, weil es alle Sezessionsversuche mit dem Hinweis auf das uti possidetis vereiteln konnte, ohne dass andere Staaten etwas dagegen eingewendet hätten. In Osttimor sägte es am Ast, auf dem es saß.
Auch die Spanische Sahara bestätigt die Regel. Sie war 1975, als die Spanier überstürzt abzogen, ein fast unbewohnter Wüstenstreifen. Niemand konnte hier sinnvollerweise von einem Volk, das ein Recht auf einen eigenen Staat hatte, sprechen, wenn er das nicht etwa auch von den Kurden, den Zulu in Südafrika oder den Karen in Burma und zahllosen anderen innerhalb von Staaten der Dritten Welt lebenden Bevölkerungsgruppen tat. Doch darum ging es nicht. Die Spanische Sahara war eine Kolonie und hatte deswegen, solange sich ihre Bevölkerung dem nicht offen widersetzte, unabhängig zu werden. Marokko und Mauretanien fügten sich dieser Logik nicht, indem sie das Gebiet besetzten, und lösten dadurch einen bis heute nicht gelösten Konflikt aus.
Auch das uti possidetis gilt freilich nicht absolut. Wenn sich zwei Teile eines Staates friedlich oder nach langen Kämpfen darauf verständigen, dass jeder von ihnen unabhängig wird, so wird sie in der Regel niemand von außen mit Gewalt daran hindern. Die Wirkungsmacht der Kolonialgrenzen zeigt sich aber gerade darin, dass es in der Dritten Welt bislang nicht zu solchen Trennungen etwa nach dem Vorbild der Tschechoslowakei gekommen ist.
Die Grundlage für die Entstehung der Staaten in der Dritten Welt während der Entkolonisierung bildete also nicht der Satz, dass alle Völker dieser Welt ein Recht auf Selbstbestimmung und damit auf einen eigenen Staat haben, sondern vielmehr, dass Gebietsherrschaft über einen Ozean hinweg illegitim, später sogar, dass sie illegal war und dass den (von Europa aus gesehen) überseeischen Gebieten staatliche Unabhängigkeit innerhalb der kolonialen Grenzen zu gewähren sei. Das war ein klares und relativ leicht handhabbares Prinzip. Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker hatte es nur wenig zu tun - umso weniger, je mehr jemand die Auffassung vertrat, die kolonialen Grenzen stünden nicht mit den ethnischen, religiösen, sprachlichen und sonstigen Gegebenheiten der betreffenden Gebiete im Einklang.
Weshalb legte die Dritte Welt trotzdem und legt sie bis heute solchen Wert auf das Selbstbestimmungsrecht? Am Beginn stand sicher die Suche nach einem wirkungsvollen Schlagwort. Mit dem Ruf nach uti possidetis konnte man keine Völker begeistern. Dazu hatte die Forderung nach Selbstbestimmung durchaus ihren Sinn, solange sie sich auf die Abschüttelung der europäischen Herrschaft bezog, die in der Regel auch ohne Volksabstimmung von der großen Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wurde.
Damit allerdings hatte sich die Dritte Welt ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Nachdem man die Entkolonisierung mit dem Selbstbestimmungsrecht gerechtfertigt hatte, konnte man den Begriff nach deren Abschluss schlecht einfach wieder aus dem Verkehr ziehen. Dass man sich der in ihm schlummernden Gefahren bewusst war, zeigte sich in Anstrengungen, ihm die Zähne zu ziehen. In verschiedenen internationalen Dokumenten wurde erklärt, das Selbstbestimmungsrecht dürfe nicht so verstanden werden, dass es die territoriale Integrität der bestehenden nachkolonialen Staaten gefährde. Das war nur eine verklausulierte Formulierung dessen, was manche Staaten offen sagten: die Selbstbestimmung sei ein einmaliger Vorgang, der sich ausschließlich in der Entkolonisierung, in der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht äußere.
Doch der einmal gerufene Geist ließ sich nicht so leicht wieder in die Flasche bannen. Europäische Staaten unter westdeutscher Führung und einige mit dem Status quo unzufriedene Staaten der Dritten Welt bestanden darauf - logisch gesehen sicher zu Recht -, dass das eine unzulässige Einengung des Selbstbestimmungsrechts sei. Sie postulierten dessen universale Geltung. Unerwartet rasch erhielten sie Gelegenheit, es besser zu machen. Die deutsche Wiedervereinigung erwies sich als unproblematisch, nachdem
die Machtverhältnisse einmal bereinigt waren. Man hätte sich dafür gar nicht auf das Prinzip der Selbstbestimmung berufen müssen, da niemand einem Staat das Recht absprach, sich einem anderen anzuschließen.
Zum entscheidenden Test wurde stattdessen die Auflösung Jugoslawiens und der Sowjetunion. Hier gab es zahlreiche Völker, die laut Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht hatten. Doch niemand versuchte ernsthaft, den Willen der beteiligten Völker (und Menschen) umfassend zu ergründen und eine möglichst allen genehme Lösung zu finden. Stattdessen griff man unverzüglich auf das bewährte uti possidetis zurück. Diesmal galten einfach die bisherigen innerstaatlichen Republiksgrenzen als Grenzen neuer unabhängiger Staaten.
Die Folgen waren zum Teil problematisch. Manchen früheren Teilrepubliken blieb angesichts des Drucks von außen kaum etwas Anderes übrig, als unabhängig zu werden, auch wenn ihre Bevölkerung kein besonderes Bedürfnis danach hatte - wie etwa in Makedonien oder in Weißrussland. Wären sie in der bisherigen Föderation verblieben, so wäre deren Auflösung weniger leicht zu rechtfertigen gewesen. Denn damit hätte man anerkannt, dass die Herrschaft Moskaus oder Belgrads in manchen Teilrepubliken offenbar durchaus erträglich war. Schwerwiegender waren die umgekehrten Fälle: Bevölkerungsgruppen mit starkem Unabhängigkeitswillen, deren Territorien aber keine Teilrepublik gebildet hatten. Auch hier hielt sich die Welt an das ebenso bewährte wie brutale Vorbild der Dritten Welt: Weder die Tschetschenen noch die Kosovo-Albaner galten als Volk im Sinne des Selbstbestimmungsrechts. Selbst nach der Eroberung des Kosovo wagte die Nato es nicht, von Jugoslawien die Freigabe des Gebiets als unabhängigen Staat zu fordern, weil dies dem uti possidetis widersprochen hätte. Die Schwierigkeit ließe sich nur so überwinden, dass das Kosovo nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts als Kolonialeroberung der Nato behandelt und danach entkolonisiert würde.
Wenn man die Vorgänge und nicht die Rhetorik betrachtet, so hat sich also seit 1989 das Prinzip des uti possidetis, mit entsprechenden Anpassungen, weltweit durchgesetzt, während das Selbstbestimmungsrecht der Völker endgültig zur rhetorisch-propagandistischen Floskel geworden ist. Wo liegen die Ursachen dafür?
Dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein untaugliches Prinzip zur Gestaltung einer stabilen internationalen Ordnung ist, ist leicht zu sehen. Der Hauptgrund liegt darin, dass eine allgemein akzeptierte Definition dessen, was ein Volk ist, unmöglich ist. Je nachdem, wie die Definition ausfällt, profitieren unterschiedliche Gruppierungen. Man kann sich an objektive Merkmale wie Sprache, Religion oder Abstammung halten. Aber jedes dieser Kriterien wird, da nie alle überall zusammenfallen, zu unterschiedlichen Einteilungen führen. Oder man hält sich an die Wünsche der Bevölkerung, die sich ändern können. Als zum Beispiel die britische Kolonialmacht 1905 die Provinz Bengalen teilte, primär nach religiösen Gesichtspunkten, erhob sich ein Aufschrei der Empörung - viele Bengalis sahen darin einen Akt der Spaltung ihres Volkes. Die Briten mussten die Teilung zurücknehmen. 1947 mussten sie auf indischen Druck hin die Provinz erneut teilen, in etwa entlang der gleichen Linie wie 1905. Nun war für die Bengalis selbst nicht mehr die Sprache, sondern die Religion das entscheidende Kriterium.
Da es nie möglich sein wird (und wenn es doch möglich wäre, wäre es ungerecht), die Weltbevölkerung definitiv in Völker und die Erdoberfläche in ihnen zugehörige Staaten einzuteilen, wird die Formel vom Selbstbestimmungsrecht der Völker eine irreführende rhetorische Floskel bleiben. Der häufigste Versuch, diese Tatsache zu vertuschen, besteht in der Gleichsetzung von Volk und Staatsbevölkerung. Die in einem Staat lebenden Menschen bilden dann das Volk, das seine Selbstbestimmung in diesem Staat gefunden hat. Also fallen Staats- und Volksgrenzen zusammen, und die Selbstbestimmung besteht lediglich in der Absegnung des Status quo.
Selbst wenn man die Frage der Selbstbestimmung pragmatisch angeht, so führt der Versuch, sie ernst zu nehmen, oft zu politisch unerwünschten und dadurch nicht durchsetzbaren Ergebnissen. Hätte man zum Beispiel 1918-19 in allen umstrittenen Gebieten faire Volksabstimmungen durchgeführt, so wäre Deutschland größer geworden als 1914, es hätte wenigstens Österreich, die Sudetengebiete und Südtirol eingeschlossen. Das wäre geradezu eine Beleidigung der Sieger des Ersten Weltkrieges gewesen. Und hätte man nach 1989 in Jugoslawien konsequent regionale Volksabstimmungen abgehalten, so wäre Serbien am Schluss größer als zuvor gewesen. Es kann ehrenwert sein, solche Entwicklungen verhindern zu wollen. Aber es ist unehrlich, wenn man sich dabei hinter dem Selbstbestimmungsrecht versteckt.
Der Hauptgrund für den Siegeszug des uti possidetis liegt in seiner Farblosigkeit, in seiner strikten Neutralität. Es ist ein reines Formalprinzip, bei dem inhaltliche Aspekte, insbesondere die Frage nach der ursprünglichen Gerechtigkeit einer Grenzziehung, bewusst ausgeklammert bleiben. Der große Vorteil der uti possidetis-Grenzen war, dass Andere sie gezogen hatten. Das zu akzeptieren, musste freilich schwer fallen, denn diese Anderen waren ja in der Regel die Erzfeinde gewesen, und man erhielt dadurch Grenzen von Gnaden der Kolonialisten oder, nach 1989, von Titos und Stalins Gnaden. Wenn die Grenzen trotzdem anerkannt wurden, so mussten starke Gründe dafür vorliegen. Der entscheidende, wenn auch wohl selten ganz explizit bewusste Grund ist, dass die Vorstellung einer Welt mit gerechten Grenzen in jedem Falle eine Illusion ist. Ein Gedankenexperiment macht das rasch klar. Wenn ein Einzelner oder eine Kommission den Auftrag erhielte, der Welt gerechte Grenzen zu verordnen und dabei freie Hand hätte, so würde der Versuch mit Sicherheit scheitern. Grenzen lassen sich nach beliebig vielen Kriterien ziehen: nach geografischen, historischen, ethnischen, religiösen und so weiter. Nie werden alle Kriterien in jeder Grenze auf der ganzen Welt zusammenfallen - es sei denn, man passt die Siedlungsverteilung der Menschen mit Gewalt den Grenzen an, indem man diejenigen, die nicht in die getroffene Einteilung passen, zwangsweise umsiedelt, vertreibt oder umbringt. Sonst aber wird die Entscheidung für eins der Kriterien zur Entscheidung gegen andere oder gar gegen alle anderen. Solange Grenzen aus inhaltlichen Gründen akzeptiert werden, sind sie umstritten, weil sie dann aus anderen inhaltlichen Gründen, aufgrund anderer Kriterien, von Anderen abgelehnt werden. Erst wenn sie um ihrer Selbst Willen, und das heißt letztlich: ohne Gründe, aus Prinzip akzeptiert werden, haben sie Chancen auf Stabilität.
Ein Formalprinzip wie das uti possidetis erhält seine Attraktivität erst aus der Unmöglichkeit von inhaltlicher Gerechtigkeit - nicht als glanzvolle Lösung des Problems, sondern lediglich als kleineres ÜBel. Grenzen werden in der Praxis nicht anerkannt, weil sie gerecht sind, sondern weil man eingesehen hat, dass jede Änderung mit Kämpfen und neuen, oft noch größeren Ungerechtigkeiten verbunden ist. Das ist zumindest in einzelnen Regionen Europas leicht zu sehen. Die Grenzverläufe sind hier etwa im Falle der Schweiz zuweilen von geradezu haarsträubender Absurdität oder zum Beispiel in Belgien von äußerster Beliebigkeit. Doch sie sind nicht umstritten, weil man sich auf beiden Seiten daran gewöhnt hat, sie gerade in ihrer Absurdität und Beliebigkeit als Produkt der Geschichte zu akzeptieren. Dadurch kann dann aus dem bloß formalen Prinzip der Akzeptierung einer Grenze um ihrer Selbst Willen auch wieder eine inhaltliche Kraft werden: Wenn Menschen in einem bestimmten Staat leben und zusammenleben müssen, beginnen sie sich von den Bewohnern anderer Staaten zu unterscheiden und zumindest in dieser Abgrenzung gemeinsame Züge und Interessen zu entwickeln.
Das uti possidetis, und mit ihm jedes Formalprinzip, ist also keineswegs eine ideale Lösung für Grenzprobleme. Es schreibt vielmehr die Geschichte mit ihren vielfältigen Ungerechtigkeiten fest. Aber es ist das kleinere ÜBel. Das Grundübel lässt sich weder durch ein inhaltliches noch durch ein formales Prinzip für die Grenzziehung beseitigen, sondern nur, indem die Bedeutung der Grenzen verringert wird. Dann verringert sich auch die Bedeutung des Übels, das im Prinzip der Grenze selbst enthalten ist.
Grenzen sind unabhängig von ihrem Verlauf ungerecht, weil sie diskriminieren, um die Reichen vor den Armen zu schützen. Es herrscht weltweit zunehmend Konsens da-rüber, dass jegliche Form der Diskriminierung von Individuen aufgrund angeborener Eigenschaften wie der Rasse oder des Geschlechts unzulässig sein sollte. Doch auch die Staatsangehörigkeit ist im Wesentlichen ein angeborenes Merkmal. Aber wir sind es gewohnt, als selbstverständlich hinzunehmen, dass, wer in Paraguay oder in Benin geboren ist, mit den Lebenschancen vorlieb nehmen muss, die ihm diese Länder eröffnen, und dass er bestenfalls auf dem Wege einer besonderen Gnadengewährung die Chance hat, sein Glück in New York oder in Tokio zu versuchen. Wer die Ungerechtigkeit der Grenzen verringern oder gar beseitigen möchte, sollte nicht versuchen, sie neu zu ziehen, sondern er sollte ihre Bedeutung verringern und sie schließlich vielleicht sogar ganz abschaffen.
aus: der überblick 04/2000, Seite 11
AUTOR(EN):
Jörg Fisch :
Jörg Fisch ist Professor für Allgemeine Neuere Geschichte an der Universität Zürich und unter anderem Autor von "Die Europäische Expansion und das Völkerrecht", Stuttgart 1984.