Manna aus der Ferne
Die Geldüberweisungen ausgewanderter Familienmitglieder in ihre Heimat werden auch für deren Volkswirtschaften immer wichtiger. Sie sind in einzelnen Ländern Lateinamerikas bereits eine der wichtigsten Devisenquellen geworden. Auch einige Regierungen haben die Bedeutung dieses Geldzuflusses erkannt und werben bei den Ausgewanderten um Investitionen in der Heimat.
von Knut Henkel
Jahr für Jahr verlassen Zehntausende Lateinamerikaner ihre Heimatländer, um in Europa oder Nordamerika eine neue Perspektive zu suchen. Von dem Geld, das die Auswanderer nach Hause schicken, leben ganze Familien. Aber auch die Volkswirtschaften vieler Staaten Lateinamerikas können auf die Devisenspritze kaum verzichten. Die Familientransfers haben mittlerweile beinahe die Höhe der Direktinvestitionen erreicht. Durch den Dollarstrom sind auch eine ganze Reihe neuer Betriebe entstanden.
Fabiola García nimmt den Einzahlungsbeleg in Empfang und wendet sich zum Gehen. Den Beleg mit der Kontrollnummer des Geldtransfers verwahrt sie, auf den Ausgang der Post zusteuernd, sorgsam in ihrer Handtasche. 200 Euro hat sie ihren Eltern in Peru angewiesen. So wie fast jeden Monat. Und wie immer hat die kleingewachsene Frau mit dem runden Gesicht die Gebühren für den Geldtransfer separat bezahlt. 29 Euro waren es heute. Viel Geld für die 26-Jährige, die ihren Lebensunterhalt in Hamburg mit dem Saubermachen von drei Privatwohnungen und einem Kindergarten verdient.
Fabiola zuckt hilflos mit den Schultern. Eine billigere Alternative den Eltern in der peruanischen Provinzstadt Huancayo Geld zukommen zu lassen, weiß sie derzeit nicht. "Manchmal fahren Freunde oder Bekannte nach Peru, dann spare ich mir die Gebühren." Doch meistens muss sie die Dienste der teuren Finanzdienstleister wie Money Gram oder Western Union in Anspruch nehmen. "Meine Eltern sind angewiesen auf die Unterstützung", sagt sie. Die beiden haben sich mit den Devisen aus Deutschland zwar selbständig gemacht und ein Restaurant eröffnet, aber aus den Einnahmen können sie gerade einmal ihren Lebensunterhalt bestreiten. "Um Kleidung, Medizin und andere Dinge kaufen zu können, brauchen meine Eltern die monatliche Unterstützung", erklärt Fabiola, die mit 19 Jahren ihr Land verlassen hat. Die fehlende Perspektive in Peru hat sie nach Europa geführt. Arbeit ist selbst in der Touristenregion rund um Huancayo rar. Auch gut ausgebildete Fachkräfte haben es dort nicht leicht. Fabiolas Eltern sind diplomierte Volkswirtschafter. "Aussicht auf eine Festanstellung hatten jedoch beide nicht, und so war die Selbständigkeit die einzige Option", erklärt Fabiola und streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus den Augen.
Regelmäßig unterstützen Millionen von Emigranten aus Lateinamerika ihre Verwandten zu Hause. Zwei- bis dreihundert US-Dollar sind es durchschnittlich, die monatlich in die Heimat geschickt werden, so Donald F. Terry, Direktor des Multilateral Investment Fund (MIF). Der MIF, eine Tochter der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), hat in den letzten Jahren mehrere Studien in Auftrag gegeben, um die wirtschaftliche Bedeutung der Familienhilfen und deren Transferkosten zu analysieren.
32 Milliarden US-Dollar wurden allein im letzten Jahr von den Migranten aus Lateinamerika in ihre Heimatländer transferiert. Dies entspricht beinahe dem Betrag, der im gleichen Zeitraum von internationalen Unternehmen in Lateinamerika und der Karibik investiert wurde und übersteigt um ein Mehrfaches die Summe, die im Rahmen der Entwicklungshilfe zur Verfügung gestellt wurde. Innerhalb der letzten Dekade hat sich die Summe der Familienüberweisungen, der so genannten Remesas, vervierfacht. Und für die laufende Dekade schätzt der MIF den Dollarstrom auf insgesamt 400 Milliarden US-Dollar - ein kaum zu unterschätzendes Entwicklungspotenzial. Zumal die harten Dollars nicht allein in den Konsum gesteckt werden, wie früher von Wissenschaft und Politik gemeinhin angenommen wurde, sondern auch in landwirtschaftliche Betriebe, Kleinunternehmen oder neue Wohnungen. Sie tragen längst zur gesellschaftlichen Stabilität und Entwicklung der Region bei. Jeder transferierte Dollar bringe drei bis vier Dollar Wachstum, wenn er in der lokalen Ökonomie investiert werde, betont Susan Martin von der Georgetown University in einer Studie im Auftrag der MIF.
Nach Kuba etwa flossen im letzten Jahr laut MIF 1,138 Milliarden US-Dollar, Devisen, auf welche die kubanische Regierung dringend angewiesen ist. Über die staatlichen Dollarsupermärkte und gastronomische Betriebe werden die Greenbacks (Dollars) in die Öffentlichen Kassen gespült. Ohne diese Deviseneinnahmen hätte die Regierung Castro längst Bankrott anmelden müssen. Die Legalisierung des US-Dollar im Juli 1993 war eine politisch nicht gewollte, ökonomisch aber notwendige Überlebensmaßnahme. Der damalige Finanzminister und heutige Wirtschaftsminister José Luis Rodríguez hätte schlicht nicht die Mittel gehabt, um lebenswichtige Güter, vor allem Erdöl und Lebensmittel, zu importieren. Also wurde die Währung der USA schweren Herzens als legales Zahlungsmittel freigegeben. Seitdem ist der US-Dollar de facto die Leitwährung in Kuba. Für Dollar ist in Kuba nahezu alles zu bekommen.
In Baumaterialien, Farben und eine Klimaanlage hat Sergio AlmiZaque seine Greenbacks investiert. Lächelnd schließt der sympathische Mann mit dem schwarzen Schnauzer die Tür zum Dachapartment der kleinen Villa auf und zeigt den Touristen die großzügigen Räume mit der prächtigen Dachterrasse. Alles ist frisch gestrichen, das Apartment in bestem Zustand, mit Klimaanlage, Küche und Kühlschrank versehen. Sergio vermietet zwei Zimmer in der Gründerzeitvilla im Zentrum von Havanna an Touristen. Alles ganz legal und mit offiziellem Siegel. Ohne die Unterstützung der Familie in Miami, wäre es dem diplomierten Meteorologen jedoch unmöglich gewesen, das alte Haus zu renovieren und sich selbstständig zu machen. "Werkzeug und Ersatzteile gibt es fast nur gegen Dollar und mein Gehalt habe ich in kubanischen Peso erhalten", erklärt der Mittvierziger mit dem licht werdenden Haupthaar. An die harten Jahre der Periodo Especial von 1992 bis 1994 erinnert sich Sergio nicht gern. Damals gab es für den kubanischen Peso in Kuba kaum etwas zu kaufen. Nahrungsmittel waren knapp und vieles war nur zu hohen Preisen auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. "Ohne die Hilfe der Familie in Miami wären wir in den schlimmsten Jahren der Periodo Especial nicht über die Runden gekommen", gibt Sergio unumwunden zu. Anfangs kamen die Banknoten illegal über Kuriere ins Land. Erst mit der Legalisierung des Dollars wurde auch offiziell der Weg für die Dollartransfers aus den Vereinigten Staaten frei.
Heute sind die Dollartransfers nach dem Tourismus die wichtigste Devisenquelle der Insel. Doch auch neue Arbeitsplätze entstanden durch die Remesas. Sergio und seine Familie, die nahezu ausschließlich von der Vermietung der beiden Zimmer leben, sind dafür ein Beispiel. Auch viele der privaten Restaurants, der Paladares, der privaten Handwerksbetriebe oder der kleinen Verkaufsstände am Straßenrand wären ohne die Anschubfinanzierung aus Miami wohl kaum zustande gekommen. Die staatlichen Stellen betrachten diese Entwicklung zwar nicht durchgehend wohlwollend, aber zumindest auf dem Papier haben die neuen Kleinunternehmer klar definierte Rechte und Pflichten, die zum Steuerzahlen beispielsweise.
Anders sieht die Situation in Mexiko aus. Dort werden die so genannten Mexican-Americans, die mexikanischen Einwanderer in den USA, mittlerweile hofiert und als potentielle Investoren angesehen. Deren ökonomisches Potential ist beeindruckend. Eines der wichtigsten Ziele der derzeitigen Regierung von Vincente Fox ist es, diese Wirtschaftskraft zu erschließen. 450 Milliarden US-Dollar erwirtschaften die 23 Millionen Mexican-Americans in den USA. 10,5 Milliarden US-Dollar wurden allein im letzten Jahr in die alte Heimat transferiert, womit Mexiko der wichtigste Empfänger von Remesas der Region ist. Jeder zehnte Haushalt südlich der Grenze zwischen den USA und Mexiko lebt von den Dollartransfers, die in der offiziellen Devisenbilanz hinter dem Erdöl und dem Tourismus den dritten Platz einnehmen.
In einigen Regionen des Landes übersteigt die Summe der Remesas längst die Budgets von Kommunal- und Lokalverwaltungen. Zwei Drittel des gewaltigen Betrages fließen in die ländlichen Regionen von zehn der insgesamt 32 Bundesstaaten. Dort wird längst nicht mehr jeder Dollar konsumiert, sondern ein beträchtlicher Teil fließt in die lokale Ökonomie. In El Trapiche, im Bundesstaat Oaxaca, sind erste Gewächshäuser entstanden, in denen Blumen gezogen werden. Arbeit für die Angehörigen und Geld zum Leben soll so erwirtschaftet werden, lautet das Ziel des ehrgeizigen Projekts, das von Mexikanern in den USA finanziert wurde. Die Spender stammen allesamt aus dem kleinen Städtchen und arbeiten in den USA. 900 Migranten sind es, die sich in den USA zu einem Club zusammengeschlossen haben und das Projekt initiierten. Eine Kooperative wurde gegründet und das Startkapital von 60.000 US-Dollar stammt aus mehreren Quellen: von den Migranten, der regionalen Regierung und einer Entwicklungsorganisation.
Mit Projekten wie diesem will die Regierung in Mexiko-City neue Entwicklungspotentiale für das Land erschließen. Auf jeden Dollar, der von Migranten investiert wird, legen die staatlichen Stellen bis zu drei Dollars drauf, so hat es Vincente Fox angekündigt. Für El Trapiche ein guter Deal, denn erstmals haben viele Angehörige der Spender aus den USA wieder einen Job. Die Löhne in der Kooperative liegen mit sechs Dollar zudem über dem Mindestlohn.
Mit der Initiative geht Mexiko neue Wege. Regierungsvertreter suchen die mexikanischen Clubs in den USA auf, um für Investitionen in ihren Herkunftsgemeinden zu werben. Bei vielen dieser Clubs laufen sie offene Türen ein, denn deren Mitglieder haben oft längst Geld für den Bau von Straßen oder Schulen in ihrer Heimatstadt oder ihrem Dorf gespendet, weil die kommunalen Stellen ihrer Aufgabe nicht nachkamen. Das sie nun von der Regierung wie Nationalhelden gefeiert werden, weil sie ihren sauer verdienten Spargroschen in ihrem Heimatland investieren, hat auch einen schalen Beigeschmack. Zum einen wurden die Auswanderer jahrelang kaum wahrgenommen, geschweige denn, dass sich der mexikanische Staat für deren Rechte in den USA eingesetzt hat. Zum anderen zeigt die Initiative auch, dass die staatlichen Stellen in vielen Bundesstaaten, und vornehmlich den ärmeren, ihren Aufgaben nicht immer gerecht werden, wenn Mexican-Americans für Schul- und Straßenbau spenden.
Gleichwohl gibt sich Vincente Fox alle Mühe, das ökonomische Potenzial der Auswanderer für die Entwicklung Mexikos zu erschließen. So sollen auch Fonds für in den USA lebende Mexikaner aufgelegt werden, damit sie ihr Kapital für den Aufbau ihres Heimatlandes zur Verfügung stellen.
Andere Regierungen sind dem Beispiel Mexikos gefolgt und langfristig könnten die im Ausland lebenden Kolumbianer, Nicaraguaner oder Peruaner zu einem gepflegtem Klientel der Regierungen ihrer jeweiligen Heimatländer werden. Gerade in den kleineren Staaten, wo die Remesas über zehn Prozent der Deviseneinnahmen ausmachen, nämlich Ecuador, Haiti, Nicaragua und Jamaika, könnten derartige Modelle in nächster Zeit en vogue werden.
Den durchschnittlichen Emigranten, die wie Fabiola monatlich zwei- bis dreihundert US-Dollar transferieren, ist ihre wirtschaftliche Bedeutung für ihr Heimatland kaum bewusst. Sie haben vor allem ein Interesse daran, dass die Kosten für die Transaktionen sinken. Dieses Geld würden sie lieber bei Ihren Familien als bei Western Union sehen.
Literatur
www.iadb.org/exr/prensa/images/IADBFULLREPORT.pdf (PDF-Datei, bitte mit der rechten Maustaste herunterladen)
Geldtransfers von EmigrantenEin MilliardengeschäftKonservativen Schätzungen zufolge emigrieren Jahr für Jahr rund 200 Millionen Menschen, die ihre Angehörigen in der Heimat in der Regel unterstützen. 103 Milliarden US-Dollar wurden Schätzungen internationaler Finanzinstitute zufolge im letzten Jahr von Migranten in Industrieländern in ihre Herkunftsländer transferiert. Mit 32 Milliarden US-Dollar und einem Plus von 17,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ist Lateinamerika derzeit die Zielregion Nummer eins. Aber auch bei den Kosten für die Überweisungen steht Lateinamerika an der Spitze. Auf rund vier Milliarden US-Dollar schätzt der Multilateral Investment Fund (MIF), eine Tochter der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB), die Transferkosten. Die teilen bisher die international agierenden Finanzdienstleister, wie Western Union oder Money Gram, unter sich auf. Durchschnittlich 30 US-Dollar werden pro Transfer kassiert, so MIF-Manager Donald F. Terry auf einer Pressekonferenz. Entschieden zu viel nach Ansicht Terrys, der in den letzten Jahren erfolgreich dafür eingetreten ist, alternative Transfermöglicheiten zu entwickeln. Kontakte zwischen US-Banken und regionalen Banken in den Herkunftsländern der Einwanderer wurden hergestellt, bürokratische Hürden abgebaut und Mittel zur Verfügung gestellt, um die elektronische Vernetzung zwischen Nord und Südamerika herzustellen. Das System ist denkbar einfach: Der Verwandte in den USA eröffnet ein Transferkonto und erhält zwei Kontokarten. Eine für sich und die andere für die Verwandtschaft in der Heimat, die am Bankautomaten Zugriff hat. Aus Sicht der Banken eine interessante Alternative, da keine neuen Filialen eröffnet werden müssen, um den Service durchzuführen. Doch es gibt noch einen anderen Grund, weshalb die US-Banken kooperationswillig sind. 43 Prozent der etwa 35 Millionen Hispanics, wie die Einwohner lateinamerikanischer Herkunft in den USA genannt werden, haben kein Konto. Sie sind unbanked wie es im Finanzjargon heißt. Günstige Angebote bei Auslandsüberweisungen sind der Türöffner, um dieses Klientel an den Bankschalter zu locken. Knut Henkel |
aus: der überblick 03/2003, Seite 94
AUTOR(EN):
Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.