Das Verfahren der Weltkommission zu Staudämmen ist ein Beispiel für sachorientierten Interessenausgleich
Der Bau von großen Staudämmen ist seit langem umstritten und wird oft von Protesten begleitet. In einem weltweit einmaligen Prozess haben Gegner und Befürworter von Großstaudämmen in der "World Commission on Dams" Erfahrungen ausgewertet und Kriterien für ein künftiges Vorgehen entwickelt. Den Vorsitz hatte Professor Kader Asmal, zur Zeit der Einsetzung der Kommission Minister für Wasser und Forstwesen in Südafrika. Er hat für den "überblick" aufgeschrieben, was die Arbeit dieser Kommission ausgezeichnet hat.
von Kader Asmal
Der erbitterte Demonstrant, der Seattle, Washington, Berlin oder Prag heimgesucht hat, kannte den Feind genau: die Globalisierung, versteckt hinter den Masken der Welthandelsorganisation, des IWF und der Weltbank. Als Beweis dafür gelten Megaprojekte wie große Staudämme, die arme Gesellschaften schädigen und die umgebende Natur zerstören können im Namen des Versuchs, ihnen zu nutzen. Für die von Demonstranten belagerten Vertreter von Regierungen oder Entwicklungsorganisationen war ebenfalls klar, wer der Feind war: fortschrittsfeindliche Maschinenstürmer unter der Maske von Gruppierungen der Zivilgesellschaft, die mit grob vereinfachten Slogans arbeiten und die Lähmung des Wassermanagements als Erfolg ausgeben.
Jeder weiß, wie Feinde miteinander umgehen, die der Öffentlichkeit Masken präsentieren. Masken stehen als Streikposten Wache; Masken stürmen Barrikaden; Masken debattieren in Talkshows oder sagen vor Gericht aus. Das Problem ist nur, dass Masken zwar als eingängige Symbole eingesetzt werden können, sich aber nie ändern oder weiterentwickeln.
Man stelle sich einmal vor, die Masken würden abgelegt. Man stelle sich vor, dass die "Feinde" während neun Treffen über einen Zeitraum von zwei Jahren im selben Raum sitzen und einen Tisch und ein Mikrofon teilen müssten. Dass sie Essen und Trinken teilen müssten. Dass sie miteinander sprechen, statt aufeinander einzureden, und nicht nur hören, sondern zuhören. Und dass sie einen gemeinsamen Bericht erarbeiten und verabschieden müssten, mit einem eng begrenzten Budget und einem klaren Abgabetermin.
Diese Vorstellung war einmal nur eine Möglichkeit. Sie ist Wirklichkeit geworden, und ihr Abschluss ist am 16. November zuerst von London, dann von New York aus weltweit veröffentlicht und im Fernsehen ausgestrahlt worden.
Nein, die Rede ist nicht von einer Themenvariante "Kampf ums Wasser" der in Europa zur Zeit so populären Reality-Shows wie "Survivor", "Insel-Duell" oder
"Big Brother". Die Rede ist vom Abschlussbericht der Weltkommission zu Staudämmen (World Commission on Dams, WCD). Sie ist ein wesentlich ernsthafteres Unternehmen, bei dem viel mehr auf dem Spiel steht. Die zwölf Mitspieler sind nicht wahllos herausgepickt worden, sondern alle Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Sie repräsentieren alle Altersgruppen, Interessen und politischen Standpunkte sowie verschiedene Nationalitäten. Doch allen gemeinsam ist das Interesse, das gesellschaftliche Management von Wasser- und Energievorräten zu verbessern.
Jeder wird für seine individuellen Beiträge geschätzt, aber keiner diskutiert, um andere zu besiegen. Stattdessen wollen alle angesichts knapper Ressourcen, wachsenden Drucks und steigender Ansprüche sowie schärfer werdender Kontroversen und Anforderungen zu einem gemeinsamen Verständnis kommen. Da alle zu den "Stärksten" gehören, können wir nur durch kollektive Entscheidungsfindung, kreative Lösungen und ständige Arbeit am Konsens überleben. Es ist einfach, mit dem Finger auf andere zu zeigen, aber viel schwieriger, Hand in Hand zu arbeiten. Statt wie bei den Reality-Shows die Mitspieler nacheinander zu eliminieren, messen wir den Erfolg daran, dass alle bis zum Ende teilnehmen und die Aufgabe zusammen bewältigen.
Das Ziel ist nicht Unterhaltung, sondern Aufklärung, Überzeugung und Information. Man muss gar nicht zusätzlich dramatisieren, wenn weltweit eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser hat, zwei Milliarden nicht ans Stromnetz angeschlossen sind, vier Millionen jährlich an durch Trinkwasser übertragenen Krankheiten sterben, Flüsse und Grundwasserreservoirs austrocknen und Fischarten und uferbewohnende Tiere aussterben.
Das Ziel ist, wirtschaftliche, ökologische, politische und soziale Risiken, die mit neuen oder bereits bestehenden Staudämmen verbunden sind, zu minimieren. Zum ersten Mal haben wir uns dieser Aufgabe gestellt, als 40 Repräsentanten von Industrie, Wissenschaft, Regierungen, Menschenrechtsorganisationen, Umweltschutzorganisationen, Geberinstitutionen und Stiftungen sich zu einer Vollversammlung in Gland am Genfer See trafen. Diese Gruppe rief die WCD als ein unabhängiges, entscheidungsbefugtes Gremium und als ehrgeiziges Projekt in Sachen globaler Konsensbildung ins Leben.
Als wir im Juni 1998 mit unserer Arbeit begannen, standen wir vor der Frage, wie eine Kommission die enorme Zahl von mehr als 45.000 großen Staudämmen weltweit untersuchen sollte, wenn jeder davon im Grunde einzigartig ist - nicht nur was Technik und Bauweise angeht, sondern auch in seinem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Kontext. Der Ansatz, den die Kommission schließlich gewählt hat, kann als "Triangulation", als Bildung eines Dreiecks, bezeichnet werden. Zuerst erstellte sie zehn Fallstudien von einzelnen Dämmen oder einzelnen Ländern und untersuchte, warum Staudämme als Option überhaupt in Betracht gezogen wurden, warum gerade diese ausgewählt und gebaut und wie sie danach betrieben wurden. Dadurch erhielt man ausführliche Profile einzelner Fälle und Entwicklungsstrategien.
Die zweite Seite des Dreiecks bildeten 17 thematische Überblicke, die zu fünf Bereichen, auf die zu konzentrieren wir uns entschlossen hatten (soziale, wirtschaftliche und Umweltkriterien; Methoden, verschiedene Optionen abzuwägen; und Institutionen der Entscheidungsfindung; siehe Seite 86ff), verschiedene Erfahrungen und das fortgeschrittenste Wissen der Welt versammeln sollten. Die dritte Seite war eine Kontrollstudie über 150 Staudämme, bei deren Auswahl ausschlaggebend war, dass sie im Großen und Ganzen repräsentativ für sämtliche Staudämme der Welt stehen sollten. Grundlage dieser Studie waren die Daten des ICOLD-Weltregisters der Staudämme in Hinsicht auf ihren Zweck, ihre Höhe, ihr Alter, ihre regionale Lage und so weiter.
Schließlich lud die Kommission alle interessierten Parteien ein, Eingaben zu jedem Aspekt zu machen, auf den sie das Gremium aufmerksam machen wollten. Dieser Aufruf hatte insgesamt 950 Eingaben zum Ergebnis, von denen einige später auf den vier regionalen Konsultationen in Colombo (Sri Lanka), S~ao Paulo (Brasilien), Kairo (Ägypten) und Hanoi (Vietnam) vorgestellt wurden.
Bei der Verarbeitung der gesammelten Informationen konzentrierte sich die Kommission darauf, quer durch die Befunde aus verschiedenen Quellen allgemein gültige Muster und Trends zu finden. Wo die Daten sich gegenseitig stützten, lieferten sie eine solide Basis für die Experten, um Kriterien und Richtlinien für die zukünftige Entscheidungsfindung zu erarbeiten; der Abschlussbericht macht das deutlich.
Die Kommission, die in ihrer Gesamtheit jede einzelne Interessengruppe vertritt, musste dann darüber beraten, wie erfolgreich große Staudämme in der Vergangenheit waren, ob es Alternativen gibt, wie groß der Bedarf ist und wie letztlich über ihren Bau entschieden werden soll. Sie ist skeptisch gegenüber Entscheidungen, die von oben aufgezwungen werden. Stattdessen setzte sie auf Erfahrung, harte Fakten, breiten Konsens und strikt eingehaltene, neu geschaffene Kriterien und Richtlinien. Wenn ihre Ergebnisse angenommen werden, könnten diese milliardenschwere Entscheidungen über Staudämme und Entwicklungsfragen verändern, die in der Vergangenheit zur Vertreibung von bis zu 10.000 Menschen täglich geführt haben. Die Arbeit der Kommission war vertraulich, bis die Ergebnisse am 16. November 2000 unter Beteiligung von Nelson Mandela, Mary Robinson und Weltbankpräsident Jim Wolfensohn der Weltöffentlichkeit vorgestellt wurden.
Die Kommission wird nicht weiter bestehen; sie löste sich unmittelbar nach Erledigung ihrer Aufgabe auf. Wir hoffen aber, dass unsere Arbeit dadurch weiterlebt, dass die Weltbank zusammen mit 67 anderen Mitgliedern des WCD-Forums helfen wird, unsere Ergebnisse, Kriterien und Richtlinien in Handlungen umzusetzen.
Warum nun sollten Juristen, Ingenieure, Fischereiexperten, Konzernchefs, Bauern, Organisationen der Zivilgesellschaft, Hilfswerke und Entscheidungsträger in den Regierungen unseren Bericht annehmen? Weil eben diese Gruppen geholfen haben, ihn zu gestalten. Um zu verstehen, was der Abschlussbericht der WCD schließlich enthält, muss man wissen, durch welche dramatischen Episoden die Kommission gegangen ist. Wir haben nie die Kontroverse gescheut, sondern uns auf die unterschiedlichen Sichtweisen eingelassen, auf die wir gestoßen sind.
Zum Beispiel wurde Kommissionsmitgliedern verweigert, an einer Beratung über Staudämme in Südostasien in Indien teilzunehmen. Ein indischer Bundesstaat drohte ihnen sogar mit Verhaftung, falls sie jemals den FUß in diese Region setzen würden. Ein Jahr später beteiligte sich Indien dann wieder offiziell an der WCD.
Die Kommission begrüßte, als sie eine Konsultation für Lateinamerika in S~ao Paulo abhielt, eine "friedliche Landbesetzung", an der sich 1200 landlose Bauern beteiligten. Sie stieß mit ihren diplomatischen Initiativen, die Südostasien-Konsultation über Staudämme in Hanoi abzuhalten, in Neuland vor - diese Konsultation war die erste unabhängige öffentliche Anhörung ihrer Art in Vietnam.
In der Kommission arbeitete der Konzernchef eines multinationalen Unternehmens mit einem Repräsentanten philippinischer Ureinwohner zusammen. Eine Frau, die an der Spitze der indischen Bewegung gegen Staudämme steht, arbeitete zusammen mit einem Ingenieur, der sein Arbeitsleben damit verbracht hat, Dämme in Ländern wie dem ihren zu planen. Ein führender Umweltwissenschaftler aus Nordamerika tauschte sich mit einem bekannten Experten für Energiepolitik aus Südamerika aus. Ich selbst, der Vorsitzende der Kommission, hatte als Kämpfer für Menschenrechte und gegen die Apartheid 30 Jahre im Exil verbracht und musste dann als für Wasserfragen zuständiger Minister in der Regierung Nelson Mandela eines der größten Staudammprojekte in der südlichen Hemisphäre genehmigen.
Was haben wir in unseren Beratungen gelernt? Im Einzelnen gibt der Abschlussbericht darüber Aufschluss. Wichtiger ist aber, dass wir, während andere verbittert wurden und in einer aufgeheizten Atmosphäre wie in Prag kämpften, in unseren Diskussionen um den runden Tisch eines gelernt haben: Hinter den Masken, die der Öffentlichkeit gezeigt werden, haben die Globalisierung und die zukünftige Nutzung von Wasser- und Energieressourcen in Wirklichkeit ein vertrautes, ein menschliches Gesicht.
Es ist das Gesicht des Umweltwissenschaftlers und des Ingenieurs, des Konzernchefs und des Aktivisten aus der Gesellschaft, des städtischen Gelehrten und der ländlichen Behörde. Es ist unser aller Gesicht, die wir uns gegenseitig helfen, jene starren, hinderlichen Masken abzulegen, die wir in der Öffentlichkeit zu tragen bisher gezwungen waren. Wenn dieses Gesicht unseren Abschlussbericht mit Spannung erwartet und schließlich liest, wird es vielleicht nicht lachen oder weinen. Aber vielleicht wird es lächeln, weil es sich selbst wiedererkennt und weiß, dass es bei der Suche nach einer neuen Form des Dialogs, die aus dem Konflikt-Karneval hinausführt, selbst eine führende Rolle gespielt hat.
Fakten und StreitpunkteDie Themenberichte der Staudamm-Kommission sind eine FundgrubeDie Weltkommission über Staudämme (WCD) hat nicht nur einen Abschlussbericht vorgelegt, sondern auch Themenberichte veröffentlicht. Sie sind nicht gleichbedeutend mit den Schlussfolgerungen der 12-köpfigen Kommission, spiegeln aber das Wissen und die Ansichten derjenigen, die zur Arbeit der Kommission beigetragen haben. Ihre Ergebnisse sind im folgenden Text von der Kommission zusammengefasst worden. Zu sozialen Fragen machen die Berichte deutlich:
Zu Methoden, verschiedene Optionen abzuwägen, hat sich unter anderem ergeben:
Zu Institutionen der Entscheidungsfindung sind einige Ergebnisse:
Zu Umweltgesichtspunkten sagen die Themenberichte:
Einige der Ergebnisse zu den wirtschaftlichen Aspekten von Staudämmen sind:
Die Abschlussberichte der Kommission, viele Themenberichte und weitere Informationen sind auf der Internetseite der Kommission abrufbar (www.dams.org). |
aus: der überblick 04/2000, Seite 83
AUTOR(EN):
Kader Asmal :
Kader Asmal war Vorsitzender der World Commission on Dams. In dieser Funktion hat er den Wasserpreis der Stadt Stockholm 2000 erhalten. Unter Nelson Mandela war er Minister für Wasserfragen in der Regierung Südafrikas. Heute ist er Erziehungsminister im Kabinett von Thabo Mbeki.