Auch nach der Apartheid sind in Südafrika Wohnbezirke nach der Hautfarbe getrennt
Im Jahre 1994 endete die weiße Vorherrschaft in Südafrika. Politisch und juristisch sind seitdem alle Menschen gleichgestellt. Theoretisch steht damit einem Ende der Rassentrennung nichts mehr im Wege. Tatsächlich hat sich die Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen aber eher verbreitert. Die Grenzen zwischen ihren Wohngebieten vereiteln Kontakte untereinander. Schuld daran sind unter anderem städtebauliche Entscheidungen, die weit in die Apartheidzeit zurückreichen.
von Friederike Böge
Wenn Eva Blake von ihrem Wohnzimmersofa durch die stets geöffnete Haustür blickt, sieht sie die frisch gestrichenen Häuschen von Tambo Village. Die neue Siedlung auf der anderen Straßenseite ist keine 50 Meter von ihrem Grundstück im Kapstädter Stadtteil Manenberg entfernt. Dennoch war die Rentnerin noch nie "dort drüben", wie sie es nennt. Es sei zu gefährlich, sagt sie und nimmt auf ihrem Weg zur Bushaltestelle lieber einen großen Umweg in Kauf als Tambo Village zu betreten.
Bis vor ein paar Jahren war Manenberg das, was die Apartheid-Terminologie als Coloured township bezeichnete - ein Wohngebiet, in dem nur Coloureds, also Farbige, wohnen durften. Das waren nach der Logik des Apartheidsystems all jene, die weder als Weiße noch als Schwarze klassifiziert werden konnten - also Nachkommen von Khoi und San, der Urbevölkerung des Kap, von Sklaven aus Gebieten des heutigen Indonesiens und Malaysias oder von Eltern oder Großeltern unterschiedlicher Hautfarbe. Dort, wo heute die mehrheitlich von Schwarzen bewohnte Siedlung Tambo Village liegt, war vorher eine so genannte Pufferzone. Als unbebaute Freifläche diente sie dazu, die Interaktion zwischen farbigen und schwarzen Kapstädtern zu erschweren. Denn dahinter liegt der Stadtteil Guguletu, in dem zu Apartheidzeiten nur Schwarze wohnen durften.
Für Eva Blake hat diese Grenze nie aufgehört zu existieren. "Die gehen auf ihrer Seite der Straße und wir auf unserer", sagt sie. Dabei weiß sie genau, dass ihr Sohn fast täglich in die neue Siedlung geht, um dort Bier zu kaufen und sich mit Freunden zu treffen. Sie weiß auch, dass ihre Nachbarin sie für eine Rassistin hält, denn diese wird selbst regelmäßig zu Familienfeiern in Tambo Village eingeladen. Blake bleibt trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, dabei: "Ich mag Tambo Village nicht", sagt sie. "Diese Leute haben mir meine schöne Aussicht gestohlen."
Francis Dunjana, die auf der anderen Straßenseite wohnt, hat früher ebenfalls Angst vor ihren neuen Nachbarn gehabt. Damals war sogar die Rede davon, eine Mauer zwischen beiden Siedlungen zu errichten. Auch in Tambo Village befürchtete man Konflikte mit den Manenbergern. Die nämlich hatten das Brachland der ehemaligen Pufferzone als Bauland für "ihre eigenen Leute" gefordert. Doch die Lage hat sich merklich entspannt. "Ich habe sehr gute Beziehungen zu meinen Nachbarn", sagt Dunjana. Sie würden einander auf der Straße grüßen und sich wechselseitig besuchen. Am wichtigsten ist ihr aber, dass ihre Enkel in einer ethnisch gemischten Gegend aufwachsen. Sie sollen lernen, Englisch und Afrikaans zu sprechen. Denn das seien die Schlüssel zum sozialen Aufstieg.
Doch wenn Francis Dunjana ihre Verwandten in Guguletu besucht, muss sie auch heute noch regelmäßig die Frage beantworten, ob es denn nicht gefährlich sei "dort drüben" in Manenberg. "Die Leute hier glauben, dass in Manenberg nur Gangster leben", sagt die alte Frau. "Sie wissen nicht, dass viele Menschen dort selbst Angst vor der Bandenkriminalität haben."
Als im Jahr 1994 die erste demokratisch gewählte Regierung unter Nelson Mandela an die Macht kam, erbte sie nicht nur eine Gesellschaft, die durch die Rassengesetze der Apartheid und durch eine 300-jährige Kolonialgeschichte geteilt war und extreme soziale Unterschiede aufwies. Sie erbte auch eine städtische Infrastruktur, die die Integration der Gesellschaft noch auf Jahrzehnte hinaus behindern wird, schon allein deshalb, weil sie physisch fortbesteht. In einem Planungsdokument des Südafrikanischen Büros für Rassenangelegenheiten aus dem Jahre 1952 heißt es: "Ein Wohngebiet sollte so angelegt sein, dass seine Grenzen so weit wie möglich als Barrieren fungieren, die den Kontakt zwischen den Rassen in einander benachbarten Wohngebieten verhindern oder die Menschen nicht dazu ermutigen, einen solchen Kontakt herzustellen." In den folgenden Jahren entstanden in vielen südafrikanischen Städten riesige Neubausiedlungen, wie auch Manenberg eine ist. Entsprechend den Planungsvorgaben wurden sie so gebaut, dass Eisenbahnlinien, Flüsse, Schnellstraßen oder breite Pufferzonen sie von anderen Siedlungen abgrenzten. Hunderttausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt und ihrer Hautfarbe entsprechend einer dieser Siedlungen zugeteilt. Es gab Siedlungen für Schwarze, für Inder und für Farbige. Die meisten Weißen konnten dagegen in ihren alten Wohngebieten bleiben. Nicht zuletzt sollten die Grenzen zwischen den ethnisch definierten Siedlungen die Wohngebiete kontrollierbar machen. Denn die neuen Siedlungen waren so konzipiert, dass sie nur über eine einzige Zufahrtsstraße zu erreichen waren. Abgesehen davon gab es allerdings auch wenig Grund, andere Siedlungen zu besuchen, denn es waren meist reine Wohnstätten ohne Arbeits-, Einkaufs- oder Freizeitmöglichkeiten.
Es ist deshalb nicht leicht, die alten Trennlinien aufzuheben. Mitte des Jahres 2000 wurde eine Klinik im - mehrheitlich von Farbigen bewohnten - Kapstädter Stadtteil Bonteheuwel eröffnet. Sie wurde bewusst an den Rand der Siedlung gebaut, um zugleich für die - mehrheitlich schwarzen - Bewohner des benachbarten Stadtteils Langa erreichbar zu sein. Deshalb wurde das Krankenhaus bei seiner Eröffnung als Symbol der Einheit gefeiert. Doch viele Menschen in Langa haben Schwierigkeiten, zu dem Krankenhaus zu gelangen, weil Langa und Bonteheuwel durch eine stark befahrene Autobahn voneinander getrennt sind. Eine Fußgängerbrücke ist zwar geplant, wird aber aus Geldmangel wohl erst in einigen Jahren gebaut werden. Auf seiner Westseite ist Langa zudem durch eine Bahnlinie von dem mehrheitlich von Weißen bewohnten Vorort Pinelands getrennt. Immer wieder werden hier Menschen von Zügen überfahren, weil sie im Morgengrauen über die Gleise klettern, um ihre Arbeitsstelle in dem benachbarten Stadtteil zu erreichen. Viele Frauen aus Langa arbeiten in Pinelands als Hausangestellte. Dennoch gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel, die die Frauen dorthin bringen könnten. Ebenso wenig wie eine Brücke, die den direkten Zugang nach Pinelands ermöglichen würde. Es ist auch fraglich, ob eine solche Brücke gegen die Lobby der Hausbesitzer von Pinelands durchsetzbar wäre.
Seit der Regierung Mandela gilt die Integration und Verdichtung der ethnisch und sozial geteilten Städte als politische Priorität. In fast allen Planungsdokumenten nach 1994 tauchen die beiden Begriffe als zentrale Leitbilder auf. Die Praxis sieht jedoch oft anders aus. Vor allem der staatliche soziale Wohnstättenbau der letzten Jahre hat die Struktur der Apartheidstadt eher verfestigt als aufgehoben. Die Neubausiedlungen, die seit 1995 mit Hilfe staatlicher Subventionen entstanden sind, erinnern stark an die Wohnghettos der Apartheidära: Sie liegen weit draußen vor der Stadt und grenzen meist an die Siedlungen für Schwarze und Farbige aus den sechziger Jahren. Überwiegend sind es reine Wohnsiedlungen ohne jede zusätzliche Infrastruktur. Meist haben sie - Straßenbau ist teuer - auch nur eine Zufahrtsstraße, die sie an den Rest der Stadt anbindet. Viele ihrer Bewohner können sich das Fahrgeld für die weite Fahrt zur Innenstadt nicht leisten. Deshalb haben sie weder Zugang zu Arbeitsplätzen noch zu Freizeit- und Bildungsangeboten in der Stadt.
Warum klaffen Anspruch und Praxis so weit auseinander? "Die Verwaltungen stehen am Rande des finanziellen Ruins und können es sich nicht leisten, ihr wertvollstes Land in Stadtnähe billig abzugeben", sagt Jens Kuhn, der Baustadtrat von Kapstadt. Sozialbauten in unmittelbarer Umgebung der besseren Wohngebiete seien zudem doppelt teuer, weil sie die Grundstückspreise und somit die Grundsteuern drückten. "Außerdem", sagt Kuhn, "sind die Bezirksverwaltungen oft nicht bereit, sich auf eine Konfrontation mit der mächtigen Lobby der Hausbesitzer einzulassen." Immer wieder scheitern Sozialbauprojekte an den Protesten der Anwohner. Langa beispielsweise war erst in den achtziger Jahren aufgewertet worden, um einer kleinen aber wachsenden schwarzen Mittelschicht Platz zu bieten. Und jetzt wehren sich dort die Hausbesitzer erfolgreich gegen geplante Sozialbauten.
In Phoenix - einem der ersten ethnisch gemischten Stadtteile in Kapstadt - kämpfen Hausbesitzer dafür, dass sie eine hohe Mauer rund um ihre Wohnanlage ziehen dürfen, um die Sozialbauten vor ihrer Haustür nicht sehen zu müssen. "Ich fühle mich hintergangen", erläutert Sarah Sables, eine Bürokauffrau aus Phoenix und Vorsitzende der dortigen Grundbesitzervereinigung. Niemand habe ihr von den Plänen für die Sozialbauten erzählt, als sie vor drei Jahren ihr Haus in Phoenix kaufte. Sie hatte der Bandenkriminalität in Manenberg entkommen wollen. Zudem hatte sie ihren Umzug als eine Gewinn bringende Investition gesehen. Wie viele andere hatte sie darauf spekuliert, dass die Immobilienpreise in Phoenix in den nächsten Jahren weiter steigen würden und sie ihr Haus wieder mit Gewinn verkaufen könnte. Doch seit quasi vor ihrer Haustür die ersten staatlich subventionierten Betonhäuschen entstanden sind, ist der Wert ihres Grundstücks in den Keller gerutscht. Am meisten ärgert Sables das Erscheinungsbild der Sozialsiedlung. Viele der Bewohner haben neben ihren neuen Häusern weitere Hütten aus Holz und Wellblech gezimmert. "Man müsste den Leuten mal erklären, wie sie die Hütten bauen sollen, damit es ordentlicher aussieht", findet die Frau aus Phoenix.
Eine Methode, Sozialbauten näher an die Stadt heranzubringen, sind Auflagen, wonach jedes größere Bauprojekt eine bestimmte Anzahl von sozialen Wohneinheiten bereitstellen muss. In Einzelfällen ist dies recht erfolgreich geschehen. Doch es scheint, als hätte der enorme Bedarf an subventioniertem Wohnraum alle Ansätze zu solch kleinräumigen Lösungen überrollt. Die südafrikanische Regierung steht unter Druck, denn sie selber hat die Wohnraumversorgung zum Politikum erhoben und erklärt, sie wolle sich an der Zahl der neu gebauten Häuser messen lassen. Das hat dazu geführt, dass Zahlen in den Vordergrund gerückt sind und Konzepte zurückstehen. Hinzu kommt ein enormer Zuwanderungsdruck; die Städte in Südafrika wachsen schneller als irgendwo sonst in der Welt. Auch das ist eine Folge der Apartheidära. Denn bis Anfang der neunziger Jahre war der Zuzug in die Städte gesetzlich begrenzt; Urbanisierungsprozesse wurden künstlich unterdrückt. Schwarze Südafrikaner durften die Städte nur mit einer Genehmigung betreten, die an einen Arbeitsplatz gebunden war. Sie mussten jederzeit einen Pass bei sich tragen, der belegte, dass sie sich rechtmäßig in der Stadt aufhielten. Die Apartheidgesetze definierten viele von ihnen als Ausländer, als Staatsangehörige der so genannten Homelands. Das waren ländliche Gebiete innerhalb Südafrikas, von denen die Apartheidregierung vier nach und nach einseitig zu unabhängigen Staaten erklärte. Zwangsdeportationen zurück in die Homelands waren an der Tagesordnung. Als die Apartheidsgesetze fielen, setzte folglich eine enorme Landflucht ein.
Innerhalb weniger Monate entstanden riesige, weder geplante noch genehmigte Hüttensiedlungen an den Rändern der Städte. Allen Bewohnern solcher Siedlungen sind staatlich subventionierte Ein-Zimmer-Häuschen versprochen worden. Hinzu kamen jene, die zuvor illegal bei Verwandten untergekommen waren. Gegen Ende des Jahres 2000 stehen allein in Kapstadt noch 221.000 Familien auf der Warteliste. In fast jeder der neuen Siedlungen gibt es aber Gegenden, in denen die Bewohner ihre Häuser nicht über die Warteliste, sondern durch illegale Besetzung bekommen haben. Die Bewohner solcher Siedlungen unterscheiden sehr genau zwischen den "legitimen" und den "illegitimen" Einwohnern. Und es ist anzunehmen, dass das auch noch eine Weile so bleiben wird.
All das bedeutet jedoch noch nicht, dass die Leitbegriffe "Integration" und "Verdichtung" zu reinen Worthülsen verkommen sind. Auf der Verwaltungsebene beispielsweise ist die Integration weit vorangeschritten. Zu Apartheidzeiten gab es eigene Behörden zur Verwaltung der Wohngebiete für nichtweiße Bevölkerungsgruppen. Jede dieser Behörden verwaltete ihr eigenes Budget. Infolgedessen ergaben sich enorme Unterschiede in den Ausstattungen der einzelnen Stadtteile, wobei die schwarze Bevölkerung pro Kopf am wenigsten abbekam. Seit 1997 sind diese Verwaltungseinheiten in Kapstadt in sechs ethnisch integrierten Bezirken aufgegangen. Im Jahr 2001 sollen sie zu einer einzigen Zentralbehörde zusammengefasst werden.
Der Flächennutzungsplan von Kapstadt setzt dagegen auf Integration durch Dezentralisierung - frei nach dem Motto: Wenn man die Armen nicht näher an die Stadt bringen kann, dann muss die Stadt zu ihnen kommen. Geplant ist ein neues kommerzielles und industrielles Zentrum inmitten der infrastrukturarmen Neubausiedlungen der sechziger Jahre. Durch eine neue Hauptgeschäftsstraße und Verkehrsader soll es an die bestehenden Zentren angebunden werden. Welche Folgen das haben wird, kann man schon jetzt an Verkehrsknotenpunkten wie Bellville und Wynberg erahnen. Dort haben sich informelle Händler gegen die Lobby der dortigen Geschäfte durchgesetzt und bevölkern die Umgebung der Bahnhöfe und zentralen Bushaltestellen. Auf den Gehwegen haben sie ihre Decken ausgebreitet oder kleine Tische aufgestellt. Dort verkaufen sie Taschen, Schuhe, Batterien und Zahncreme. Als Folge sind viele der teureren Geschäfte abgewandert; billige Möbel- und Kleidergeschäfte haben sie ersetzt. Erst drei Seitenstraßen weiter kann man noch erkennen, dass hier einmal die weiße Mittelschicht aus Bellville und Wynberg einkaufen ging.
Auch in der Innenstadt verfolgt Kapstadt eine Politik der sozialen und ethnischen Integration. Bettler, Straßenkinder und selbst ernannte Einparkhelfer, die fast alle innerstädtischen Parkplätze unter sich aufgeteilt haben, werden geduldet. Im botanischen Garten verzehren Geschäftsleute ihr Mittagessen neben schlafenden Obdachlosen und lärmenden Schülern auf Klassenfahrt. An solchen Orten ist der gesellschaftliche Wandel für jedermann sichtbar und erfahrbar.
Andererseits werden in Kapstadt zwei riesige neue Einkaufszentren samt Bürokomplex gebaut; eines davon wird das größte Einkaufszentrum Afrikas. Es ist zu befürchten, dass viele Weiße, aber auch Vertreter der schwarzen und farbigen Mittelklasse sich vor der Integration der Städte in diese separaten Edelkomplexe flüchten werden. Schon jetzt klagen viele darüber, dass es in der Innenstadt kein Fleckchen mehr gibt, wo nicht Straßenkinder und selbst ernannte Einparkhelfer einen Obulus erheischen. Die - vielleicht berechtigte - Angst vor Kriminalität hat geradezu neurotische Züge angenommen.
Immer mehr der besser gestellten Schwarzen und Farbigen verlassen die Neubausiedlungen, in denen sie wegen der Apartheidgesetzgebung wohnen mussten. Die Meisten, die es sich leisten können, ziehen in die ehemals weißen Vororte, um der Kriminalität und dem sozialen Stigma ihres bisherigen Wohnviertels oder den finanziellen Forderungen ihrer weit verzweigten Verwandtschaft zu entkommen.
Nicht immer gelingt am neuen Wohnsitz die Integration in die etablierte Nachbarschaft. Paula Mamputa zum Beispiel ist vor drei Jahren von Khayelitsha in den benachbarten Stadtteil Mandalay gezogen. Damals war sie die einzige Schwarze in ihrer Straße, denn Mandalay war zu Apartheidzeiten als Wohngebiet für Farbige mit mittleren Einkommen konzipiert worden. "Die Farbigen haben immer bessere Häuser gehabt als wir Schwarzen", begründet Mamputa ihren Umzug nach Mandalay. Doch dort wohnt inzwischen von den ehemaligen Bewohnern ihrer Straße keiner mehr. Der Grund dafür ist eine Kneipe, die Mamputa in ihrem Wohnzimmer eröffnet hat. Solche schwarz betriebenen Kneipen - so genannte Shebeens - gehören zur Grundausstattung in mehrheitlich von Schwarzen bewohnten Siedlungen. "Es muss doch einen Ort geben, an dem sich die Nachbarn treffen und Alltagsprobleme diskutieren können", sagt Mamputa. Außerdem sei ihr Neffe arbeitslos, und mit der Kneipe könne er ein wenig Geld verdienen. Für ihre Nachbarn hatte die Wohnzimmerkneipe aber eher etwas Anrüchiges. "Jeden zweiten Tag haben sie mir die Polizei auf den Hals geschickt", klagt Mamputa. Sie sei verdächtigt worden, mit Drogen zu handeln - wohl auch deshalb, weil die Kneipe arbeitslose Männer aus dem benachbarten Khayelitsha anzog.
Irgendwann im Jahre 1998 erfuhr Mamputa, dass in dem gegenüberliegenden Haus regelmäßig Treffen der alteingesessenen Bewohner der Michele Road stattfanden, um das "Mamputa-Problem" zu diskutieren. Schließlich ging sie forschen Schrittes über die Straße, um den Konflikt offen auszutragen. Denn furchtsam war die massige, selbstbewusste Frau mit einer lila Schirmmütze, einem Frauen-Power-T-Shirt und einer Stimme so laut wie ein Megafon keineswegs. Als auf ihr Klopfen niemand öffnete, machte sie sich einen Spaß: "Euch kriege ich schon noch", rief sie, "so dass es fast die ganze Straße hören konnte", wie sie sagt. Eine Woche später stand im Garten ihrer Nachbarn ein Schild: Zu verkaufen.
Die neue Mobilität in den Städten Südafrikas hat vielerorts Ängste geweckt. Von einem Anstieg der Kriminalität, von dem Verfall der Grundstückspreise und von Leuten, die noch nicht so recht wissen, wie man sich in einem Vorort benimmt, ist in vielen Mittelklasse-Gegenden von Kapstadt die Rede. Jeder kennt die fast schon zum Klischee gewordene Geschichte von dem Nachbarn, der Rinder in seinem Garten schlachtet. Es gibt dagegen aber auch genügend Beispiele von ethnisch integrierten Nachbarschaften, in denen Hautfarbe und kulturelle Unterschiede kaum ein Thema sind. Das gilt vor allem für Wohnanlagen, die erst in den letzten Jahren entstanden sind, wo die Neuankömmlinge also nicht auf eine etablierte Nachbarschaft treffen.
Der soziale Wohnungsbau einerseits und der Exodus der Besserverdienenden aus den ehemaligen Apartheidsiedlungen andererseits haben zu einer Polarisierung in Kapstadt geführt: Reiche und arme Stadtteile driften zunehmend auseinander. Neben Stadtplanung und Immobilienmarkt könnten so genannte informelle Siedlungen in Zukunft eine wichtige Rolle beim Wandel der Struktur der Stadt spielen. "Wenn die Treibstoffpreise weiter steigen, wird den Leuten gar nichts anderes übrig bleiben, als sich näher an der Stadt und ihren Arbeitsplätzen anzusiedeln", sagt Jens Kuhn, der Stadtbaurat von Kapstadt. Er rechnet damit, dass es schon bald zu Landinvasionen großen Ausmaßes in Kapstadt kommen könnte, wie es längst in Städten wie Durban und Johannesburg der Fall ist.
Schon jetzt leben Hunderttausende Menschen in informellen Siedlungen, in selbst gebauten Hütten aus Wellblech, Holz und Plastik. Bisher stehen die Meisten davon weit außerhalb der Stadt und in unmittelbarer Nähe zu den ehemaligen Apartheidsiedlungen. Dort ist es weniger wahrscheinlich, dass die Bewohner vertrieben werden, als in Stadtnähe und in den ehemals weißen Vororten. Doch die legalen Mittel, informelle Siedlungen auf staatlichem Land zu zerstören, sind seit der Abschaffung der Squatter-Gesetze gegen illegale Landnahme im Jahr 1998 begrenzt. Das südafrikanische Grundgesetz besagt, dass niemand von einem staatlichen Stück Land vertrieben werden darf, ohne dass ihm ein alternatives Stück Land zum Wohnen zur Verfügung gestellt wird. Zudem sind groß angelegte Vertreibungsaktionen politisch äußerst brisant, weil sie zu sehr an die Methoden der Apartheidregierung erinnern. Aus diesem Grund gehen in den Bezirksverwaltungen regelmäßig Telefonanrufe von Bewohnern bewaldeter Vororte ein, die Ansätze einer informellen Siedlung melden und damit bewirken wollen, dass gar nicht erst eine richtige Squattersiedlung daraus entsteht.
Die informellen Siedlungen könnten den Stadtraum auf lange Sicht noch mehr zerteilen. Denn für Außentstehende sind diese Siedlungen vielleicht noch weniger zugänglich als die Wohnghettos der Apartheidära. Oftmals herrschen hier extrem hierarchische Strukturen. An der Spitze steht meist eine Art Warlord, der den Boden verwaltet, auf dem die Bewohner ihre Hütten errichten. Er kann eine Grundsteuer eintreiben und den Bewohnern willkürlich das Wohnrecht entziehen. Einer lokalen Wochenzeitung zufolge beträgt eine solche Grundsteuer etwa 80 Rand im Monat: 50 Rand Miete, 20 Rand Schutzgeld und 10 Rand Rechtsschutz für den Fall einer Zwangsevakuierung. Die Bewohner solcher Siedlungen werden von ihrer Umwelt scheel angesehen. In den Leserbriefen, die in den Lokalzeitungen abgedruckt werden, werden informelle Siedlungen regelmäßig als Krankheits- und Kriminalitätsherde diffamiert. Dass viele der Menschen, die dort leben, jeden Morgen zur Arbeit gehen und dieselben sind, die ihnen als Polizist, Verkäufer oder Tankwart begegnen, ist vor allem den Weißen in Kapstadt nur selten klar.
Die Regierung unter Mandela hatte früh erkannt, dass die Grenzen, die die Apartheid in den Städten Südafrikas geschaffen hat und die teilweise fortbestehen, nicht nur rein physischer Natur sind. Ihr war be-wusst, dass die ethnische Integrierung einer Stadt nach der Apartheid nicht nur eine Frage von Stadtplanung, sondern zuvorderst von Visionen und Leitbildern ist. 1994 hat sie ein Landrückgabegesetz verabschiedet, das all jenen Wiedergutmachung verspricht, die von der Apartheidregierung zwangsumgesiedelt worden sind. Schätzungen zufolge sind das in ländlichen und städtischen Regionen 3,5 Millionen Menschen. Eine Möglichkeit der Wiedergutmachung besteht darin, dass die Antragsteller in ihr ursprüngliches Wohnviertel rücksiedeln. Bisher ist zwar erst ein Bruchteil der Anträge bearbeitet - die hohen Preise für innerstädtische Grundstücke und der Widerstand der ansässigen Hausbewohner machen auch dabei Probleme -, doch der Prozess hat wichtige Diskussionen auf lokaler Ebene ausgelöst.
Um ihren Anspruch auf Wiedergutmachung zu belegen, sind die Antragsteller aufgefordert, möglichst viele Informationen, aber auch persönliche Erinnerungen an die Zwangsumsiedlungen und die Zeit davor zusammenzutragen. Da viele der Anträge von Gruppen ehemaliger Nachbarn gestellt werden, die dann einen gemeinsamen Antragstext verfassen müssen, sind die alten Heimatorte zum Thema lebendiger Debatten geworden. Zudem treffen sich alte Nachbarn wieder, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Gerade für die älteren Leute bedeutet das Landrückgabegesetz die Anerkennung des Traumas, das sie durch die Zwangsumsiedlungen erlitten haben.
Viele der älteren Kapstädter haben ihre ehemaligen Heimatorte auch dreißig Jahre nach ihrer Umsiedlung nie ganz vergessen. Im Gegenteil: Viele flüchteten sich in eine Überidentifikation mit diesen Orten. Joan Orgill in Ocean View beispielsweise unterscheidet ihre Nachbarn auch heute noch danach, ob sie aus Simon's Town stammen, aus dem die nicht weiße Bevölkerung zwangsumgesiedelt wurde, oder nicht. "In Simon's Town konnte man sich frei bewegen", sagt die alte Dame nicht nur einmal. Das Motiv des Freien, Fließenden - wenn man so will des Unbegrenzten - taucht in ihren Erzählungen von der alten Stadt Simon's Town immer wieder auf. Ganz anders spricht sie über Ocean View, wo sie sich beengt und unfrei fühlt. In Simon's Town seien Weiße und Farbige Nachbarn und Freunde gewesen, sagt Orgill. Sie ist nicht die Einzige, die das vermeintlich multikulturelle alte Simon's Town als Zukunftsvision für ein Kapstadt nach der Apartheid heraufbeschwört. Dagegen haben viele jüngere Bewohner von Ocean View ihren Eltern vorgeworfen, die koloniale Vergangenheit zu romantisieren. Andere haben die Frage gestellt, wie es eigentlich kommt, dass viele Menschen in Ocean View sich nur an ihre einstigen weißen, nicht aber an ihre schwarzen Nachbarn in Simon's Town erinnern.
Was haben wir in den vergangenen dreißig Jahren aus unserem Wohngebiet gemacht? Auch diese Frage wird heiß diskutiert; spätestens seit in der lokalen Presse ein Artikel erschienen ist, der Ocean View als "eine deprimierende Ansammlung von Betonklötzen" beschreibt und seine Bewohner als Entwurzelte, die vor dreißig Jahren aus ihrer "Heimat" Simon's Town vertrieben wurden. Joan Orgill war empört. "Schließlich haben wir Ocean View zu dem gemacht, was es heute ist."
Angestoßen durch den Landrückgabeprozess haben viele der ehemaligen Bewohner Kontakt zum Museum von Simon's Town aufgenommen, um nach Dokumenten zu forschen, die ihre Herkunft belegen. Daraus ist eine Ausstellung über die Geschichte der nicht-weißen Bevölkerung von Simon's Town und ihrer Zwangsumsiedlung entstanden, die zuvor in der öffentlichen Darstellung der Ortsgeschichte im Museum wie in Touristenbroschüren überhaupt nicht vorkam. Viele Bewohner von Ocean View fahren auch wieder öfter nach Simon's Town und einige suchen ganz bewusst die Konfrontation mit den heutigen Bewohnern - sei es in Form von Leserbriefen in der örtlichen Zeitung oder durch eine Demonstration zum dreißigsten Jahrestag der Zwangsumsiedlungen. Die meisten Einwohner von Ocean View werden sicher nicht nach Simon's Town "zurückkehren". Doch das Landrückgabegesetz hat sie dazu ermutigt, ihren Anspruch auf die Stadt als Ganze geltend zu machen, jenseits der kleinen Inseln, die die Apartheidideologie für Farbige geschaffen hat. Weil sich aber die Bearbeitung der Wiedergutmachungsanträge seit Jahren hinzieht, sind inzwischen viele der anfänglichen Hoffnungen und Visionen verpufft.
Ein wichtiger symbolischer Impuls könnte allerdings im kommenden Jahr von District Six ausgehen. Von diesem Stadtteil mitten in der Innenstadt von Kapstadt sind 1966 Schätzungen zufolge 71.000 Bewohner in verschiedene Wohngebiete zwangsumgesiedelt worden. Ihre Häuser wurden danach dem Erdboden gleich gemacht. Weil diese Aktion weltweit Aufsehen erregt hatte, war es zu brisant, das Gelände wieder mit Häusern für Weiße zu bebauen. So liegt es seither größtenteils brach. Im Jahr 2001 sollen dort aber Bauarbeiten für einen neuen Stadtteil beginnen. Ehemalige District Six-Bewohner und ihre Angehörigen sollen bei der Zuteilung staatlich geförderter Sozialbauten sowie bei Miet- und Kaufobjekten den Vorzug erhalten.
aus: der überblick 04/2000, Seite 92
AUTOR(EN):
Friederike Böge :
Friederike Böge ist Volontärin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.